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1910er: Europa

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In Frankreich hat sich das Kino in den 1910er-Jahren endgültig durchgesetzt, Café- und Wandervorführungen sterben quasi vollständig aus. Der Krieg trifft den Branchenprimus jedoch wie kein anderes Land, was seine Filmindustrie angeht, auch, weil mit Kriegsbeginn 1914 viele Filmproduktionsstätten in Munitionsfabriken umgewandelt werden und die häufig noch recht jungen Filmemacher an die Front müssen.

Ausgerechnet in diesen fragmentierten Zeiten boomt in Frankreich das Format des Serienfilms. Louis Feuillade entwickelt nach sieben Jahren bei Gaumont Fantômas (1913) und setzt ihn aufgrund des großen Erfolges im Folgejahr fort. Damit beginnt eine Erfolgswelle des seriellen Formats – kurz vor Kriegsbeginn werden Serien auch in den USA als eine Art Zwischenphase vom Kurzfilm zum Spielfilm beliebt, da die Episodenlänge von 20 bis 45 Minuten den Kern eines gestückelten Programms darstellen kann und gleichzeitig die Rückkehr ins Kino mit Cliffhangern und ähnlichen Kniffen absichert. Höhepunkt der Kunstform ist wohl Louis Feuillades Les Vampires von 1915, dessen sieben Stunden Laufzeit in zehn Episoden unterteilt sind. Auch deutsche Filmemacher:innen greifen das Konzept der Serie auf – am populärsten ist Otto Ripperts Homunculus (1916) über eine Art Frankenstein-Monster, das sich auf dem Aktienmarkt umtut und dadurch die Weltherrschaft zu übernehmen droht. Sie besteht aus sechs circa einstündigen Teilen.

Neben Feuillade ist Léonce Perret (1880–1935) ein bedeutender französischer Regisseur jener Zeit, der sich insbesondere mit zwei Melodramen über entführte Kinder einen Namen macht: L’Enfant de Paris (1913) und Le Roman d’un Mousse (1914); in sehr groben Zügen geht der komplexe plot des Letzteren so: Ein Reichenkind wird durch einen Geldverleiher entführt, seine Eltern erpresst. Als der Plan nicht aufgeht, schickt der Verleiher den Jungen auf einem Fischerboot in den intendierten Tod, aber ein Crewmitglied des Fischerbootes entschließt sich ihn zu retten. Le Roman d’un Mousse ist bemerkenswert aufgrund seiner Stimmungsbilder, die er mithilfe subtiler Lichtsetzung erzeugt, seiner ungewöhnlichen mise en scène, aber auch aufgrund seiner symbolischen Montage. Im Rückblick erscheint der Film wie ein früher Vorläufer auf dem Weg zum französischen Impressionismus der 1920er-Jahre.

Richard Abel schreibt dazu in The Ciné goes to Town (1998, 380f): „Wenn die Fantômas-Filme von Feuillade in der Saison 1913–1914 immer noch einer der Höhepunkte von Gaumonts Produktion sind, bilden die beiden Blockbuster von Perret, L’Enfant de Paris und Le roman d’un Mousse, sicherlich einen weiteren. Beide sind ‚Superproduktionen‘ mit acht oder mehr Walzen und gehören damit zu der gleichen Kategorie wie Germain von Pathé und Les Trois Mousquetaires von Film d’Art. Und beide wurden als Exklusivitäten in Kinoprogrammen gezeigt, die durch ein Intervall in zwei mehr oder weniger gleiche Teile aufgeteilt wurden, um sie erfolgreich mit der Theateraufführung eines Stücks gleichzusetzen. Diese Filme kombinieren kriminelle und detektivische Züge der Serien Zigomar, Main de fer und Fantômas mit anderen, die mit der bürgerlichen Familie des zeitgenössischen Melodramas zu tun haben. Einerseits bieten sie folglich Ausflüge durch eine Vielzahl sozialer und geographischer Stätten an, von Führungen durch die bürgerlichen Spielplätze der Oberklasse bis hin zu Slumming-Erlebnissen der Abwärts- und Außenränder. Andererseits führen sie die Geschichte des ‚verlorenen Kindes‘ wieder ein, das den Fortbestand der bürgerlichen Familie als Ort des sozialen Wertes und der Ordnung gefährdet. Und diese Verschmelzung der beiden vor Kurzem unterschiedlichen Genres nimmt ihre ausgeprägteste Form […] im Charakter des heranwachsenden Jungen an, der zuerst das Opfer der Kriminellen ist und dann ihr Feind als Detektivheld.“

Das älteste französische Studio Pathé verlegt sich ab 1913 von der kostspieligen Produktion immer stärker auf die günstigere Distribution, was in Zeiten des Ersten Weltkriegs dazu führt, dass es sich auf die US-Distribution konzentriert. Lillian Gish, Charlie Chaplin, Douglas Fairbanks und andere werden große Stars in Frankreich und die Vorreiterrolle von Pathé – als auch Frankreichs im Ganzen – geht verloren. Pathé selbst bleibt dadurch profitabel, aber die französische Industrie wird sich von diesen Einschnitten niemals in vollem Umfang erholen. Um es in einer Zahl auszudrücken: 1917 sind 50 Prozent der Filme, die in Frankreich laufen, US-amerikanischer Herkunft. Die Wachablösung ist vollzogen.

Das Studio Nordisk etabliert sich im Dänemark der 1910er-Jahre als weltweit anerkannte Marke, die für das qualitativ hochklassige Schauspiel und die Wertigkeit der Produktion (production values) bekannt ist. Es spezialisiert sich auf Kriminalthriller, Dramen und Melodramen, die auch heute noch die drei großen dänischen Genres sind. Etliche der Melodramen handeln zu jener Zeit vom Menschenhandel; außerdem spielen – nicht zuletzt aufgrund einer festinstallierten Zirkuszeltkulisse bei Nordisk – oft Zirkus-Settings eine wichtige Rolle.

Als ambitioniertester dänischer Film der 1910er-Jahre kann wohl August Bloms Atlantis von 1913 gelten, ein direkter Vorläufer heutiger dänischer Melodramen. Ein Chirurg erfährt darin, dass seine Frau gehirnkrank ist und sie wird kurzerhand eingewiesen; er geht in Trauer davon und stellt einer jungen Tänzerin nach, der er bis auf ein Kreuzfahrtschiff folgt. Dort stellt er fest, dass sie einen Freund hat, lässt von ihr ab und soll kurz darauf an Bord eine junge Russin behandeln, was fast zu einer Liebesnacht führt, aber aufgrund des Klassenunterschiedes ist die Beziehung aussichtslos. Die „Roland“ (das Schiff) fährt jedoch in ein unsichtbares Objekt und sinkt. Das katastrophale Unglück der Titanic am 14. April 1912 ist zu jenem Zeitpunkt noch sehr frisch im kollektiven Gedächtnis verankert, sodass Atlantis bisweilen als erster Titanic-Film bezeichnet wird. Der Chirurg und die Tänzerin können sich auf ein Rettungsboot retten, aber ärmere Passagiere haben nicht das Glück: Nur acht überleben. Der Film ist ein Welterfolg.

Aus Dänemark kommen in den 1910er-Jahren aber ohnehin viele sehr kunstvolle und narrativ innovative Filme, die sich ähnlich wie Feuillade und Perret in Frankreich auf die ästhetische Stärke von Stimmungsbildern stützen. Insbesondere die Qualität der Beleuchtung steht immer mehr im Vordergrund und bietet neue Möglichkeiten für die Gestaltung der mise en scène. Die Kolorierung verschiedener Settings (blau für Nachtszenen etwa) wird zu jener Zeit vollkommen üblich und weltweit eingesetzt.

In Dänemarks Nachbarland Schweden wird im Jahre 1907 die Produktionsfirma Svenska Biografteatren („Svenska“) in Kristianstad gegründet. Mit dem Umzug nach Stockholm im Jahre 1912 beginnt die erste Blütezeit des schwedischen Kinos.

Insbesondere die Filme von Georg af Klercker, Mauritz Stiller und vor allem Victor Sjöström (1879–1960) haben einen sehr eigenständigen Stil, der die nordischen Landschaften, schwedischen Trachten und Bräuche und die eigene Literaturtradition stark einbindet. Sjöströms Ingeborg Holm von 1913 z. B. könnte auf den ersten Blick auch von August Strindberg geschrieben sein: Eine gutbürgerliche fünfköpfige Familie degeneriert durch schwere Krankheiten. Der Ehemann stirbt an Tuberkulose, die Mutter (Titelfigur Ingeborg) erkrankt an einem Geschwür und kann nicht mehr arbeiten, sodass die drei Kinder in ein Armenhaus kommen, wo schon bald der Jüngste die Mutter nicht mehr erkennt, als sie zu Besuch kommt. Das treibt Ingeborg in den Wahnsinn, als wiederum ihr Ältester Erik sie besucht, erkennt Ingeborg ihn nicht mehr. Es gibt jedoch ein bittersüßes Happy End: Als Erik ihr ein altes Foto zeigt, kommt alles wieder und die Familie wird wieder zusammengeführt. Das Motiv des Porträtfotos spielt in dem Film ohnehin eine große Rolle in Bezug auf Erinnerung und Identität.

In Italien wird insbesondere der Historienfilm mit etlichen aufwendigen Großproduktionen fortgesetzt. Merkmale des frühen italienischen Films sind seine enorme Länge, gigantische Kulissen unter freiem Himmel, die das Zusammenwirken von Kulissen und Landschaft erwirken sollen, lange Kamerafahrten in die Tiefe mithilfe eines Kamerawagens, der in Italien entwickelt wird (carello), ganze Menschenmassen, die eine Massenchoreographie der Komparsen aufführen sowie ein starker Fokus auf die Hauptdarstellerin, die Diva. Giovanni Pastrone, einer der ersten italienischen Filmemacher, produziert 1914 das gigantische Epos Cabiria, das wegen der enormen Ausstattung, aber auch wegen der virtuosen Kamerafahrten stilbildend ist.

Das zweite große Genre, in dem die Diven (wörtlich „Göttinnen“) hervortreten, ist der Gehrock-Film. Dieser bezeichnet aristokratische Dramen, die der Oper in Bühnenausstattung und Performance nahestehen. Die berühmtesten Diven der Zeit sind Lyda Borelli (1884–1959) und Francesca Bertini (1892–1985). Das männliche Pendant zu diesen hyperfemininen Frauenfiguren bildet in den Historienfilmen der hypermaskuline Maciste (oder ‚Muskelmann‘).

Sowohl der Historien- als auch der Gehrockfilm sind in Italien auch nationalistische Anliegen. Die späte Vereinigung zum Nationalstaat im 19. Jahrhundert fördert das Bedürfnis, regionale Differenzen durch nationale Fiktionen zu überwinden. Aus heutiger Sicht wirkt das oft reaktionär und wie eine frühe Vorahnung des gar nicht so viel späteren Faschismus, aber eine solche Lesart vernachlässigt die Positionierung des Historienfilms als Nachfolger der großen italienischen Oper, ästhetisch wie soziologisch, schließlich handelt es sich bei der Oper des 19. Jahrhunderts in Italien um ein Massenmedium mit etwa 10.000 Besucher:innen. Die Verbindung zeigt sich in dem Hang zu großen historischen Stoffen, Massenchoreographien, opulentem Dekor, einem großen Gefühlsaufwand und eben: den Diven.

Mit dem Kriegseintritt 1916 passiert in Italien etwas Ähnliches wie in Frankreich, jedoch nicht ganz so drastisch. Der Einbruch der Exporteinnahmen kostet Italien dennoch den Status als zweite industrielle Filmnation hinter Frankreich – beide werden von den USA überholt, die vor Kriegsanbruch als Exporteur nur in Großbritannien, Deutschland, Australien und Neuseeland führend gewesen sind. In den 1920er-Jahren steigt die italienische Filmindustrie ökonomisch weiter ab und erholt sich auch ästhetisch für längere Zeit nicht von dem Absturz des Ersten Weltkriegs und dem darauffolgenden Aufstieg des Faschismus.

In Russland beginnt in den 1910er-Jahren – abgesehen von einigen Vorläufern – die Geschichte des Stop-motion-Films. Diese Form des Animationsfilms wird durch den Puppenspieler-Virtuosen Władisław Starewicz (1882–1965) entwickelt, einen in Moskau geborenen Polen, der anfangs Insekten in Bewegung versetzt. In seinem Film Mest’ kinematograficheskogo operatora (RUS 1912), auf Deutsch in etwa „Die Rache des Kameramanns“, verhalten sich Insekten dem Anschein nach vollständig menschlich, auch auf Handlungsebene: Es geht um Betrug, Eifersucht und Rache: Herr Käfer fängt eine Affäre mit einer hübschen Libellentänzerin an, während ihr Ex-Freund, ein Grashüpfer und Kameramann, das Ganze heimlich beobachtet und filmt. Starewicz bleibt nicht viel länger in Russland, sondern flüchtet 1917 vor der Revolution und arbeitet danach lange in Frankreich.

Ansonsten nimmt Russland im Ersten Weltkrieg eine ähnliche Entwicklung wie Deutschland, was die Filmindustrie angeht: Die nach und nach eingeführten Importstopps deutscher, später auch italienischer Filme führen zu einer weitreichenden Expansion der Nationalproduktion. Eine globale Besonderheit des frühen russischen Films gegenüber dem allgemeinem Filmgeschmack ist, dass dort tragische Enden sehr viel populärer sind als das ansonsten ubiquitäre happy ending. Und das sehr langsam erzählte Melodrama, wie es auch heute noch existiert, etabliert sich als das erfolgreichste russische Genre. Es zeichnet sich durch seinen introspektiven Schauspielstil, die langsame Schnittfrequenz, detaillierte Sets und komplexe analytische Kamerafahrten aus.

Einer der interessantesten Protagonisten dieses Genres und des russischen Films überhaupt ist Yakov Protazanov (1881–1945), der von 1909 bis 1943 als Filmemacher tätig ist und damit etliche frühe Phasen des russischen Kinos aktiv miterlebt. In den 1910er-Jahren ist er vor allem bekannt für Literaturverfilmungen nach Puschkin und Tolstoi, etwa Otets Sergiy („Pater Sergius“, RUS 1918), den er in Zusammenarbeit mit dem Drehbuchschreiber Alexandre Volkoff umsetzt.

Die Revolutionen im Februar und Oktober 1917 verändern auch das Filmschaffen in Russland radikal. Eine der wichtigsten Avantgarde-Bewegungen der 1920er-Jahre entsteht in ihrer Nachhut, auch, weil das Kino von Lenin zur wichtigsten Kunst erklärt wird, was weltweit ein staatliches Novum ist. Der Umbruch vollzieht sich langsam und vor der Verstaatlichung des Kinos erfolgt als Zwischenschritt die Einrichtung einer Überwachungsbehörde; erst ein paar Jahre später setzt sich die Produktion ein wenig und die neue sowjetische Filmtheorie wird zur Vorbedingung der nunmehr propagierten ästhetischen Revolution der 1920er-Jahre.

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