Читать книгу Handbuch Filmgeschichte - Willem Strank - Страница 22

1900er: USA

Оглавление

Auch in den USA können die 1900erJahre als Zeitalter der kausalen Montage verstanden werden. Die Experimente mit zusammenhängenden und kontinuierlich ineinander übergreifenden Narrationen münden schließlich in den 1910er-Jahren in die Etablierung eines einheitlichen Continuity-Stils, der bis heute das Unterhaltungskino bestimmt.

Edwin Stanton Porter (1870–1941) ist einer der einflussreichsten amerikanischen Regisseure auf dem Gebiet und arbeitet seit 1899 für die Edison Company, die 1901 ihr neues Studio in New York einweiht, das die berüchtigte „Black Maria“ beerbt. Porter übernimmt dort die Leitung und führt etliche durch englische und französische Filmemacher:innen etablierte Techniken in den USA ein. Insbesondere Méliès’ Film Le voyage dans la lune (1902) und James Williamsons Fire! (1901) sind eine wichtige Inspiration für ihn. 1903 dreht Porter mit Life of an American Fireman und The Great Train Robbery gleich zwei Filme, die langfristig im kulturellen Gedächtnis bleiben. Bei Life of an American Fireman ist neben dem episodischen Erzählimpetus besonders die Montagetechnik am Anfang und am Ende des Films hervorzuheben, die verschiedene Räume mithilfe von Anschlussschnitten verknüpft. Mark Cousins bezeichnet Porters Fireman in seiner Story of Film als den Moment, in dem der Film lernt, „und dann“ zu sagen. The Great Train Robbery gilt im Rückblick als der erste Western der Filmgeschichte. Er besteht aus üppigen elf shots und verknüpft sowohl durch Simultan- als auch durch Konsekutiv-Techniken – Doppelbelichtung bzw. Anschlussmontage – auf mehrere Arten zwei verschiedene filmische Ebenen miteinander. Zwei Jahre später dreht Porter The Kleptomaniac (1905), einen sozialkritischen Film, der die Montagetechnik in einem ideologischen Sinne gebraucht, indem er zwei unterschiedliche Lebensentwürfe anhand ihrer verschiedenen Class-Marker einander gegenüberstellt. Der ideologisch-sozialkritische Gebrauch insbesondere der Montage wird in den 1920er-Jahren und darüber hinaus noch eine große filmhistorische Rolle spielen. Bis 1909 bleibt Edwin S. Porter bei Edison und macht sich dann selbstständig – ähnlich wie bei Méliès sind es jedoch seine Arbeiten aus den 1900er-Jahren, die filmhistorisch besondere Relevanz erlangen.

In der anfangs noch ausgeglicheneren Trias von fiction film, topical und scenic übernimmt der fiction film zwischen 1902 und 1905 allmählich eine dominantere Rolle, vor allem aus ökonomischen Gründen – wegen seiner besseren Planbarkeit und der verhältnismäßig günstigen Produktion vor Ort. Auf Ebene der Genres und filmischen Stoffe wird der chase film zwischen 1904 und 1908 ein wichtiges Kurzfilm-Genre, auch, weil er aufgrund seiner Erzählstruktur ideal geeignet für die allmähliche internationale Entwicklung des allgemein verständlichen Continuity-Stils ist.

Auch auf filmästhetischer Ebene ereignen sich in den USA einige gravierende Veränderungen. 1909 führt Vitagraph die 9-foot line (2,74-Meter-Linie) ein und verringert dadurch den Kameraabstand zu den Schauspieler:innen um drei (91cm) bis sieben Fuß (2,13m) gegenüber früheren Filmen. Als Konsequenz daraus sind Schauspieler:innen fortan nicht mehr von Kopf bis Fuß zu sehen, sondern oberhalb der Knöchel abgeschnitten. Im folgenden Jahrzehnt wird dies die Norm. Die Technik der Kolorierung wird auch in Übersee immer üblicher – ein Bleichungsprozess und eine Farbtönung, beides mit dem Positivbild vorgenommen, verändern die Schwarzweißaufnahmen und verstärken damit räumliche Kontraste oder etablieren eine zusätzliche Bedeutungsebene. Seit 1907 werden cut-ins, das heißt Sprünge in eine größere Kameraeinstellung hinein, auch in den USA üblich, sind jedoch ein eher seltener Kunstgriff, um besonders wichtige Details für das Verständnis des plots nochmals in Großaufnahme zu zeigen.

Als die bewegten fotografierten Bilder sich einigermaßen etabliert haben, erwächst auch wieder das Interesse am bewegten gezeichneten Bild. Frame-by-Frame-Animations-Filme haben um 1906 bis 1907 ihre Ausprobier- und Pionierphase. James Stuart Blacktons (1875–1941) Vitagraph-Film The Haunted Hotel von 1907 ist eines der ersten Beispiele. Die erste gezeichnete Animation findet sich indessen in Émile Cohls (1857–1938) französischem Film Fantasmagorie, produziert im Jahre 1908 von Gaumont.

Weil 1902 die American Mutoscope & Biograph (AM&B), wie im vorherigen Kapitel (1890er-Jahre) erwähnt, den Prozess gegen Thomas Edisons Firma sucht und gewinnt, weil sie nachweisen kann, dass ihre Kamera nicht von dessen Kinetoskop abgeleitet ist, steigt sie in der Folge dergestalt gestärkt zu einer bedeutenden Firma auf. Insgesamt ist der Prozessausgang ein Gewinn für die gesamte Industrie, da er geradezu zeichenhaft für Edisons Anfechtbarkeit steht. Im Zuge dessen steigt AM&B 1903 selbstbewusst auf den immerhin von W.K.L. Dickson und damit die Edison-Firma etablierten 35-Millimeter-Standard um. Und auch die Neuauflage besagten Prozesses gewinnt die AM&B. Gleichsam wird jedoch vom Richter festgestellt, dass im Gegensatz zu AM&B andere Produktionsfirmen durchaus das Patentrecht Edisons bzw. von AM&B verletzen, wodurch ab jetzt Zahlungen an Edison oder AM&B üblich werden, was die Konkurrenz zwischen den beiden in der Folge gewaltig verschärft. Der Streit ist damit natürlich auch noch lange nicht beigelegt: 1908 sehen sich die Firmen vor Gericht wieder, da die Edison Company nunmehr Klage wegen des von AM&B verwendeten Filmmaterials einreicht. Im Gegenzug kauft AM&B das Patent auf den Latham Loop und verklagt kurzerhand Edison. Schließlich verlieren jedoch beide Parteien das Interesse an aufwändigen und kostenintensiven Gerichtsprozessen und beschließen im Dezember 1908 die Kooperation, was für den Rest der Industrie eine Hiobsbotschaft ist. Edison und AM&B gründen gemeinsam die Motion Picture Patents Company (MPPC), die sich ausschließlich um die Patentrechte und deren Verletzung kümmern soll. Auch einige andere Firmen, z. B. Patentinhaber, deren Produkte Edison und AM&B nutzen, gehören zu diesem Dachverband, jedoch geraten dadurch viele kleinere Produktionshäuser unter gewaltigen Zugzwang. Weil die MPPC auch die Zahl der Importfirmen reguliert, die in den USA verkaufen dürfen – und im Zuge dessen Nordisk und den großen italienischen Produktionshäusern schlichtweg den Markt versperrt –, gehen seit 1908 die Importe in die USA drastisch zurück. Die Initiative dient somit zugleich der Stärkung des von europäischen Filmen dominierten Nationalmarktes.

Um die Jahrzehntmitte beginnt in etwa zeitgleich zu ähnlichen Entwicklungen in Europa die Trennung und Ausdifferenzierung in die filmischen Aufgabenbereiche Produktion, Distribution und Vorführung. Die MPPC macht diese Trennung jedoch de facto rückgängig, indem sie die jeweils verantwortlichen Firmen unter ihren Schirm nimmt; z. B. erhält auch Kodak die Exklusivrechte für jegliches Filmmaterial, das in den Vereinigten Staaten genutzt wird und vice versa. Unter der Kontrolle der MPPC wird die Filmbranche in den USA für kurze Zeit zu einer veritablen Oligopolie. Viele der Initiativen der MPPC dienen dabei der Standardisierung, was für den Markt einerseits gut ist – andererseits versetzt das Diktat dieser Standardisierung jedoch zuverlässig diejenigen, die nicht zur MPPC gehören, in eine unterprivilegierte Lage. Ein Beispiel dafür ist die Etablierung von Standards des Verleihs: Der Einheitspreis wird hier pro Filmrolle festgelegt und nicht pro Film, wodurch längere Filme in den USA noch eine ganze Weile lang nicht besonders profitabel sind.

Nur 6.000 von 8.000 Kinos beugen sich allerdings der MPPC, wodurch sich ein Independent-Markt formiert, der auch Filmmaterial abseits der MPPC-Kontrolle zeigen kann und den schwächelnden europäischen Importmarkt am Leben erhält. Der Anfang vom Ende der Oligopolie beginnt im April 1909, als Carl Laemmle, seinerseits der größte Filmverleiher der USA, aus der MPPC aussteigt und als Gegenmodell die Independent Motion Picture Company (IMP) gründet, deren Langlebigkeit man noch heute daran sieht, dass sie später zu Universal werden sollte. Weitere Independent-Firmen folgen Laemmles Beispiel, unter anderem das bereits erwähnte Unternehmen Solax, das von der bei Gaumont ausgestiegenen Alice Guy-Blaché gegründet und geleitet wird. Die MPPC reagiert erwartungsgemäß harsch, gründet als direkte Reaktion 1910 die Riesenverleihfirma General Film Company und engagiert ein ganzes Heer an Detektiven, um weitreichende Gerichtsverfahren vorzubereiten. Das eigentliche Ende der Vorherrschaft der MPPC wird jedoch nicht nur durch die ersten Abtrünnigen eingeleitet, sondern durch eine Art Produktionszufall, der zum Trend wird: Zwischen 1909 und 1910 fangen die ersten Produktionsfirmen an, in der Gegend um Los Angeles zu drehen, weil das bessere Wetter eine bessere Planbarkeit der Außendrehs garantiert. Im Rückblick ist dies der erste Schritt an die Westküste, der Anfang des folgenden Jahrzehnts eine Massenwanderung der gesamten Industrie in den noch kleinen und beschaulichen Vorort Hollywood nach sich zieht.

Neben den Firmenchefs etablieren sich auch in den USA allmählich wiedererkennbare Regie-Persönlichkeiten, die auch in der Vermarktung von Filmen eine Rolle spielen. Während Edwin S. Porter in den 1900er-Jahren das Aushängeschild der Edison Company bleibt, nimmt AM&B 1908 den Star des folgenden Jahrzehnts, nämlich David Wark Griffith (1875–1948) unter Vertrag. Auch längere Verträge zwischen Studios und Schauspieler:innen werden um 1908 langsam üblich, sodass die Gesichter auf der Leinwand vereinzelt wiedererkannt werden können – zuvor waren in Bewerbung und Vorspann nur credits der Studios üblich. Das Starsystem fällt nicht vom Himmel und hat bereits ein Vorbild in Vaudeville, Theater und Oper, wird aber nirgendwo zu einem so radikalen weltweiten Erfolgsmodell wie im US-amerikanischen Film. Ab 1909 gibt es entsprechend firmenbezogene, meist weibliche Stars, die als jeweiliges company girl vermarktet werden. Florence Lawrence (1886–1938) wird bekannt als the Biograph girl, Florence Turner (1885–1946) berühmt als the Vitagraph girl und so weiter. Filmkritiker:innen und Publikum adaptieren rasch die neue, schauspieler:innenbezogene Denkweise, die bis heute das System entscheidend mit ausmacht.

Durch den steigenden Stellenwert von Verleih und Export wird in den 1900er-Jahren allmählich die Frage nach einem festen Spielort für den Film relevant. Bis 1905 pendelt er in der Regel zwischen Vaudevilles und Theatern und ist größtenteils nach wie vor Bestandteil gemischter Programme. Gibt es reine Filmprogramme, bestehen diese aus etlichen kurzen Titeln verschiedener Gattungen und Genres. Zwischen 1905 und 1907 wird zunächst das Nickelodeon die dominante Norm. Diese kleinen Spielorte kosten dem Namen entsprechend 5 Cent Eintritt (einen „Nickel“) und umfassen circa 200 Sitzplätze. Das Programm im Nickelodeon kann zwischen 15 und 60 Minuten dauern. Da selten mehr als ein Projektor zur Verfügung steht und die Rollenwechsel irgendwie überbrückt werden müssen, halten sich auch in reinen Filmprogrammen nach wie vor Relikte der Vaudeville-Form wie kurze Gesangseinlagen. Die Nickelodeons sind aber sehr viel günstiger als das Vaudeville, das häufig das Fünffache kostet (einen „Quarter“ oder 25 Cent). Damit öffnen sie die Kinoerfahrung für Zuschauer:innen aus der Arbeiterklasse; außerdem machen Frauen und Kinder einen signifikanten Anteil des Publikums aus, da das Kino oft in Einkaufs- oder Ausflugspausen als Zwischenprogramm genutzt wird.

Das Programm im Nickelodeon besteht vor der Gründung der MPPC zu größten Teilen aus europäischen Filmen. Die USA sind ein äußerst lukratives Exportland, da es dort zu jenem Zeitpunkt die meisten Lichtspielhäuser gibt. Um 1908 erlebt die Etablierung fester Spielorte des Films einen unerwarteten Rückschlag: Eine große, koordinierte Gegenbewegung von Kirchen und Moralist:innen schließt sich gegen den als unmoralisch verschrienen Film zusammen. Im selben Jahr werden alle Kinos in New York kurzzeitig vom konservativen Bürgermeister der Stadt zwangsgeschlossen.

Um derartigen politischen Reaktionen auf partielle Volksbegehren künftig zu entkommen, reagiert die Filmindustrie mit einem genialen Schachzug: Im März 1909 wird in New York das Board of Censorship gegründet, eine erste freiwillige Selbstkontrolle, die die nationale Zensur umgehen will und alle freiwillig eingereichten Filme bezüglich ihrer Inhalte überprüft. Alle Mitglieder der MPPC reichen dort geschlossen ein, sodass es in den folgenden Jahren zu keinen weiteren Kinoschließungen kommt. Auch auf inhaltlicher Ebene gibt es um die Jahrzehntwende eine kurzfristige Reaktion auf die gebündelte Moralkritik: Aus dieser Initiative für mehr bildungsbürgerliche Stoffe geht unter anderem D.W. Griffiths Pippa Passes (1909) hervor, der auf einem Versdrama von Robert Browning basiert, das in den Zwischentiteln des Films wörtlich zitiert wird.

Ab 1908 beginnt der Abstieg des Nickelodeons, als die großen Produktionsfirmen stärker auch in den Bereich der Filmvorführung drängen: Repräsentative Kinosäle werden gebaut, die sich erst amortisieren wollen. Die Eintrittspreise liegen damit wieder im Bereich von einem Dime (zehn Cent) oder gar einem Quarter (25 Cent) und die Demographie ändert sich entsprechend wieder hin zu einem wohlhabenderen Publikum. Große Kinohäuser haben jetzt mehrere Projektoren, können also die Rollenwechsel problemlos kaschieren und längere Filmprogramme am Stück zeigen, ohne noch auf Vaudeville-Einlagen angewiesen zu sein. Derartige Füllerprogramme gibt es entsprechend kaum noch, stattdessen wird aber dennoch vereinzelt wieder ein konsekutives Programm aus Filmen und Vaudeville eingeführt. Während in kleineren Filmtheatern wie den Nickelodeons die Musikbegleitung der Stummfilme noch eher schlicht ausfällt und auf Klavieroder Grammophonmusik basiert oder durch Erzähler:innen und synchronsprechende Schauspieler:innen getragen wird, ersetzen die neuen Kinosäle und -paläste die Solomusiker:innen teils durch große Orchester, die ausgefeilte Arrangements wiedergeben, oder zumindest durch Lichtspielorgeln, die entsprechend besser geeignet sind, die großen Räume mit ihrem Klang auszufüllen.

Handbuch Filmgeschichte

Подняться наверх