Читать книгу Handbuch Filmgeschichte - Willem Strank - Страница 21
1900er: Europa
ОглавлениеIn Frankreich entwickelt sich Georges Méliès als bedeutender Innovator des frühen Films weiter. Méliès ist nicht nur eine der innovativsten, sondern auch eine der produktivsten Persönlichkeiten des noch jungen Mediums: Zwischen 1897 und 1905 vollendet er weltweit mehr Filme als jede andere Instanz; danach wird er jedoch vom Studio Pathé abgelöst – die frühe Hochzeit der von Einzelpersonen verantworteten Filme geht allmählich dem Ende zu. Besonders berühmt ist Méliès für seinen 1902 entstandenen und international rezipierten ScienceFiction-Film Le voyage dans la lune, der mithilfe eines ausgeklügelten Bühnendesigns und etlicher Filmtricks eine bemannte Mondreise inszeniert. Der französische „Kino-Magier“ dreht zwischen 1897 und 1912 insgesamt um die 500 Filme, ehe er sich aus dem Filmgeschäft zurückzieht. Ab 1910 produziert er unter Vertrag für Pathé, was jedoch dazu führt, dass viele seiner Filme ohne seine Zustimmung gekürzt und geschnitten werden, sodass er 1912 den Vertrag wieder aufkündigt. Die folgenden Jahre sind für Méliès von Tragödien, finanziellem Bankrott und familiären Zerwürfnissen gezeichnet – seine Filmkarriere ist bald darauf an ihrem Ende angelangt.
Lorenz Engell sieht in seiner buchlangen Filmgeschichtsstudie Sinn und Industrie (Engell 1992) in den 1900er-Jahren eine neue Tendenz, die er als Eingang der Aufbruchsutopie in die Filmgeschichte, also einer Darstellung, wie die Welt sein könnte, bezeichnet. Sie stehe der Ordnungsutopie früherer Filme, einer Abbildung, wie die Welt sein sollte, gegenüber – auf eine verkürzte Formel gebracht, löse die Metapher der Raumfahrt diejenige der Armee ab.
Trotz dieser allgemeinen Tendenz widmen sich etliche Filmemacher:innen in den 1900er-Jahren ebenfalls verstärkt realitätsnahen Anliegen. Der Pathé-Regisseur Ferdinand Zecca (1864–1947) dreht 1902 Les victimes de l’alcoolisme, eine sozialkritische Erzählung über die Gefahren des Alkoholismus in fünf Tableaux, nach einer Buchvorlage des Naturalisten Émile Zola. Der Film enthält die möglicherweise ersten trennenden Zwischentiteln aus Text (genannt Inserts). Der Kontrast zu Méliès könnte insbesondere im finalen Tableau nicht größer sein, das den mittlerweile im Sanatorium eingesperrten, alkoholkranken Protagonisten zeigt, wie er vor einer starren Szenenbild allmählich zugrunde geht.
Zwischen 1903 und 1904 geht zudem eine frühe Spielart des Farbfilms, die bereits seit einigen Jahren für einzelne Filme – z. B. auch berühmtermaßen für Le voyage dans la lune – Anwendung findet, bei Pathé in industrielle Produktion: Zumeist Arbeiterinnen müssen die anstrengende Fließbandarbeit der Nachkolorierung von Filmen leisten, die ausgewählte Premiumprodukte attraktiver machen soll.
Bei der großen Konkurrenz Gaumont arbeitet derweil Alice Guy als verantwortliche Produzentin, wodurch sie zwar weniger Filme dreht, aber einen großen Einfluss auf das Filmschaffen des gesamten Studios nimmt. 1905 dreht sie Tango, der sich als einer der frühesten Tanzfilme intensiv mit Bühnenanordnung, Perspektivinszenierung und Ästhetisierung von künstlerischer Bewegung auseinandersetzt. Auch dieser Film wird nachkoloriert und zeigt, wie eindrucksvoll sich Guy in bildästhetischer Hinsicht in den wenigen Jahren seit La fée aux choux entwickelt hat.
Der Umgang mit filmischer Zeit ist ohnehin ein großes Thema der 1900er-Jahre – Mark Cousins bezeichnet sie in seiner Story of Film als dasjenige Jahrzehnt, welches dem Film beibringt, „während“ zu sagen, indem die Vermittlung von Gleichzeitigkeit durch Schnitt entwickelt wird. In einigen Pathé-Filmen, insbesondere Le cheval emballé, 1907 von Louis J. Gasnier verantwortet und im Januar 1908 erstmals vorgeführt, kommen erste Konstruktionen vor, die im Rückblick wie Vorläufer von Parallelmontagen erscheinen und mehrere Handlungsstränge miteinander verbinden. Als ein Wäscher sein Pferd wegen einer Lieferung vor dem Haus stehen lässt, bedient sich jenes an einem Sack Weizen. Während der Hauptteil der visuellen Aufmerksamkeit dem Wäscher gilt, ist immer wieder das Pferd zu sehen, wie es zeitgleich den Weizen frisst, blitzschnell zunimmt und schließlich, als der Wäscher zurückkehrt, aufgrund der vielen überschüssigen Energie völlig außer Kontrolle gerät.
In Sachen Filmindustrie ist die Schließung der Produktionsstätten der Lumière-Brüder im Jahre 1905 ein einschneidendes Ereignis und kann als letztes Zeichen einer totalen Umstrukturierung hin zu einer studiogeleiteten Professionalisierung des französischen Films verstanden werden. Entsprechend im Aufschwung befinden sich indessen Pathé und Gaumont: Ab 1901 verschiebt Erstere endgültig das Hauptanliegen der Firma von ihrer Phonographen-Abteilung auf die Filmproduktion. 1902 wird im Zuge dessen ein eigenes Studio mit Glaswänden zur Nutzung des Sonnenlichts erbaut. Und Pathé entwickelt gar eine eigene Kamera, die bis nach dem Ersten Weltkrieg zum französischen Standard und weltweiten Erfolgsprodukt wird. Die Marge ist zu jener Zeit entsprechend üppig bemessen: Während für die Amortisierung eines Films bei der Konkurrenz normalerweise der Verkauf von 15 Kopien ausreichend ist, versetzt Pathé um die 350 Kopien pro Film. Schon bald expandiert das Studio nach Großbritannien, in die USA, nach Russland und nach Deutschland, wo eigene Zweigstellen entstehen und mit den regionalen Produktionsfirmen in Konkurrenz treten.
Zwischen 1905 und 1908 erfährt die französische Filmindustrie insgesamt ein starkes Wachstum. Pathé erwirbt in jener Phase drei Studios und wird zur ersten Filmfirma weltweit, welche die später für das Hollywood-System so zentrale vertikale Integration praktiziert, was bedeutet, dass die Produktion, die Distribution und die Aufführung allesamt in derselben Hand liegen. 1906 erwirbt Pathé zu diesem Zweck erste Filmtheater, 1907 etabliert das Studio den eigenen Vertrieb und vertreibt ab 1908 gar Filme aus anderen als den eigenen Produktionskontexten. Neben dieser allmählichen vertikalen Ausdehnung ist Pathé außerdem das erste Studio, das sich um horizontale Integration bemüht. Es expandiert also auch im eigenen Sektor durch das Aufkaufen anderer Studios und die eigene internationale Verbreitung, die besonders in Italien, Russland und den USA von Erfolg gekrönt ist. Im Jahre 1905 arbeiten insgesamt sechs Filmemacher unter der Leitung von Ferdinand Zecca für Pathé, die jeder einen Film pro Woche drehen, was einem Output von sechs Filmen pro Woche gleichkommt, nahezu einer für jeden Tag!
Bei Gaumont steigt wie erwähnt Alice Guy zur wichtigsten Koordinatorin und Produzentin des Studios auf und zeichnet verantwortlich für die Organisation und Entwicklung des Firmenportfolios. Gaumont baut erst im Jahre 1905 ein eigenes Produktionsstudio; ihr größter Coup zu jener Zeit ist die Verpflichtung von Louis Feuillade, der später zu eine:r de:r bekanntesten Regisseur:innen seiner Zeit avancieren wird. Auch Gaumont expandiert nach und nach und wird eine Pionierin der vertikalen Integration verschiedener filmnaher Berufe in die eigene Produktion. Alice Guy selbst dreht 1906 den Passionsfilm La naissance, la vie et la mort de notre-seigneur Jésus-Christ, für den sie einen eigenen Designer engagiert. Dies ist ein frühes Beispiel für die Erweiterung des künstlerischen und handwerklichen Filmbetriebs weit über den Film hinaus – wie es heute bei Kostümbild, Kulissenbau, Effektfirmen und vielen anderen Ressorts die Norm ist. Guy heiratet 1907 einen Kameramann und trägt fortan den Namen Guy-Blaché. Aufgrund der Ehe gibt sie ihre Berufstätigkeit, wie es damals üblich ist, temporär auf, gründet jedoch wenig später mit ihrem Ehemann zusammen ihre eigene Produktionsfirma Solax, die insbesondere in den USA in den 1910er-Jahren erfolgreich ist, jedoch die spätere Umsiedelung der gesamten Industrie an die Westküste nicht überlebt. Guy-Blaché wird zudem Filmdozentin an der Columbia University, was zu jener Zeit noch ein ausgesprochen unübliches Tätigkeitsfeld darstellt. Als Alice Guy-Blaché Gaumont schließlich verlässt, übernimmt Louis Feuillade (1873–1925) ihre Rolle als Leitung des Filmbereichs.
Die bei Alice Guy bereits sichtbare Tendenz, dem Gaumont-Film eine größere Kunstfertigkeit und Produktionsästhetik zu verleihen, wird von der Firma Film d’Art zum Programm erklärt. Bereits im Namen werden hier Film und Kunst in ein Verhältnis gesetzt, und das ist kein Etikettenschwindel: Film d’Art wird zum Vorläufer in Sachen ‚audiovisuelles Gesamtkunstwerk‘. Ihr erster Film L’Assassinat du Duc de Guise von André Calmettes aus dem Jahre 1908 ist zwischen 15 und 20 Minuten lang, mit zeitgenössischen Theaterstars besetzt, das Skript stammt von einem berühmten Theaterschriftsteller und der Soundtrack wird von einem Komponisten sogenannter klassischer Musik, nämlich keinem Geringeren als Camille Saint-Saëns, komponiert. Aufgrund des mit solchen Ansprüchen verbundenen riskanten Finanzierungsmodells – große Ausgaben erfordern entsprechend große Einnahmen – existiert Film d’Art jedoch nur bis 1911. Es ist jedoch ein erster Vorstoß in ein Diskursfeld, das den Film bis zum heutigen Tag immer wieder beschäftigt – hat er als Medium gesellschaftliche Verantwortung oder eine gesellschaftliche Funktion? Ist er eine Kunst und damit für die Bildung, oder ist er doch eher für die Unterhaltung seines Publikums zuständig?
Zuletzt wandelt sich in Frankreich in den 1900er-Jahren auch die Situation der Filmvorführung radikal – die Mitte des Jahrzehnts noch üblichen Café-Vorführungen und die Verbreitung von Filmen durch reisende Vorführer werden zwischen 1907 und 1910 quasi vollständig durch Filmtheater abgelöst, die im folgenden Jahrzehnt in Frankreich die absolute Norm darstellen.
Selbstverständlich geht das Zeitalter der experimentellen Kausalmontage auch an der einfluss- und erfindungsreichen Brighton School aus Großbritannien nicht vorüber. James Williamson dreht bereits 1901 den Film Fire!, der einen großen Einfluss auf den US-amerikanischen Regisseur Edwin S. Porter hat, und damit auf einen der wichtigsten Protagonisten des frühen Continuity-Stils in den USA. Darin wird zwischen Innen- und Außenraum, Brandort und Feuerwache, sowie, am brennenden Haus, oben und unten durch Schnitte vermittelt, sodass alle drei filmischen Achsen in Sachen Kontinuität ausgelotet werden. George Albert Smiths Mary Jane’s Mishap von 1903 verlässt sich maßgeblich auf die noch sehr neue Technik der Verknüpfung von master shots (Darstellungen der Gesamtsituation) und inserts (herausgegriffenen Details aus der Gesamtsitutation).
Aus England kommen auch in den 1900er-Jahren einige namhafte wirtschaftliche Erfolge, die vor allem mit Cecil Hepworth in Verbindung gebracht werden können. Rescued by Rover etwa, ein Drama von 1905, das zeigt, wie ein Hund sein Herrchen zu seinem entführten Baby leitet, avanciert zu einem Welterfolg und stellt einen Meilenstein der anrührenden, ‚ernsthaften“ Film-Narration dar. Cecil Hepworths Hund „Blair“, der die Hauptrolle übernimmt, wird infolgedessen der erste Hunde-Filmstar überhaupt.
Italien, eines der wichtigsten Filmländer, steigt in den neuen Trend ein wenig verspätet ein. 1905 und 1906 werden die ersten großen Produktionsfirmen Cines in Rom sowie Ambrosio und Itala in Turin gegründet. Die Phase des Handwerkskinos überspringt Italien zur Gänze, stattdessen geht das Land direkt zur Fabrikproduktion über. Zu Beginn wird die inhaltliche Arbeit vor allem von französischen Filmemacher:innen übernommen, die in Italien arbeiten. Dies wirkt sich auf viele Konventionen aus, unter anderem auch auf diejenige der Vorführung, jedoch beginnen sich in Italien schon sehr früh die Filmtheater als feste Projektionsorte zu verstetigen – seit 1905/06 –, und es etabliert sich ebenso früh, nämlich parallel zu Frankreich, ein eigenes italienisches „Kunstfilm“-Konzept.
Inhaltlich wie wirtschaftlich holt Italien also sehr rasch auf. 1908 erscheint Ultimi giorni di Pompei, eine ambitionierte Literaturverfilmung, aufgeteilt in einzelne tableaux vivants, die an Darstellungskonventionen der bildenden Kunst und des Theaters gemahnen. Der Film ist relativ lang, hat hohe Schauwerte und Produktionskosten und etabliert das historische Epos als das bekannteste italienische Genre seiner Zeit – man könnte sagen, dass alle diese Faktoren in Italien Schule machen und bis in deutlich spätere Jahrzehnte hinein einige der zentralen Trends des Landes beeinflussen. 1910 ist Italien bereits ein ebenso großer Exporteur von Filmen wie Frankreich. Durch die früh etablierte örtliche Stabilität der Filmtheater sind Filme mit mehreren Rollen, die also länger als 15 Minuten gehen, in Italien schon sehr viel früher üblich als in manch anderen Ländern, was in der internationalen Vermarktung bisweilen ein eigenständiges Verkaufsargument darstellt. Ein berühmtes Beispiel ist das 1910 produzierte und 1911 uraufgeführte Historienepos La Caduta de Troia von Giovanni Pastrone (1883–1959). Der Film ist je nach Laufgeschwindigkeit zwischen 25 und 32 Minuten lang und wird auf drei Rollen ausgeliefert; er positioniert sich in jeder Hinsicht als spiritueller Nachfolger von Ultimi giorni di Pompei. Parallel dazu fokussiert sich die italienische Filmproduktion jedoch auf günstigere, kleinere Komödien bzw. Komikerfilme, die oft die filmische Personalunion berühmter Komiker – z. B. des Franzosen André Deed – und deren Rollen – in diesem Fall „Cretinetti“ – nach sich ziehen. Neben einer stabilen Konvention der audiovisuellen Komiker:innenvermarktung, die bis heute existiert, stellt dies durch das Wiederkehren fester Rollen in verschiedenen Produktionen eine frühe Form der Serialität dar.
Auch Dänemark betritt in den 1900er-Jahren mit großen Schritten die internationale Filmbühne. Der Geschäftsmann Ole Olsen (1863–1943), der einschlägige Erfahrungen im Peepshow-Gewerbe vorzuweisen hat, gründet 1906 die Produktionsfirma Nordisk und richtet sie sogleich auf die internationale Distribution aus. Ein paradigmatisches Beispiel ist der internationale Erfolg Løvejagten von 1907, der in Dänemark selbst verboten wird, da zwei Löwen beim Dreh erschossen wurden, jedoch in den USA unter dem Great Northern genannten Exportzweig der Firma ein großer Erfolg ist. Es handelt sich um einen Safarifilm von ca. elf Minuten Länge, der heute nur noch als historische Kuriosität gilt. Aus Dänemark kommt indessen auch der erste Filmstar der Filmgeschichte: Asta Nielsen (1881–1972), die in dem ganze 37 Minuten langen Film Afgrunden von 1910 ihre erste große Rolle verkörpert und aufgrund des darin enthaltenen Gaucho-Tanzes, der schnell zum Stadtgespräch wird, sogleich ihren Durchbruch feiert. Interessanterweise ist der Film von Urban Gad (1879–1947) und damit nicht von Nordisk produziert, sondern von der direkten Konkurrenz namens Kosmorama, die sich jedoch im größeren historischen Kontext nur sehr kurz gegenüber der Vormacht von Ole Olsens Firma behaupten kann.