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Der frühe Film in Europa

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In den meisten gängigen Filmgeschichtsschreibungen wird die Wiege des Kinos in Frankreich angesiedelt. Und die frühesten Filme werden aus heutiger Sicht zwar von einem Franzosen produziert, jedoch hält sich jener währenddessen in England auf. Es handelt sich um Louis Aimé Augustin Le Prince (1841–1890), der im Oktober 1888 mit einer simplen Einfachlinsenkamera und dem Eastman-Papierfilm erste bewegte Bilder herstellt. Diese sind zwangsläufig sehr kurz und werden daher heutzutage oft in einem ‚Loop‘ abgespielt. Die berühmtesten Beispiele dafür sind die nachträglich auf Basis dessen, was sie zeigen, so benannten Roundhay Garden Scene und Traffic Crossing Leeds Bridge. Ähnlich der ersten Fotografie sind Le Princes Filme auf Begebenheiten in seiner Umgebung fokussiert, Werke eines Tüftlers, der allein an seinen Experimenten arbeitet, noch ganz anders in Produktion und Ästhetik als die modellbildenden Teamarbeiten der Lumière-Brüder.

Le Princes Arbeit stellt jedoch ohnehin einen Sonderweg dar, der erst spät wiederentdeckt wird – zwischen 1930 und 1990 bleibt er außerhalb von Leeds quasi unbekannt. Das liegt auch daran, dass Le Prince am 12. September 1890 unter mysteriösen Umständen einen Zug besteigt, aber niemals wieder nachweislich verlässt. Der erste Filmemacher ist daher unter Fans von Geschichten verschwundener Personen bekannter als in der breiten Öffentlichkeit, und die obligatorischen abstrusen Verschwörungstheorien, die sich um seinen Tod ranken, reichen von Auftragsmorden, veranlasst durch Thomas Edison, um die Konkurrenz auszuschalten, bis hin zu Selbstmord aus finanziellen Gründen.

Die ingesamt professionellsten und handhabbarsten Geräte in Europa entwickeln indessen Auguste (1862–1954) und Louis Lumière (1864–1948), deren Familienunternehmen ohnehin bereits Fotografieplatten von Lyon aus vertreibt und damit in einer verwandten Branche etabliert ist. Die Entwicklung des weltberühmten Cinématographe beginnt 1894 als Auftragsarbeit eines ansässigen Kinetoskop-Ausstellers, günstigere Filme herzustellen als die relativ teuren Produktionen von Edison und Dickson. Das Resultat wird in vielerlei Hinsicht stilbildend und etabliert sich als weltweit vertriebene Kamera mit 35mm-Material und einer Start-Stop-Mechanik, die einer Nähmaschine nachempfunden ist, wie es bereits Étienne Jules Marey eingeführt hat. Die Lumières etablieren mit ihrer Maschine den Laufgeschwindigkeitsstandard von 16 Bildern pro Sekunde, der sich etwa 20 Jahre lang mehr oder weniger konstant hält – mehr oder weniger, da es durchaus eine Vielzahl konkurrierender Varianten gibt und erst ab dem Beginn der Tonfilm-Ära verbindlichere weltweite Vorgaben existieren.

Am 22. März 1895 erfolgt die erste Vorführung von La Sortie de l’Usine Lumière à Lyon (Arbeiter verlassen die Fabrik), der oft als erster Film überhaupt bezeichnet wird. Es dauert jedoch gut neun Monate, ehe das erste kommerzielle Screening im Grand Café in Paris erfolgt: Der 28. Dezember 1895 wird rezeptionshistorisch gesehen zur Geburtsstunde des Kinos. Bekannt ist über das Programm, dass es zehn Filme umfasst und einen Franc Eintritt kostet. Unter den zehn Filmen ist auch die erste Filmkomödie, ein kurzer Sketch über einen bewässerten Bewässerer, oder L’arroseur arrosé, der in der Hochzeit der Slapstick-Komödie in den 1910er- und 1920er-Jahren zum Standard avanciert. Das Screening ist von etlichen Anekdoten umrankt und wird intertextuell von zahllosen Regisseur:innen als Ursprung des Kinos wieder und wieder aufgegriffen. Dreh- und Angelpunkt der Erzählungen und Zitate ist stets der Film L’arrivée d’un train en gare de La Ciotat, der die Ankunft eines Zuges im Bahnhof von La Ciotat abbildet und die aussteigenden Menschen am Bahnsteig zeigt, und den man somit als popkulturell gesehen ersten Film der Filmgeschichte bezeichnen kann.

So soll das Publikum je nach Anekdote fluchtartig den Raum verlassen oder sich unter den Tischen versteckt haben, als der Film gezeigt wird. Natürlich ist beides ziemlicher Unfug, da der anfahrende Zug beim Verlassen des Bildkaders schlagartig verschwindet und weder Geräusche macht noch Farben aufzuweisen hat. Die zusätzliche Verfremdung durch das zweidimensionale Bild ist ein weiteres Argument gegen die Fabel vom Schreck, den die erste Kinogeneration bei ihrem Initialerlebnis empfunden haben soll. In Wahrheit ist die Vorführung ein veritabler Erfolg für die Brüder Lumière.

Die Einfahrt von Zügen ist Mitte der 1890er-Jahre schon eine Zeit lang ein gängiges Motiv in der bildenden Kunst Frankreichs gewesen. Insbesondere Claude Monets La Gare Saint-Lazare von 1877, eine Gemäldeserie aus zwölf Bildern, enthält manche Darstellungen, die im Nachhinein eine starke Ähnlichkeit zu der vergleichbaren Ästhetisierung jenes Ereignisses durch die Brüder Lumière aufweisen. Und obgleich dieser als Erweckungsmoment eines neuen Mediums rezipierte Film in Titelgebung und Ästhetik vordergründig dem Gestus eines Dokumentarfilms folgt, weist er zahlreiche verdeckte Momente von Regieanweisungen, Bildgestaltung und Inszenierung auf.

Natürlich sind schon die Auswahl des Blickwinkels, die Länge der Gesamteinstellung und die Positionierung der Kamera im Raum und die damit einhergehende Raumkonstruktion Eingriffe in die realitätsgetreue Abbildung der Begebenheit – so wie es jeder Film notwendig voraussetzt. Bliebe der Zug vor dem Erreichen der Kameraposition stehen oder endete er vorzeitig vor dem Aussteigen der Fahrgäste, wäre es ein anderer Film. Die Lumières etablieren hier frühzeitig Elemente der formalen Ordnung und beziehen sich auf die Geschichte der bildenden Kunst, was für das generelle filmische Aufgreifen logischer visueller Ordnungsprinzipien wie beispielsweise der nachmittelalterlichen Zentralperspektive paradigmatisch ist. Auf der Ebene des Dargestellten fällt die üppige Sonntagskleidung einiger Fahrgäste auf, und dass fast niemand in die damals noch unübersehbar klobige und durchaus neuartig-unbekannte Kamera schaut, wie es eigentlich zu erwarten wäre. Natürlich haben wir es mit einer Inszenierung zu tun: Die Angehörigen der Familie Lumière helfen als Statist:innen aus und haben sich für den Film unrealistisch stark herausgeputzt. Sie haben strikte Anweisungen die Kamera zu ignorieren – einzig die wenigen authentischen Fahrgäste blicken etwas neugierig hinein. Und damit ist noch eine weitere Konvention etabliert, die bis heute absolut geläufig ist und umso seltener hinterfragt wird: Schon hier ist der Kamerablick, anders übrigens als in der Fotografie, ungleich dem tatsächlichen Blick. Es geht beim Film immer auch um die Thematisierung ebenjenes Blicks, das Herausheben einer ausgewählten Situation aus der Gesamtheit möglicher Situationen in der filmischen „Realität“, um diese den Ordnungsprinzipien des Films zu unterwerfen. Der Blick in die Kamera wäre damit bereits hier, wie es auch heute noch gilt, ein Bruch der ‚vierten Wand‘, eine Störung der Illusion. L’arrivée d’un train en gare de La Ciotat wird vermutlich deshalb von der Nachwelt unter vielen anderen zeitgenössischen Filmen der Lumières hervorgehoben, weil er in mancherlei Hinsicht die ästhetische Geburt des Films darstellt.

Nur kurze Zeit nach dem ersten kommerziellen Screening in Frankreich nehmen einige andere sich des Filmemachens an – darunter die erste Regisseurin der Filmgeschichte, Alice Guy (1873–1968). Ihr erster Film La Fée aux Choux von 1896 ist heute leider verloren, wird aber noch zweimal von ihr neu gedreht. Er gilt als der erste narrative Film der Filmgeschichte; darin zaubert eine Kohlfee kleine Babys aus dem von ihr protegierten Wintergemüse und lässt diese als Früchte ihrer Ernte auf dem Boden zurück. Die symbolische Verbindung von Muttererde und Mutterschoß ist nicht nur der Stoff der vielleicht ersten fantastischen Erzählung der Filmgeschichte, sondern gleichsam ein frühes Beispiel für das rhetorische Potenzial des Films.

Aber gehen wir noch einmal kurz zurück zu den Lumières. Bereits 1896 expandieren die Brüder, gestützt von ihrem Firmenvermögen, international, indem sie Reisefilme aus Spanien, Ägypten, Italien, Japan und weiteren Ländern anfordern. Dazu beauftragen sie assoziierte Mitarbeiter:innen, die in die jeweiligen Länder reisen und dort mithilfe der Cinématographen kurze Filme drehen. Diese sind in Europa wiederum sehr populär, da sie die Wege zumindest auf visueller Ebene radikal verkürzen: Eindrücke aus fremden Ländern kann man nun in Form bewegter Bilder erlangen und nicht mehr nur durch Erzählungen, Fotografien oder eigene Reisen. Der Grundstein für eine globalisierte visuelle Mediengesellschaft ist gelegt.

Ein Nebeneffekt dieser Vorläufer ist die Erfindung der bewegten Kamera. Eugène Promio, einer jener heute weitgehend unbekannten Reiseregisseure der Lumières, filmt 1896 in Ägypten ein Panorama des Nilufers, indem er den Cinématographen an Bord eines kleinen Bootes positioniert. Die daraus entstehende Kamerafahrt nennt sich Egypte: Panorama des rives du Nil und eröffnet der Filmwelt erstmals den Blick dafür, wie stark die Dynamik der bewegten Bilder sich mithilfe einer zusätzlich selbst bewegten Kamera steigern kann.

Die Gegenbewegung zum ausgreifenden Export von Cinématographen zum Einfangen von Eindrücken weltweit vertritt der mithin als „Kino-Magier“ bezeichnete Tüftler Georges Méliès (1861–1938), der 1896 von dem englischen Filmemacher und Gerätebauer Robert William Paul ein englisches Projektor-Modell erwirbt. Méliès dreht noch in jenem Jahr ganze 78 Filme und wird insbesondere berühmt für sein illusionistisches „Trick“-Kino. Er experimentiert jedoch auch als einer der ersten mit der Verwendung mehrerer shots in einem einzigen Film – so z. B. in Cinderella aus dem Jahre 1899 und insbesondere L’affaire Dreyfus, der in zehn verschiedenen Teilen, die mit den jeweiligen Einstellungen korrespondieren, veröffentlicht und als erster Film überhaupt von einer Zensurbehörde verboten wird. Die Idee des illusionistischen Kinos zelebriert Méliès mit Vorliebe, und die Verwandtschaft zur Magie findet sich nicht zufällig in einem seiner frühesten Filme, dem Zaubertrick Escamotage d’une dame chez Robert-Houdin aus dem Jahre 1896, ganz explizit.

Ab 1897 können die Cinématographen nicht mehr nur für die Lumière-Produktion geliehen werden, sondern gehen in den freien Verkauf. Rasant verbreitet sich das Phänomen ‚Film‘ weltweit und etliche Kulturen beginnen um die Jahrhundertwende ihre individuelle Filmgeschichte. In Frankreich selbst ereignet sich etwa ein Jahr vor der US-amerikanischen Filmkrise eine große Tragödie: Am 4. Mai fängt das leicht brennbare Filmmaterial in einem Pariser Kino Feuer und 125 Menschen sterben in dem dadurch ausgelösten Brand. Die Attraktivität des Films verringert sich für eine gewisse Zeit und auch die französische Filmindustrie muss eine Weile um ihre steigenden Zahlen bangen.

Insgesamt aber etabliert sich die industrielle Filmproduktion, während das Modell Lumière – der Zusammenschluss von Gerätebau und Filmproduktion in den Händen einer oder weniger Personen – allmählich schon wieder ausstirbt. Die beiden zentralen französischen Filmstudios der folgenden Jahre werden bereits 1896 bzw. 1897 gegründet: zuerst Pathé Frères von seinem Namensgeber Charles Pathé (1863–1957), das im 20. Jahrhundert zu einem enorm einflussreichen Studio avancieren wird; und kurz darauf gründet Léon Gaumont (1864–1946) sein gleichnamiges Studio Gaumont, das sich als Pathés hartnäckigster Konkurrent etablieren wird. Einige Jahre lang hält sich indessen parallel zur aufkeimenden Industrie das System der Tüftler:innen und Selbstmacher:innen, insbesondere in der Person von Georges Méliès, dessen Produktionen in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts noch einmal einen starken Aufschwung in Sachen Kunstfertigkeit und Popularität erfahren.

Der Film kommt erstmals durch den bereits erwähnten Franzosen Louis Aimé Augustin Le Prince nach Großbritannien. Zum zweiten Mal kommt er aus den USA, und zwar in Form einer Werbevorführung von Edisons und Dicksons Kinetoskop in London im Oktober 1894. Die Vorführung hinterlässt bei etlichen interessierten Tüftler:innen Eindruck, und Robert William Paul (1869–1943), seines Zeichens Elektriker und Instrumentenbauer, erhält von dem Salon, in dem die Ausstellung stattgefunden hat, den Auftrag, ebenfalls Kinetoskope herzustellen. Da diese im Ausland zu jenem Zeitpunkt noch unpatentiert sind, kann Paul legal und einfach Kopien der Geräte anfertigen und vertreiben.

Im März 1895 entsteht in England eine weitere Kamera, die auf dem Modell von Étienne Jules Marey basiert. R.W. Paul und Birt Acres (1854–1918) nutzen diese für erste Filme, zerstreiten sich jedoch dabei, was dazu führt, dass Paul die Kamera allein weiterentwickelt und Acres indessen einen Projektor baut. Aus dieser getrennten Zusammenarbeit ergeben sich die ersten Vorführungen in England produzierter Filme. Ein großer Hit des streitbaren Teams ist der scenic film Rough Sea at Dover, uraufgeführt im Januar 1896. Er zeigt nichts als bewegte Wellen, die im Vordergrund der berühmten Kreideklippen vor Dover auf ein Ensemble von Felsen prallen, aber damit eben etwas, das nicht allen Filmzuschauer:innen der Zeit ohne Weiteres zugänglich ist. Auch Twins’ Tea Party (1896) von R.W. Paul erfreut sich großer Beliebtheit – man könnte ihn aufgrund seiner totalen Abhängigkeit von der Niedlichkeit seiner Protagonist:innen als eine Art Katzenvideo der 1890er-Jahre begreifen.

Als die englische Industrie sich 1896 allmählich findet und die französische Industrie beginnt ins Ausland auszugreifen, ergibt sich in diesem Fall eine geradezu symbiotische gegenseitige Durchdringung der Märkte. Die Lumières führen ihren Apparat und ihre Filme in England vor, während zeitgleich der Vertrieb von R.W. Pauls Equipment in Frankreich beginnt, von dem Georges Méliès berühmtermaßen ein Gerät als ‚Einstiegsdroge” erwirbt.

In England selbst wird der Film aber eher vergleichbar der Situation in den USA positioniert. Er nimmt einen Slot im Music-Hall-Programm, dem englischen Pendant des Vaudeville-Theaters, ein, und wird ab 1897 auch auf Jahrmärkten gezeigt. Ein früher Filmtyp, der bald ähnlich populär wird wie der Reisefilm, ist der phantom ride, den es bis heute in Form der nächtlich im Fernsehen ausgestrahlten ‚schönsten Bahnstrecken Europas‘ gibt. Der erste Vertreter dieser in der Nachfolge ‚bewegten Kamera‘ Eugène Promios entstandenen Filme firmiert heute unter dem prosaischen Namen View from an Engine Front – Barnstaple und erscheint 1898.

Nachhaltig berühmt wird der frühe englische Film jedoch durch drei Filmemacher, die um die Jahrhundertwende etliche Trick- und Narrationsexperimente durchführen und damit vieles von dem vorwegnehmen, was wenige Jahre später für den US-Film stilbildend werden wird. Drei Werke aus dem Jahre 1900, die dies gut exemplifizieren, sollen kurz vorgestellt werden: Da ist einerseits Cecil Hepworths (1874–1953) Explosion of a Motor Car, der mithilfe avancierter Schnitttechniken die womöglich erste Actionszene der Filmgeschichte hervorbringt. Andererseits sind da die Vertreter der sogenannten Brighton School, bestehend aus den schnurrbärtigen Fotografen George Albert Smith (1864–1959) und James Williamson (1855–1933). In Williamsons The Big Swallow wird durch einen geschickten verdeckten Schnitt der Eindruck erweckt, der Protagonist verschlucke Kamera samt Personal, was zugleich eine selbstreflexive Auseinandersetzung mit Perspektive, Einstellungsgröße und Blickmacht anstößt. In Smiths Let Me Dream Again findet sich nicht nur der erste Traum und die erste zur Markierung des Aufwachens verwendete Unschärfe der Filmgeschichte, sondern gleichsam die früheste überraschende Auflösung. Ein Lebemann wird gezeigt, wie er das Leben in vollen Zügen genießt, ehe die Realität ihn einholt und alles sich als frommer Traum erweist. Let Me Dream Again bringt zudem das erste Remake der Filmgeschichte hervor, wodurch die starke Verknüpfung zwischen dem frühen englischen und dem frühen französischen Film nochmal deutlich wird: Der Pathé-Regisseur Ferdinand Zecca (1864–1947) inszeniert den Stoff 1901 noch einmal unter dem Namen Rêve et Realité.

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