Читать книгу Handbuch Filmgeschichte - Willem Strank - Страница 15

Der frühe Film in Deutschland

Оглавление

Auch in Deutschland gibt es seit den 1880er-Jahren Bemühungen um die Entwicklung von Apparaten, die bewegte Bilder herstellen und wiedergeben können. Da man heutzutage bisweilen immer noch davon liest, dass die Erfindung des Films früher fälschlicherweise den Lumière-Brüdern aus Frankreich zugeschrieben worden sei, es sich aber eigentlich um eine deutsche Erfindung handle, gestatte ich mir vorweg eine kurze Bemerkung zu diesem sogenannten Skladanowsky-Streit: Diese Idee stammt aus der NSDAP-Kulturbehörde und ist kompletter Unfug, entwickelt zu Propagandazwecken. Sie geht auf eine Auftragsarbeit des Kölner Professors Carl Niessen zurück, der 1934 in seinem Buch Der Film – eine unabhängige deutsche Erfindung die eben genannten Argumente ausführt und vertritt. Während das Attribut „unabhängig“ im Titel der Abhandlung durchaus korrekt ist, gilt es allerdings für alle erwähnten Länder. Der Film entsteht in etwa zeitgleich in Frankreich, in den USA und in Deutschland – wo dabei die ersten bewegten Bilder zu sehen sind, hängt ebenso von der gewählten Definition ab wie die Frage danach, wo zuerst etwas produziert wird, das als „Film“ bezeichnet werden kann. Geht es um die erste öffentliche Aufführung oder die erste kommerzielle? Geht es um das erste reine Filmprogramm oder um bewegte Bilder im Allgemeinen? Zählt man die Vorläufer mit oder nicht? Die heutzutage übliche Lesart setzt den Beginn der Zeitrechnung des eigentlichen Films bei Louis Aimé Augustin Le Prince an, einem in den späten 1880er-Jahren in England ansässigen Franzosen, der jedoch seine Erfindung aufgrund seines vorzeitigen Todes weder weiterentwickeln noch vermarkten kann. Aber dazu später mehr.

In Deutschland ist der früheste eigenständige Apparat zur Erzeugung bewegter Bilder Ottomar Anschützens Schnellseher bzw. Tachyskop, der gemalte Bilder mithilfe einer sich drehenden Scheibe in Bewegung versetzt, die von der Zuschauer:in im Stehen beobachtet werden kann. Nach zeitgenössischen Urteilen erzeugt der 1886 entwickelte und 1887 erstmals öffentlich ausgestellte Apparat „lebende Bewegungsbilder“. Erst 1894 gelingt Anschütz jedoch die Projektion seiner vom Tachyskop ‚erzeugten“ Bilder auf eine Leinwand.

Die eigentlichen Erfinder des deutschen Films sind indessen die Berliner Brüder Skladanowsky. Max Skladanowsky (1863–1939) ist Fotograf und Fotooptiker und versucht sich ebenfalls sehr früh an einem Fotoapparat für Bewegtbilder. Die ersten ‚bewegten‘ Fotos fertigt er 1892 an; es handelt sich um Aufnahmen, auf denen sein Bruder Emil Skladanowsky (1866–1945) zu sehen ist. Kurz darauf entdeckt auch Max Skladanowsky das flexible Filmmaterial George Eastmans und entwickelt – wiederum gemeinsam mit seinem Bruder – den Doppelbildprojektor Bioscop, dessen erste Variante 1895 fertiggestellt ist. Dieser funktioniert aufgrund der Doppelbildkonstruktion durch die abwechselnde Belichtung von 16 Bildern, weshalb das Schnittverfahren relativ kompliziert ist. Am 1. November 1895 präsentieren die Brüder ihr nachträglich nach dem Vorführungsort benanntes Wintergarten-Programm in Berlin der Öffentlichkeit. Damit sind sie bezüglich der ersten öffentlichen Vorführung in Europa etwas früher dran als die Brüder Lumière in Paris, jedoch mit einer technisch komplizierteren und unterlegenen Maschine, die nach wenigen Jahren – ganz im Gegensatz zum einflussreichen Lumière-Modell – wieder ausstirbt. 15 Minuten Programm sind festgelegt, acht Titel werden insgesamt gespielt. Es ist anekdotisch überliefert, dass das anwesende Publikum davon irritiert ist, dass das Saallicht zur Projektion gelöscht werden muss. Die Skladanowskys lassen ihr Programm einer etablierten Varieté-Dramaturgie folgen und schließen damit an bekannte Formen an, statt sie, wie Edison und Dickson in den USA, darin zu integrieren. Zwar ist insgesamt nicht viel von dem filmischen Œuvre der Skladanowskys erhalten, aber dafür sind es größtenteils historisch gesehen hochgradig interessante Materialien, die überliefert sind – wie etwa Straßenaufnahmen von Berlin aus dem Jahre 1896. Und kurioserweise verantworten die Skladanowskys auf einer Auslandsreise den ersten schwedischen Film Komische Begegnungen im Tiergarten zu Stockholm, der ebenfalls 1896 entsteht und ein frühes Beispiel für eine relativ aufwändig koordinierte Choreographie darstellt.

Die Anfangsjahre des deutschen Kinos sind eine Zeit des Umbruchs im Wilhelminischen Reich. Jenes geht ab 1890 in die erste Dekade ohne Otto von Bismarck als Kanzler, was unter anderem mit der Lockerung seiner Sozialistengesetze im Herbst desselben Jahres einhergeht. Zudem sind es die ersten Jahre der deutschen Frauenbewegung. 1894 wird der ‚Bund deutscher Frauenvereine‘ gegründet, der sich unter anderem mit der Etablierung einer weiblichen Sexualdebatte auseinandersetzt – die ersten Jahre des deutschen Kinos gelten in der Hinsicht dadurch als progressiv und stoßen bis in die 1910er-Jahre daher auf massiven Widerstand patriarchal orientierter „Kinoreformer“. Von selbsternannten Sittenwächtern wird vor einer sexuellen Gefahr im dunklen Kinoraum gewarnt; Frauen sollten nicht allein ins Kino gehen. Wie bei vielen Erneuerungsbewegungen wird das Tabu zu einem positiv konnotierten Zeichen der Progressivität umgekehrt – das Kino gilt der frühen Frauenbewegung als Ort der Befreiung. Insbesondere die Intimität des Kinoraums, die eine nicht-eheliche Nähe zum anderen Geschlecht zumindest potenziell zulässt, hat einen nachhaltigen und wichtigen Einfluss auf emanzipatorisches Gedankengut. Die Produktionsgewalt des Kinos liegt indessen zunächst bei den Männern: den Kameraerfindern, Filmemachern und Filmautoren.

Handbuch Filmgeschichte

Подняться наверх