Читать книгу Handbuch Filmgeschichte - Willem Strank - Страница 14

Der frühe Film in den USA

Оглавление

In allen drei Ländern – den USA, Deutschland und Frankreich – wird der Film der jeweils landläufigsten Erzählung nach von einem Team aus zwei Personen erfunden – während es sich dabei in Frankreich und Deutschland um Brüder handelt, sind das in den Vereinigten Staaten von Amerika der zu jenem Zeitpunkt bereits als Erfinder der Glühbirne und des Phonographen berühmte Thomas Alva Edison (1847–1931) und sein Assistent William Kennedy Laurie Dickson (1860–1935), ein in Frankreich geborener Schotte, der den Großteil der Arbeit verrichtet und anschließend zusehen muss, wie sein Werk unter der „Marke Edison“ verkauft wird. Man kann Edison immerhin zugestehen, dass bewegte Bilder ihn als Idee schon länger umtreiben, aber ohne Dicksons Ideenreichtum bei der eigentlichen Erfindung wäre der amerikanische Film womöglich nicht so früh und in einer so gut funktionierenden Form zustande gekommen.

Die ursprüngliche Idee dahinter ist, die Prinzipien von Edisons Phonograph auch auf einen Wiedergabeapparat für bewegte Bilder zu übertragen. Erste Versuche dazu werden bereits 1888 unternommen, aber erst als Thomas Edison bei einer Ausstellung in Paris 1889 die Papierfilm-Kamera von Étienne Jules Marey sieht, geht es entscheidend voran. Er erteilt Dickson den Auftrag etwas Vergleichbares zu schaffen, und die Recherche des Schotten führt dazu, dass er auf George Eastmans Kodak-Film stößt, von dem er sogleich einen ganzen Vorrat erwirbt. Zwei Jahre später wird mit der etwa zeitgleichen Entwicklung von Kinetograph und Kinetoskop – heute würde man sagen: Kamera und Projektor – das Zeitalter der US-amerikanischen Filmproduktion eingeläutet. Die Entscheidung W.K.L. Dicksons, die einzelnen Filmbilder auf eine Diagonale von circa 35 Millimetern hin zu trimmen, ist eine zufällige, legt aber auf Jahrzehnte hinaus den Industriestandard fest. Es ist ebenfalls Dicksons Idee, das Filmmaterial über je vier Lochstreifen am Rand festzuhaken, sodass diejenige Konstruktion, die auch heute noch zeichenhaft am häufigsten für „Filmmaterial“ allgemein einsteht – ein 35-Millimeter-Film mit vier Löchern auf jeder Seite – auf das späte 19. Jahrhundert zurückgeht. Allerdings weicht Dickson in seiner Framerate deutlich von späteren Standards ab: Mit seinen 46 Bildern pro Sekunde legt er eine sehr hohe Geschwindigkeit vor, während die Stummfilmwerte in der Regel zwischen zwölf und 40 Bildern pro Sekunde liegen werden. Der Tonfilm legt sich später auf 24 Bilder fest.

Um einen festen Produktionsort für den Filmdreh zu haben, lässt Thomas Edison bis 1892 in New Jersey sein Studio Black Maria errichten, benannt nach den schwarzen Gefangenentransportern der US-Polizei jener Zeit, denen es von außen vage ähnelt und mit denen es deshalb ironisch seinen Spitznamen teilt. 1893 beginnt dort die Filmproduktion, die anfangs aus 20 Sekunden langen Filmen besteht, in denen verschiedene Bühnenkünstler:innen ihre Fähigkeiten präsentieren dürfen. Das daraus resultierende Programm knüpft nahtlos an Konventionen des zeitgenössischen Varieté- bzw. Vaudeville-Theaters an, in dem ebenfalls insbesondere Kuriositäten und Attraktionen als bühnenwürdig erachtet werden. Die Aufzeichnung kleiner Ereignisse wird als ebenso interessant empfunden wie die erste Vermarktung von Rollentypen. Im ältesten erhaltenen amerikanischen Film von 1894 namens Fred Ott’s Sneeze sieht man erwartungsgemäß eine Person namens Fred Ott niesen. In Annie Oakley aus demselben Produktionsjahr darf die berühmte gleichnamige Kunstschützin ihre Fertigkeiten präsentieren. Genauso nah an Jahrmarkt und Varieté positioniert sich Sandow the Bodybuilder, in dem die ungewöhnliche Körperlichkeit des Protagonisten als sehenswert markiert wird. Oder es präsentiert die Tänzerin Amy Muller ihre Kunstfertigkeit, aufgezeichnet und für die Nachwelt konserviert im Jahre 1896. Der Fokus auf kleine Bühnen und kleine Attraktionen schlägt sich auch auf die Kameraposition nieder, die dem Blickwinkel einer Zuschauer:in im Varieté-Theater ähnelt. Da der Film in diesem frühen Stadium noch orientierungslos angesichts seiner eigenen Medialität ist, hält er sich zunächst an etablierte und vor allem kommerziell viable Vorbilder – Thomas Edison ist, was gelegentlich in Vergessenheit gerät, als Geschäftsmann schließlich nicht weniger umtriebig denn als Erfinder.

Dementsprechend verwundert es im Rückblick nicht, dass bereits 1894 der erste Kinetoscope-Salon in den USA eröffnet. Edison vermarktet seine und Dicksons Erfindung als Arcade-Maschine und nähert sie damit dem Amusement-Park-Angebot an, ja integriert sie sogar darin. Aber Edisons Geschäftssinn schlägt sich auch in seiner berüchtigten Praxis nieder, vor Gericht den Erhalt der Einzigartigkeit seiner Patente mit einer einmaligen Rücksichtslosigkeit und Konsequenz durchzusetzen. Der erste von zahlreichen Prozessen, die Thomas Edison bzw. seine Firma gegen die aufkommende Filmindustrie führt, geht auf das Jahr 1895 zurück, in dem die Gebrüder Woodville, Otway und Gray (manchmal auch Grey) Latham eine eigene Kamera entwickeln, die aufgrund ihrer charakteristischen Schleifenführung des Filmmaterials die Projektion längerer Filme ermöglicht. Der sogenannte Latham Loop ist eine zentrale Innovation für die spätere Geschichte des Kinos und wird nach und nach für alle anderen Kamera- und Projektorpaare übernommen.

1896 entwickelt ein autonomes Team das Vitaskop, welches Dicksons Kinetoskop in technischer Hinsicht überbietet. Aufgrund von Edisons Reputation führen die Entwickler ihr Gerät jedoch sicherheitshalber dem Erfinder vor statt in direkte Konkurrenz zu ihm zu treten. Edison gefällt, was er sieht, und er lässt das Gerät unter dem Namen Edison’s Vitascope produzieren, auch, um ein Nachfolgemodell für das Kinetoskop vorführen zu können. Um seinen Einfluss auf die sich allmählich etablierende Filmindustrie zu erhöhen, gibt Edison „sein“ Vitascope nur noch zum Leasing heraus und nicht mehr im regulären Vertrieb. Somit sind Vorführorte nicht nur abhängig von seinen Geräten, sie gehören überdies weiterhin ausschließlich ihrem Sponsor. Ernstzunehmende Konkurrenz lässt jedoch nicht lange auf sich warten und noch im selben Jahr wird die American Mutoscope Company gegründet, die bereits 1897 den Peepshow- und Projektionsmarkt mit ihren stabileren und qualitativ hochwertigeren 70-Millimeter-Film-Geräten dominiert.

Die Zeit zwischen 1896 und 1897 ist im Rückblick eine Phase der ersten Ausdifferenzierung. Einerseits gibt es nun einen Unterschied zwischen der individuellen Filmsichtung in Peepshow- und Arcade-Umgebungen und dem kollektiven Sichtungserlebnis in Spielstätten, in denen projiziert wird. Andererseits differenziert sich der Film selbst ebenfalls bereits zu diesem frühen Zeitpunkt in zwei nach wie vor gültige Gattungen aus. Was man heute als dokumentarisch bezeichnen würde, sind um die Jahrhundertwende die actualities, kurze Filme über reale Begebenheiten. Darunter fallen einerseits die sehr populären scenics, die z. B. aus Reisebildern bestehen können, und andererseits die topicals, Vorläufer von Nachrichtenformaten, die einzelne Neuigkeiten filmisch verkünden. Auf der anderen Seite stehen die fiction films, Vorläufer des späteren Spielfilms in Kurzform, die von Bühnensituationen bis hin zu kleinen narrativen Sketchen reichen. Die damit einhergehende langlebige Trennung in Fiktion und Dokumentation hat ja bekanntermaßen bis heute als Gattungsdistinktion Bestand.

Auch die Spielstätten selbst differenzieren sich aus: Zwar gibt es noch keine Kinos und der Film ist weiterhin ‚zu Gast‘ an temporär für ihn umgewidmeten Orten, jedoch kann man nunmehr neben Vaudevilles und Vergnügungsparks auch in kleinen Theatern und – seltener – in Kirchen oder Opernhäusern kurze Filmprojektionen zu sehen bekommen. Zumeist ist der Film dabei nur eine Attraktion unter vielen. Vaudeville-Theater beispielsweise nehmen 25 Cent Eintritt von einem mehr oder weniger wohlhabenden Publikum und bieten dafür nachmittags- oder abendfüllende Unterhaltung mit Tanz, Schauspiel, Kleinkunst, Spektakel, Gesang und, dazwischen, Film. Schauspieler:innen gehen mit ihren Projektoren auf Tour und integrieren ihre Filmvorführungen bisweilen in Vorträge, die beispielsweise in örtlichen Kirchen und Opernhäusern stattfinden. Und durch die Erfindung des Latham-Loops sind auch lange Filme technisch gesehen kein Problem mehr. Dass sie nicht häufiger produziert werden, liegt neben den fehlenden Produktionsmitteln vor allem daran, dass noch kein Markt für sie existiert. Zunächst bleiben sie folglich Sportdokumentationen vorbehalten: Enoch J. Rector nutzt die neuen technischen Möglichkeiten für die mehr als 100 Minuten dauernde Aufzeichnung eines Boxkampfes: The Corbett-Fitzsimmons Fight. Aus filmhistorischer Sicht noch wichtiger als seine Länge, die Rectors Produktion in gewisser Weise zum ersten Langfilm überhaupt macht, ist jedoch das gewählte Format: Die 63-Millimeter-Filmstreifen haben ein Seitenverhältnis von ca. 1.65:1, das die Widescreen-Ideen, die ab den 1950er-Jahren kursieren werden, bereits früh vorweg nimmt und erstmals die Präferenz des breiten gegenüber dem hohen Bild betont, was später eine allgemeine Tendenz in der Geschichte des Filmbildes darstellen wird.

Wie es bei jungen, auf einer neuen technischen Neuerung basierenden Industrien häufiger der Fall ist, verfällt auch der junge amerikanische Film bereits 1898 in eine erste Krise. Der Film überlebt sich zu schnell als bloße technische Sensation und muss für neue Inhalte sorgen, um weiterhin interessant zu bleiben. Zwischenzeitlich sind es ausgerechnet drei Formate, die aus heutiger Sicht eher ungewöhnlich erscheinen, welche den Film am Leben erhalten: Zunächst finden filmische Passionsspiele und Schaukämpfe ein relativ breites Publikum. Überdies avanciert im Zuge des Spanisch-Amerikanischen Krieges von 1898, der aus wirtschaftlichen Gründen geführt wird und dessen Resultat die US-amerikanische Eroberung Guams, Puerto Ricos, Kubas und der Philippinen ist, die Kriegsberichterstattung zu einer weitläufig rezipierten Form. Nach dieser unverhofften Hilfe aus ungewöhnlichen Ressorts sorgt eine starke Ausdifferenzierung der Stoffe für mehr Abwechslung und für einen damit einhergehenden Aufschwung der Filmbranche – die erste Krise des Films kann spätestens Anfang des 20. Jahrhunderts als bewältigt gelten.

Thomas Edison zeigt indessen dem von ihm ins Leben gerufenen Wirtschaftszweig, dass er nicht daran denkt, seine Vormachtstellung angesichts der erstarkenden Konkurrenz schon aufzugeben. Er verklagt als Reaktion auf die Krise kurzerhand pauschal alle Konkurrenten, da sie alle implizit oder explizit sein eigenes Patent nutzen, um Film herzustellen und zu projizieren. Während die Firma American Vitagraph, die 1897 gegründet wird und wegen ihrer Spezialisierung auf Kriegsberichte in der Krise am stärksten profitiert, sich dazu entschließt mit Edison zu kooperieren, zieht die 1899 in American Mutoscope & Biograph (AM&B) umbenannte ehemalige American Mutoscope Company vor Gericht und gewinnt schließlich 1902 den langwierigen Prozess gegen Thomas Edison. Damit schafft die AM&B einen Präzedenzfall für den heterogeneren und von starker Konkurrenz zwischen den Studios belebten US-amerikanischen Filmmarkt der folgenden Dekaden.

Handbuch Filmgeschichte

Подняться наверх