Читать книгу Wyatt Earp Paket 2 – Western - William Mark D. - Страница 9
ОглавлениеNeunundzwanzig Meilen lagen zwischen den beiden Kansasstädten Abilene und Salina. Eine Strecke, die die alte Overlandpostkutsche im Höllentempo von nur sechs Stunden täglich bewältigte. Seit vielen Jahren.
Bill Norton fuhr schon sieben Jahre auf dieser Linie. Bei jedem Wetter und unter allen Umständen. Sie konnten sich in Salina an der Station auf den alten Driver verlassen wie auf die Uhr.
Die Overland war wie jeden Tag um elf Uhr am Vormittag in Abilene abgefahren – und war um fünf nicht in Salina angekommen.
Der alte Postmaster rieb sich sein stoppelbärtiges Kinn und trat unruhig von einem Bein aufs andere, als der große Zeiger seiner vergilbten alten Uhr über die Zwölf rutschte.
»Heavens, was ist denn mit Bill los?« murmelte er vor sich hin.
Um zehn nach fünf verließ Postmaster Wilkins sein Office und trat auf den Vorbau. Er zog seinen grünen Marienglasschirm über die Augen und blickte nach Westen hinüber in die untergehende Sonne, so als gäbe es dort etwas Interessantes zu sehen.
Dann erst wandte er den Kopf und blickte die staubige Straße hinunter nach Osten, von woher die Kutsche zu erwarten war.
Drüben trat jetzt der grauköpfige Jack Bride aus seinem Haus. Er war eben über fünfzig, hatte ein hartes, kantiges Gesicht, stahlgraue Augen und einen schmallippigen Mund. Links auf seinem über der Brust offenstehendem grauen Kattunhemd blinkte der silberne Fünfzack.
Der Sheriff fuhr sich durch sein kurzgeschorenes Haar und sah nach Osten hinüber.
Dann zündete er sich eine Zigarette an und kam langsam auf die Straße. Am Zügelbalken, wo Bill Norton jeden Nachmittag um diese Zeit seinen braunen Leithengst anband, stützte er sich auf und stieß den Tabakrauch durch die Nase aus. Dann meinte er, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen: »Ziemlich warm heute.«
Wilkins nickte. »Yeah.«
Der Sheriff sah seinem zottigen Hund nach, der müde über die Straße trottete.
Wilkins rieb sich nervös das Kinn; es war ihm unangenehm, daß der Sheriff sich hier eingefunden hatte.
Wo blieb Bill bloß?
Der Postmaster zerbrach sich den Kopf bereits seit einer Viertelstunde darüber.
Dann hörte er den Gesetzesmann sagen: »Das linke Hinterrad der alten Overlandschaukel gefiel mir schon gestern nicht.«
Wilkins knurrte: »Sie haben es in Abilene heute in der Frühe repariert.«
Der Sheriff brummte: »Der Schimmel ist übrigens ziemlich alt. Er hätte längst aus dem Gespann genommen werden müssen.«
Wilkins krächzte aufgebracht: »Die Stute ist in Ordnung; sie hält das Tempo und zieht die andern mit. Der Leithengst geht seit Jahren nur neben ihr gut in den Strängen.«
Jack Bride wandte den Kopf und sah den alten Postmaster offen an.
»Es ist heiß heute…«
»Das sagten Sie schon, Sheriff!« fauchte der Alte.
»Well, und weshalb sollte Bill deshalb nicht in Solomon eine kurze Rast eingelegt haben. Der rote Ire schenkt keinen schlechten Whisky aus.«
Da flog der Kopf des Postmasters herum.
»Bill Norden trinkt keinen irischen Whisky. Und er hat noch nie in Solomon angehalten. Außerdem ist der alte Bursche den Durst seit sieben Jahren gewohnt!«
Da spie der Sheriff seine Zigarette aus, maulte etwas Unverständliches vor sich hin und schlenderte zu seinem Office hinüber.
Auch der alte Wilkins verließ seinen Platz auf dem Vorbau. Als er bemerkte, daß der Sheriff in seinem Bureau verschwunden war, stellte er sich in die Fensternische und sah hinaus.
Jack Bride stand drüben in seinem Office auf dem gleichen Posten und beobachtete die Straße.
Die Zeit rann dahin.
Da kam aus dem Eingang des Grand Hotels der schlaksige Geo Upton und blieb vor der Poststation stehen.
»Mister Wilkins!«
Der Alte ließ absichtlich eine Minute verstreichen, ehe er an die Tür kam.
»Was gibt’s?« erkundigte er sich nicht eben freundlich.
Upton stemmte seine prankenartigen Hände in die Hüften.
»He, das wollte ich gerade von Ihnen wissen, Wilkins!«
»Wieso?« stellte sich der Postmaster dumm.
»Na hören Sie – wo bleibt denn die Kutsche?«
»Die Kutsche?« Wilkins sah sich um und tat, als müsse er sich erst von der Uhrzeit vergewissern, die er indes genau wußte.
»Ach ja, es ist ein paar Minuten nach fünf. Well, die Overland wird jeden Augenblick kommen.«
»Ein paar Minuten?« empörte sich der Hotelbesitzer. »Mann, sie ist gleich eine halbe Stunde überfällig!«
Da stieß sich der Alte den Marien-glasschirm aus der Stirn und krächzte: »Was wollen Sie eigentlich, Upton? Es ist heiß, und der Driver ist auch nur ein Mensch, der Durst hat!«
Da wurde drüben im Hof des Sheriffs Office das Tor aufgestoßen.
Jack Bride kam mit seinem Fuchs heraus, warf dem Postmaster einen kurzen Blick zu, zog sich in seinen abgewetzten Sattel und ritt nach Westen davon.
Nach Westen!
Die beiden sahen ihm nach.
Hinter der Straßenbiegung lenkte Bride in eine Seitengasse ein und veränderte seine Richtung urplötzlich. Er nahm die Zügelleinen hoch und galoppierte nach Osten davon, auf die Fahrstraße nach Abilene hinaus.
Nur zwei Meilen vor der Stadt fand er die Overland.
Sie hielt mitten auf dem Weg.
Die vier Gäule standen mit gesenkten Köpfen davor und schnaubten heftig, als sie den Reiter bemerkten.
Jack Bride hatte es schon von weitem gesehen. Der schwere Wagen war hinten eingebrochen.
Als der Sheriff näherkam, hatte er seinen Revolver in der braunen Faust.
Das linke Hinterrad der Overland war geborsten.
Die Kutsche war leer.
Und auch von dem Driver konnte Bride weit und breit keine Spur entdecken.
Die Landschaft war hier flach und buschlos, man hätte einen Mann auf eine Meile hin sehen müssen.
Der Sheriff brauchte fast eine Stunde, bis er das Rad so weit wieder repariert hatte, daß der Wagen notdürftig rollen konnte.
Bride hängte seinen Fuchs hinten an, kletterte auf den Kutschbock, nahm die Zügelleinen auf – und starrte plötzlich entgeistert in seine rechte Handfläche.
Sie war feucht geworden, feucht und rot.
Blut!
Was war dem alten Driver passiert?
Der Sheriff sah sich unbehaglich um.
Dann zog er die schweren Lederleinen an, warf eine Welle hinein, und die vier Pferde setzten sich in Bewegung.
Es war fast neun Uhr, als das rumpelnde Gefährt in der breiten Mainstreet von Salina einrollte.
Frauen und Kinder standen auf den Gehsteigen; die Männer kamen auf die Straße.
Bride führte die Overland vor die Poststation und machte den Leithengst genau dort fest, wo Norton ihn immer festgemacht hatte. Dann hob er den Kopf und blickte in das auf einmal sehr welk gewordene Gesicht des Posthalters.
»Ich habe den Wagen zwei Meilen von hier hinter der großen Wegschleife gefunden. Das linke Hinterrad war gebrochen.« Der Sheriff sagte es nicht ganz ohne Betonung.
»Und…?« kam es heiser von den Lippen des Postmasters.
»Von Norton habe ich nichts gesehen.«
Der Posthalter rieb sich mit zitternder Hand das Kinn. Dann winkte er einem Burschen, der vorn an der Hausecke stand.
»Schirr die Gäule aus, Tom, und versorge sie. Sie werden durstig sein.«
Der Sheriff trat auf den Vorbau neben den Alten.
»Wirklich nichts von Bill?« fragte Wilkins heiser. »Keine Spur?«
»Doch – eine Blutspur an den Zügelleinen, oben, wo Norton sich die Stoffgurte eingeflickt hatte…«
Der Overland Driver William Norton wurde nicht gefunden. Sheriff Bride und sieben Männer suchten die ganze Nacht hindurch die Strecke ab und ritten im Morgengrauen in die breite Mainstreet von Abilene ein.
Vor der Poststation stieg Bride aus dem Sattel.
Jimmy Degorey, ein flachsblonder Riese mit lächerlich kleinem Schädel, war gerade damit beschäftigt, das große Messingschild SALINA OVERLAND zu polieren.
»He, Sheriff Bride!« rief er und schob sich seinen viel zu großen Stetson aus der Stirn. »Was suchen Sie denn schon so früh bei uns?«
»Ich suche Ihren Driver William Norton.«
Degorey zog die hellen Brauen zusammen und hatte eine tiefe Falte in der Stirn stehen.
»William – Sie meinen Bill?«
»Yeah.«
»Was ist mit ihm?«
»Das wüßten wir auch gern, Jim. Er ist nicht in Salina angekommen.«
Der Posthalter von Abilene schluckte.
»He, das – das kann doch nicht wahr sein. Wo ist denn die Kutsche?«
»Ich habe sie gestern abend zwei Meilen vor Salina auf dem Weg mit geborstenem Hinterrad gefunden.«
»Zwei Meilen vor Salina mit geborstenem…, ja, und die Gäule?«
»Die waren dabei. Aber keine Spur von Norton.«
Degorey wischte sich vor Schreck mit dem Messingtuch die Nase und den Mund ab, spie dann aus und brummte:
»Aber – das soll der Teufel verstehen, das kann doch gar nicht sein. Bill ist hier pünktlich wie immer um elf abgefahren. Er hätte also um fünf drüben sein müssen…«
Bride sah die Straße, die von großen zweigeschossigen Häusern gesäumt wurde, hinunter.
Von einem breiten roten Backsteinbau hing das Schild SHERIFF weit in die Mainstreet.
»Ist Ferguson schon auf?«
Der Postmaster nickte.
»Yeah, ich habe den Sheriff schon vor einer halben Stunde drüben bei Mat Bleesen gesehen. Da holt er morgens seine Milch ab. Er muß im Office sein. Die alte Kate Bertholds ist auch schon drüben. Sie führt ihm ja den Haushalt, seit seine Frau gestorben ist.«
Bride ritt zum Office hinüber.
Sheriff But Ferguson war ein mittelgroßer schlanker Mann, der einen gepflegten Eindruck machte. Er hatte sich gerade sauber rasiert und wischte sich den Seifenschaum aus seinem etwas bläßlichen Gesicht, prüfte noch einmal den scharf anrasierten Schnurrbart und warf das Handtuch über eine Stuhllehne.
Bride hatte angeklopft und trat auf das laute »Herein!« Fergusons ein.
»Hallo, But!«
»Jack? Ja, was suchst du denn schon um die Hühnerzeit in Abi-lene?«
Jack Bride berichtete dem Kollegen das, was sich ereignet hatte.
But Ferguson zog sich seine Weste an und krempelte die Hemdsärmel hoch.
»Das wird sich doch aufklären. Der Driver ist offenbar vom Wagen gestürzt. Die Gäule sind möglicherweise weitergelaufen und haben die Karre so strapaziert, daß das Rad gebrochen ist…«
Bride schüttelte den Kopf. »Das ist keine Erklärung, But. Natürlich ist dem Driver etwas passiert, fragt sich nur, was?«
Ferguson winkte ab und ließ sich am Tisch nieder.
»Setz dich erst mal hin. Ihr da drüben in Salina seht immer gleich Gespenster.«
»Gespenster?« fragte Bride ernst. »Wir sehen im Gegenteil etwas nicht, was wir gern sähen: nämlich den Overland Driver.«
»Vielleicht hat er Nasenbluten gehabt und ist…«
»Was ist er? Davongelaufen? Um sich die Nase auszuschnaufen? Wohin denn? Vielleicht nach McPherson hinunter oder nach Concordia hinauf? No, But.« Und dann sprach Sheriff Bride das aus, was Ferguson nicht hören wollte: »Die Overland ist überfallen worden!«
Der Sheriff von Abilene setzte die eben angehobene Kaffeetasse mit einem Ruck wieder ab.
»Überfallen worden! Unsinn! Wer soll sie denn überfallen haben. Seit anderthalb Jahren herrscht endlich Ruhe in der Gegend. Seit die Billinger-Bande ausgeräuchert worden ist, haben wir keinen Schuß mehr in der Stadt gehört…«
Bride ließ sich auf einen Hocker, den ihm die Frau hingeschoben hatte, nieder und streckte die Beine weit von sich.
»Offenbar aber gibt es einen Burschen, der zu der Ansicht gekommen ist, daß es lange genug still war in der Gegend. Ich bleibe dabei: Die Overland ist überfallen worden!«
Zwei Stunden später wußte es die ganze Stadt.
Auch in Salina wußte es jeder.
Die Angst, die früher über diesem heißen Landstrich gelegen hatte, und die sich scheinbar mit den Billingers davongemacht hatte, war wieder zurückgekehrt. Sie nistete sich in die Häuser ein, geisterte durch die Straßen und sorgte dafür, daß die Menschen wieder unter jenem Gefühl lebten, das ein halbes Jahrhundert lang neben ihnen hergelaufen war.
Jimmy Degorey fuhr die Postkutsche.
Der neununddreißigjährige Postmaster von Abilene war dem alten Wilkins in Salina unterstellt, da dieser die Salina Overland Company leitete. Degorey war von seinem neuen Job nicht eben begeistert, vor allem, da er seine schöne, bequeme Station in Abilene mit dem windigen heißen Kutschbock vertauschen mußte, auf dem vor wenigen Tagen erst sein Vorgänger verschwunden war und nichts als eine winzige Blutspur hinterlassen hatte.
Die Posthalterei der Company in Abilene fand rasch einen neuen Mann, den siebenundzwanzigjährigen ehemaligen Bahnarbeiter Gordon Felbert.
Genau um elf Uhr am Vormittag nahm Degorey die Zügel auf.
Um elf Uhr sieben hatte er Abilene hinter sich.
Und neun Minuten nach fünf kam er in Salina an.
Der alte Wilkins stand auf dem Vorbau. Er hatte seine Uhr in der Hand.
»Hallo, Jim. Ganz gut für den Anfang.«
»Bin ich zu spät?«
»Neun Minuten. Aber das sagt nichts. Du kennst die Strecke doch nicht so wie Norton sie kannte, und vielleicht mußt du dich auch noch mehr an die Pferde gewöhnen…«
Der ersten Fahrt waren Jack Bride und But Ferguson, jeder im Abstand von fast einer halben Meile südlich und nördlich der Fahrstraße, gefolgt. Das hielten die beiden Gesetzesmänner drei Tage so. Dann gaben sie es auf. Andere Aufgaben riefen nach ihnen. Schließlich waren sie nicht dazu da, den Begleitschutz für die Overland abzugeben.
Am vierten Tag fuhr Jimmy Degorey allein.
Genau um elf verließ er die Station in Abilene. Der junge Gordon Felbert reichte ihm noch die Hand zum Abschied.
»Mach’s gut, Jim!«
»All right, bis dann…«
Das waren die letzten Worte, die je ein Mensch von dem Overland-Mann Degorey gehört hatte.
Die Kutsche lief noch vier Minuten vor der Zeit in Salina ein.
Der alte Wilkins sprang verdutzt von seinem Schreibtisch hoch, als er das Poltern hörte, blickte zur Uhr und meinte:
»Damned, entweder geht die Uhr jetzt falsch, oder Jim ist tatsächlich noch schneller als Bill. Das hätte ich allerdings für unmöglich gehalten.«
Er trat auf den Vorbau – und blieb wie angenagelt stehen.
Der Kutschbock war leer.
Schweißtriefend und sehr unruhig standen die Pferde vor dem Zügelbalken, schnaubten und wieherten.
Wilkins stürzte auf die Straße.
Dann riß er den Schlag der Kutsche auf.
Leer. Keine Passagiere und keine Postsäcke.
Er kletterte auf den Kutschbock.
Nichts.
Mit müden Schritten ging der alte Overland Chief hinüber zum Sheriffs Office.
Jack Bride war nicht da. Er hatte auf einer nahegelegenen Ranch zu tun. Da waren in der vergangenen Nacht zwei Pferde weggekommen.
Als Bride in die Stadt zurückkam, fand er vor der Overland Station einen Menschenauflauf.
Die Augen des Sheriffs wurden hart, als er mit dem alten Wilkins gesprochen und die Kutsche in Augenschein genommen hatte. Er stieg gar nicht erst vom Pferd, sondern wandte das Tier und sprengte in voller Karriere nach Osten davon.
Und als er spät am Abend zurückkam, war sein Gesicht düster.
Wilkins nagte an seiner Unterlippe.
»Nichts?«
»Nichts!«
Es war alles wie bei Bill Norton gewesen; nur, daß Jimmy Degorey nicht einmal eine Blutspur hinterlassen hatte. Er war wie vom Erdboden verschwunden.
Die Angst in den beiden Städten wuchs.
Und niemand wollte die Overland mehr kutschieren.
Es war ja nicht nur die Verbindung zwischen den beiden größeren Städten, die jetzt plötzlich abgeschnitten war – von Salina aus führte eine weitere Linie nach Ellworth hinüber, weiter westlich nach Russell, Hays Grainfield und Oakley. Und von Abilene aus ging die wichtige Straße nach Junction City und Topeka hinüber bis nach Lawrence. Mitten in dieser Kette fehlte jetzt ein Glied.
Und nirgends war ein Mann zu finden, der dieses Glied wiederherstellen wollte.
Die acht Wechselpferde standen im Corral der Salina Overland und sandeten.
Die Company erhöhte den Sold für den neuen Driver. Aber es fand sich keiner, der den gefährlichen Job annehmen wollte.
Sheriff Bride hatte die beiden Meldungen nach Topeka gesandt, und Jeff Wilkins’ Berichte lagen auch bereits dem Boß der Salina Overland, Mister Tim Callaghan vor. Da das mittlere Kansas diese Verbindung jedoch lebensnotwendig brauchte, unternahm die Company weitere Anstrengungen, an einen neuen Driver zu gelangen.
Eines Vormittags meldete sich bei Wilkins im Office ein junger hartgesichtiger Bursche, der den Job übernehmen wollte, von dem er unten in McPherson gehört hatte. Der alte Postmaster war hocherfreut und zahlte dem Burschen gleich den halben Lohn im voraus aus.
Der junge Hunter, so hieß der Mann, war verblüfft.
»He, das lasse ich mir gefallen. So einen Job habe ich schon lange gesucht…«
Als er drüben in Websters Bar seinen Einstand mit sich selbst feiern wollte, fanden sich ein paar von jenen Leuten ein, die sich einen Drink nicht entgehen lassen konnten.
Zwei Stunden später erschien Ben Hunter wieder bei Wilkins im Bureau.
Er war angetrunken und blaß. Mit zitternder Hand legte er dem Boß das Geld wieder auf den Tisch.
»Thanks, Mister Wilkins, aber… aber ich habe es mir überlegt: Ich kann den Job doch nicht annehmen, da ich…, erstens bin ich ja Cowboy und verstehe nichts von der Overland, und zweitens hatte ich einem Rancher oben bei Concordia schon zugesagt, in die Crew einzusteigen. Ich bin Weidemann, das müssen Sie verstehen. Und die Bucks, die ich vorhin drüben vertrunken habe, die habe ich aus meiner Tasche wieder zu dem Geld gelegt. Nehmen Sie es mir bitte nicht übel, aber…«
Wilkins sah ihn an. »All right, Hunter«, sagte er nur, dann schob er das Geld wieder in die Kasse.
Der Bursche drückte sich hinaus.
Jeff Wilkins wußte, was geschehen war, irgendein Schwätzer hatte dem jungen Mann von den Zwischenfällen auf der Strecke nach Abilene erzählt.
Das gleiche ereignete sich noch dreimal.
Dreimal nahmen die Männer den Job – und dreimal kamen sie noch vor dem ersten Start in das Bureau der Salina Overland Company und gaben ihre Bucks unter irgendwelchen fadenscheinigen Vorwänden zurück.
Der weißhaarige Tim Callaghan saß niedergeschlagen in seinem Wohnzimmer und las die Briefe durch, die er aus Topeka in seiner Sache bekommen hatte.
Haben Sie nur Geduld, Mister Callaghan, wurde ihm von einer Stelle des Gouverneurs geschrieben, es wird sich bald ein wackerer Mann finden, der die Zügel wieder in die Hand nehmen wird…
Es fand sich kein wackerer Mann. Niemand fand sich für den Höllenjob, wie die Leute ihn nannten.
Well, man war seines Lebens nirgends hundertprozentig sicher in diesem Land, und ganz gewiß gab es eine Menge besonders gefährlicher Berufe. Auch ein Cowboy hatte nichts zu lachen, konnte jeden Tag und jede Nacht mit einem Rustlerüberfall rechnen, wobei er sein Leben aufs Spiel setzte… aber so ein Job, auf dem gleich zweimal hintereinander zwei Overlandkutscher verschwunden waren, den mochte doch niemand haben.
*
Neun Tage nach dem Verschwinden Jimmy Degoreys kam eine Militärpatrouille aus Topeka nach Salina. Ein schnauzbärtiger Sergeant und fünf Blaujacken hatten den Auftrag bekommen, »die Geschichte zu untersuchen«. Die Soldaten durchstreiften eine volle Woche lang die Umgegend der beiden Städte, vor allem die Umgegend von Salina – hatten aber keinen Erfolg.
Von irgendwelchen Banden war nichts zu entdecken gewesen. Und keine Spur von den beiden verschwundenen Fahrern.
Die Soldaten feierten in Vaughams Saloon einen geräuschvollen Abschied und machten sich wieder auf den Heimweg.
Sheriff Bride sah ihnen an dem Morgen, an dem sie die Stadt verließen, mit harten Augen nach.
»Die hätten sich den Ritt hierher ersparen können. Ich habe noch nie gehört, daß ein Militärtrupp ein Verbrechen aufgeklärt hätte.«
Wilkins und der Major, Mister Dufrany, standen neben ihm.
Wilkins meinte:
»Und was soll jetzt geschehen?«
Bride zog die Schultern hoch und ließ sie resigniert wieder fallen.
Der Bürgermeister fand: »Vielleicht sollte der Lohn für den Driver erhöht werden…«
Mister Callaghan war auch dazu bereit.
Aber auch diese Maßnahme hatte keinen Erfolg. Mittlerweile hatte sich die Story von der Teufelsstrecke Salina – Abilene zu einem fürchterlichen Gerücht zusammengeballt, das auch den härtesten Burschen abschreckte.
Allein, die Linie mußte wieder auf die Beine gestellt werden, koste es, was es wolle. Das jedenfalls meinte die Regierung.
Mister Callaghan schüttelte den Kopf.
»Koste es, was es wolle – ist Unsinn. So viel Geld bringt mir die Overland gar nicht ein. Die Passagiere zahlen nicht viel, und es gibt oft mehrere Tage hintereinander, wo tatsächlich kein Fahrgast in der Kutsche sitzt. Dann allerdings haben wir wieder Fahrten, bei denen wir den Andrang der Fahrgäste nicht bewältigen können und drei Kutschen für den Transport benötigten.«
»Aber die Post…?« meinte der alte Wilkins. »Die muß doch befördert werden.«
Callaghan nickte.
»Natürlich ist es ein Unding, daß die Post hier mitten in Kansas nicht mehr befördert werden kann, damned, wann wird das endlich ein zivilisiertes Land werden. Drüben in Topeka schwingen sie große Reden von ständigem Fortschritt und von einem gewaltigen Vormarsch des Gesetzes, aber in Wirklichkeit sieht es doch noch verdammt trostlos damit aus. Sie sollen einmal herüberkommen, die Herren aus Topeka, um sich von diesem Fortschritt zu überzeugen.«
Bride winkte ab.
»Die werden sich schwer schonen, weil sie genau wissen, wie trostlos es hier noch bestellt ist.«
In Websters Bar saßen die Männer vom Bürgerrat zusammen. Der kleine Eggers, ein deutscher Emigrant, meinte besonnen:
»All die Schreiberei nach Topeka hilft so wenig wie unser Jammern. Zounds, wir müssen uns eben selbst helfen.«
»Yeah«, stimmte Wilkins bei. »Fragt sich nur, wie?«
Eggers schnäuzte sich geräuschvoll die Nase.
»Wir müssen uns eben bemühen, einen Mann zu finden, der keine Angst hat, die Kutsche zu fahren.«
»Prächtig«, meinte der Sheriff spöttisch. »Als ob wir nicht seit zwölf Tagen nichts weiter tun als das!«
»So meinte ich das nicht«, meinte der kleine Eggers. »Wir müssen nicht einfach einen Mann suchen. Damit werden wir freilich nichts.«
Der Major beugte sich vor. »Wollen Sie uns das nicht etwas näher erklären, Eggers?« brummte auch er, nicht ohne Spott.
»Yeah, das will ich«, entgegnete der Kleine. »Ich habe da einen Gedanken, aber ihr werdet ihn ganz sicher verrückt finden.«
»Raus mit der Sprache!« forderte Callaghan ihn auf, während er auf seiner längst erkalteten Virginia herumkaute.
Eggers druckste herum. »Ihr wißt ja, daß ich eine Zeitlang in Texas war, ehe ich hier heraufkam…«
»Ja, das wissen wir. Und? Weiter?« knurrte der Sheriff.
Eggers nahm einen Schluck aus seinem Glas.
»Wenn da meinethalben ein Rancher etwas mit einem anderen hatte und nicht mit ihm fertig wurde, kratzte er ein paar Dollars zusammen und ließ einen Revolvermann kommen.«
Revolvermann!
Da war das Stichwort gekommen. Das Wort, an das der alte Wilkins schon seit Tagen dachte, mit dem der weißhaarige Overland Chief Callaghan sich schon vertraut gemacht hatte und an das sogar Sheriff Bride seit dem vergangenen Abend gedacht hatte. Trotzdem knurrte der Gesetzesmann jetzt:
»Einen Coltman! Soweit sind wir also gekommen, so steht es also in Kansas um das Gesetz, daß eine Stadt wie Salina einen Schießer rufen muß, um ihre Overland wieder fahren lassen zu können.«
Einige Augenblicke war es still. Dann wandte sich der vierschrötige Blacksmith Harry Cleveland an Bride. In bärbeißigem Ton erkundigte er sich:
»Haben Sie einen anderen Vorschlag, Sheriff?«
Jack Bride hatte natürlich keinen anderen Vorschlag. Er wußte so gut wie die anderen, daß dies der letzte Ausweg war, der der Salina Overland noch blieb.
Die Frage des Schmiedes hatte für den Vorschlag des kleinen Deutschen entschieden.
Die Stadt Salina war also bereit, einen Revolvermann kommen zu lassen.
Bride wandte sich an Eggers.
»Da Sie den Vorschlag gemacht haben, Mister Eggers – müssen Sie ihn auch zu Ende führen. Wen wollen Sie kommen lassen?«
In der Schenke herrschte gespanntes Schweigen.
Aber die Männer wurden enttäuscht. Der kleine Joseph Eggers zog die Schultern hoch.
»Ich weiß nicht. Ich kenne keinen Revolvermann. Damit müßte sich der Sheriff doch eigentlich besser auskennen.«
Bride preßte heiser durch die Zähne:
»Ich kenne auch keinen, den ich der Stadt empfehlen könnte. Oder hat hier jemand den Wunsch, daß ich rüber ins Office gehe, um in meinen vergilbten Steckbriefen nachzuwühlen? Ihr braucht das nur zu sagen, Gents. Ich werde es tun. Es ist ja meine Pflicht, zu helfen. Aber das sage ich euch: Es ist auch das letzte, was ich in meinem Amt als Sheriff für Salina getan haben werde.«
Der Major winkte ab.
»Wer verlangt denn so etwas von Ihnen, Bride. Niemand hier wird wünschen, daß ein Bandit mit der Sache beauftragt wird.«
Wieder war es der kleine Eggers, der sich einschaltete.
»Well, Gentlemen, ich bin erst ein paar Jahre hier in diesem Land, aber ich weiß so gut wie ihr, daß nicht alle Männer, hinter denen ein Steckbrief hergejagt wurde, Verbrecher sein müssen. Bei uns unten in Panhandle gab es einen Rancher namens Baer, der tyrannisierte die ganze Gegend. Niemand kam gegen ihn auf, nicht einmal der Sheriff. Und wer gegen Baer war, hatte einen Feind, wie er ihn sich unversöhnlicher nicht denken konnte. Der Rancher sorgte dafür, daß jeder, der sich ihm widersetzt hatte, als ein Feind des Gesetzes hingestellt wurde. Ich erinnere mich da an einen Burschen namens Larkin. Er war sogar eine Zeitlang Vormann in Daniel Baers Crew.
Dann paßte der lange Larkin dem Rancher eines Tages nicht mehr. Sie bekamen Streit, und der Cowboy ging. Weil er das tat, ohne Baer danach zu fragen, ließ der Viehzüchter ihn wie einen Verbrecher verfolgen. Ich habe solche Sachen öfter erlebt, Männer.«
Nach diesen Worten war es fast eine volle Minute still.
Dann stand Jack Bride geräuschvoll auf.
»All right.« Er sah den Major an. »Sie haben also auch nichts dagegen, Mister Grain, daß ich den Retter in meiner Schublade suche.«
Der Major zuckte die Schultern.
»Ich weiß nicht, Sheriff, was ich dazu sagen soll, aber mir scheint, daß das, was Mister Eggers sagt, nicht ganz unrichtig ist.«
Da ließ der Blacksmith seine schwere Faust polternd auf die schwere Tischplatte fallen.
»Ist es denn wirklich nötig, daß Bride in den Steckbriefen nachkramen muß? Ich mache einen Vorschlag, Gents. Ihr alle habt doch sicher schon von Jonny Lee gehört.«
Ein Sturm der Entrüstung ging durch die Bürgerversammlung.
»Jonny Lee. Das kann doch nicht Ihr Ernst sein, Cleveland, uns diesen Schießer hier andrehen zu wollen. Der Bursche hat doch den denkbar übelsten Namen. Schießereien in Wichita, in Garden City, in McAllester und Burdett.«
»Na und?« knurrte der Schmied. »Einen Prediger suchen wir ja wohl auch nicht.«
Das Lachen, das den Tisch umbrandete, war nicht sehr echt.
Der Bürgermeister blickte den Schmied nachdenklich an.
»Yeah, Mister Cleveland. Ich habe schon von Jonny Lee gehört.«
Er wandte sich vorsichtig an den Sheriff.
»Was haben Sie gegen diesen Mann einzuwenden, Mister Bride. Können Sie sagen, daß er ein Verbrecher ist?«
»Verbrecher? Wie soll ich das sagen. Ein Verbrecher ist er vielleicht nicht, aber…«
»Haben Sie einen Steckbrief gegen ihn?« wollte Eggers wissen.
»Nein.«
»Wissen Sie das genau?« erkundigte sich der Major.
»Ja«, knurrte der Sheriff. »Das weiß ich genau.«
So beschloß denn der Bürgerrat von Salina, den nicht eben gut beleumdeten Revolvermann Jonny Lee kommen zu lassen. Daß ein solcher Mann auch nicht für einen doppelten Driverlohn arbeiten würde, war allen klar. Aber er sollte ja auch nicht für immer die Kutsche begleiten. Die Salina Overland setzte also dreihundert Dollar aus, und die Stadt, die an der Linie interessiert war, gab noch hundertfünfzig Bucks dazu. Vierhundertfünfzig Dollar also für den Revolvermann Jonny Lee.
Am Mittag des darauffolgenden Tages bereits wußte Sheriff Bride, wo sich der Coltman aufhalten sollte. In Great Brend, knapp achtzig Meilen von Salina entfernt.
Mister Callaghan gab eine Depesche an den Revolvermann auf.
Salina wartete.
An einem sonnenglühenden Vormittag ritt von Westen her ein Mann in die Stadt.
Er war mittelgroß, hatte ein hageres blasses Gesicht, trug trotz der glühenden Hitze einen grauen Tuchanzug, ein weißes Hemd und eine schwarze Schleife. Sein Gesicht war von Pockennarben besät. Die pulvergrauen Augen standen etwas zu nahe an der Nasenwurzel und verliehen diesem Antlitz etwas Unangenehmes. Unstet flogen die stechenden Augen umher.
Vor der Overlandstation machte er halt, rutschte aus dem Sattel, band sein Pferd am Zügelholm fest und betrat Jeff Wilkins’ Bureau.
Der Postmaster blickte auf.
Verwundert musterte er den gutgekleideten Fremden. Und als er einen Blick in seine kühlen Augen geworfen hatte, spürte er einen Schauder über sein Rückgrat kriechen.
»Sie wünschen?«
»Hier ist doch die Overland-Station?«
»Yeah, Mister. Aber es tut mir leid. Die Linie ist zur Zeit – sie ist stillgelegt – weil – also, es sind da ein paar Schwierigkeiten, eh…«
Der Fremde warf seinen Hut auf einen Wandhaken, ließ sich auf den Schemel vor Wilkins’ Schreibtisch fallen und sagte schnarrend:
»Ich bin Jonny Lee.«
Der Postmaster zuckte zusammen.
»Jonny Lee?« Aus weit offenen Augen musterte er den Fremden. Das sollte der berüchtigte Coltman Jonny Lee sein? Unvorstellbar. Er hätte den Mann allenfalls für einen besseren Handelsvertreter, vielleicht auch noch für einen reisenden Gambler gehalten, niemals aber für einen so bekannten Revolvermann.
»Yeah«, erwiderte der Schießer. »Sie haben mir eine Nachricht nach Great Brend geschickt. Hier bin ich!«
Wilkins schluckte. Dann stand er auf. »Well, Mister Lee. Dann muß – dann heiße ich Sie also willkommen. Mein Name ist…«
»Tut nichts zur Sache!« unterbrach ihn der Coltman schroff.
Wilkins schluckte. »Ja, was ich also sagen wollte…«
»Um was handelt es sich?« unterbrach ihn der Schießer wieder.
Wilkins rieb sich nervös das Kinn.
»Ich werde den Sheriff holen…«
Kaum hatte er diesen Satz ausgesprochen, als der Revolvermann auch schon wie von einer Feder geschnellt hochfuhr. Seine Rechte kroch unter den Jackenaufschlag, wo der Postmaster zu seiner Verblüffung einen großen Revolverkolben aus einem Lederhalfter herauslugen sah.
»Verstehen Sie doch, Mister Lee. Die ganze Stadt hat Sie rufen lassen. Und Mister Bride kann Ihnen die Sache am besten erklären.«
»Wer ist Bride?«
»Der Sheriff…«
»Muß der damit zu tun haben?« forschte der Revolvermann barsch.
»Muß – nein, das heißt, Mister Bride weiß am besten Bescheid.«
Der Coltman kratzte sich hinterm rechten Ohr.
»Merkwürdig. Ich habe ja schon eine Menge komischer Dinge mitgemacht. Aber daß mich ein Sheriff, ausgerechnet ein Sheriff, in eine Sache einweihen soll! Um wen geht es denn? Ist er dem Sheriff im Weg?«
Jetzt erst begriff der Overland-Mann. Der Schießer glaubte einen seiner gewöhnlichen Aufträge zu bekommen, wo er einen Mann für einen anderen aus dem Wege zu räumen hatte.
Wilkins sah in die grauen Augen Lees und hatte wieder das unangenehme Schaudergefühl auf dem Rücken.
»Die Sache liegt hier anders.«
»Was heißt anders«, unterbrach ihn der Revolvermann brüsk. »Sie liegt nie anders. Es ist immer das gleiche. Ich werde nur gerufen, wenn ein anderer Angst hat. Oder ist es etwa hier anders?«
»Nein, das heißt ja, aber – warten Sie, ich muß den Sheriff holen.«
Jonny Lee stand nicht einmal auf, als Jack Bride den Raum betrat. Er sah nur kurz auf und quetschte ein kaum verständliches »Hallo« durch die Zähne.
Der Sheriff tippte an den Hutrand.
Wilkins bot ihm einen Stuhl an.
Aber Bride lehnte mit einer kurzen Geste ab. Er sagte dem Schießer, um was es sich handelte.
Jonny Lee hörte sich die Sache schweigend an. Als der Sheriff geendet hatte, ließ er zwei lange Minuten verstreichen, warf dann den Kopf hoch und sah den Postmaster an.
»Wieviel ist drin?«
Der sah verzweifelt den Sheriff an.
Jack Bride preßte wütend durch die zusammengebissenen Zähne: »Vierhundert…«
Lee lachte heiser auf. Dann erhob er sich und nahm seinen Hut.
»Der Sheriff hat sich geirrt, Mister Lee!« rief Wilkins hastig. »Es sind vierhundertfünfzig!«
Der Schießer hatte schon den Türgriff in der Hand, als er sich noch einmal umwandte und sagte:
»Fünfhundert sind eine Basis.«
Wilkins lief ihm nach, packte ihn am Arm und stotterte:
»Mister Lee, warten Sie noch. Die Overland und der Bürgerrat haben das Geld zusammengelegt. Aber ich… ich werde sofort mit Mister Callaghan sprechen, er wird vielleicht die fünfzig dazulegen.«
»Vielleicht?«
»Bestimmt«, sagte der Sheriff da mit finsterer Miene.
Mister Callaghan legte die fünfzig dazu.
Wilkins hatte ihn in die Poststation geholt. Gebeugt stand der alte Mann da und legte das Geld auf den Tisch.
Lee blickte kurz auf die zerknitterten Scheine und schob sie dann dem Sheriff hin.
»Mister Bride wird das Geld solange festhalten. – Und nun die zweite Frage: Wer sitzt auf dem Kutschbock.«
Der Postmaster und Callaghan blickten einander bestürzt an. Über diese Frage hatten sie noch gar nicht nachgedacht. Himmel, ja, wer sollte auf dem Kutschbock sitzen? Selbstverständlich konnte der Revolvermann das nicht tun. Er sollte die Kutsche doch nur begleiten. Vom Kutschbock aus konnte er ohnehin nichts gegen einen Überfall unternehmen. Ganz davon abgesehen – konnte er überhaupt ein Vierergespann lenken?
»Ich werde die Overland fahren!« Der Sheriff hatte es gesagt.
Die drei anderen sahen ihn verblüfft an.
Wilkins stürzte auf den Sheriff zu und drückte ihm die Hand.
»Das wollen Sie wirklich tun, Mister Bride?«
»Wollen?« entgegnete der Sheriff rauh. »Es bleibt mir ja wohl in diesem Nest von Feiglingen nichts anderes übrig…«
Die Overland fuhr wieder.
Jack Bride, der Sheriff von Salina, saß auf dem Kutschbock, und der grauäugige Revolvermann ritt hinter der Kutsche.
Drei Tage lang.
Es geschah nichts.
Am Abend des dritten Tages standen die Männer in Wilkins’ Bureau.
Der Major ging unruhig auf und ab. »So kann es natürlich nicht weitergehen, Gents. In der Stadt ist der Teufel los. Vorgestern ist bei Lumbac Mehl gestohlen worden. Gestern haben sie unten in der Sägemühle Holz geklaut, und heute ist auf Walkers Hühnerfarm Ärger gewesen. Die Halunken von Salina nutzen die Gelegenheit weidlich aus. Es geht also nicht, daß der Sheriff noch länger aus der Stadt wegbleibt.«
Jack Bride lehnte an der Tür.
»Genauso habe ich mir das vorgestellt. Ist die Katze aus dem Haus, dann tanzen die Mäuse auf dem Tisch.«
Der Revolvermann hatte bisher schweigend auf seinem Hocker gesessen. Jetzt schob er sich eine Zigarette in den Mund und meinte: »Wie lange soll der Zauber überhaupt noch gehen?«
Ja, das war es. Der Revolvermann Jonny Lee konnte schließlich nicht bis in alle Ewigkeit hinter der Kutsche herreiten.
Die Männer sahen einander an.
Da erklärte der Postmaster: »Ich werde morgen auf der Overland sitzen.«
»Und mich? Brauchen Sie mich auch nicht dazu?« wollte der Schießer wissen.
»Yeah«, entgegnete Wilkins. »Die Halunken, die Norton und Degorey aus dem Weg geräumt haben, wissen natürlich genau, daß Sie und der Sheriff die Kutsche begleitet haben. Wenn ich morgen allein fahre, wissen sie das auch.«
»Damit wollen Sie also sagen, daß die Banditen hier in Salina sitzen«, fragte der Major.
»Ich weiß es nicht, Mister Grain, aber weshalb haben sie die Kutsche nie überfallen, wenn ein Mann dabei war, der mit dem Colt und mit dem Gewehr umgehen kann. Als Sheriff Ferguson und Mister Bride dabei waren, ging alles gut. Als jetzt der Sheriff mit Mister Lee fuhr, ging wieder alles gut. Mir kann doch niemand einreden, daß das Zufall ist.«
Mister Callaghan war dagegen, daß der alte Postmaster wieder selbst auf den Kutschbock kletterte, den er vor sieben Jahren verlassen hatte, als Bill Norton den Job übernahm. Aber die Männer hatten ja keine Wahl.
Drei Tage kutschierte der alte Wilkins die Overland, und der Revolvermann Jonny Lee begleitete ihn.
Es geschah nichts.
»Ich hatte es vermutet«, meinte der Sheriff. »Die Bande rührt sich nicht. Solange Lee dabei ist.«
Und Jonny Lee hatte auch kein Interesse daran, noch länger für die fünfhundert Dollar in der Staubfahne hinter der rumpelnden Overland durch die sonnenglühende Landschaft zu reiten.
Callaghan selbst würde solange den Dienst in der Station übernehmen.
»Wenn es erst klappt«, meinte der Overland-Boß, »dann findet sich auch bald ein neuer Driver.«
Jeff Wilkins sah ein, daß es ein nicht gutzumachender Fehler von ihm gewesen war, sich selbst einmal für den Job angeboten zu haben. Er war siebenundsechzig Jahre alt und ganz gewiß nicht mehr der Mann, der den Strapazen gewachsen war. Hatte er doch ohnehin in den drei Tagen immer über eine Stunde mehr gebraucht, als die Postkutsche sonst für diese Route benötigte. Die Passagiere, die wöchentlich regelmäßig die Kutsche benutzten, hatten gestern schon über die »langsame Fahrt« geschimpft.
Und der alte Wilkins wußte obendrein genau, daß seine Stunde geschlagen hatte, wenn er allein auf der Linie fuhr.
Es war spät in der Nacht. Schon elf durch. Drüben aus den beiden Saloons kam noch der Lärm hämmernder Orchestermusik.
Der alte Wilkins stand vor dem Hoftor der Poststation und blickte zum Grandhotel hinüber.
Im Obergeschoß des weißgetünchten Steinbaus brannte hinter einem Fenster noch Licht.
Es war das Zimmer des Revolvermanns Jonny Lee.
Der Postmaster überquerte die Straße, betrat den Hof des Hotels und kam ungesehen durch den Hinterausgang ins Haus.
Vorsichtig stieg er die Treppe hinauf, ging durch den Korridor und blieb vor der letzten Tür auf der linken Seite stehen. Er klopfte leise an.
Sofort war das scharfe Knacken eines Revolverhahns zu hören.
Wilkins zuckte zusammen. Dann vernahm er die Stimme des Schießers.
»Wer ist da?«
»Ich bin’s, Jeff Wilkins.«
Der Schlüssel wurde in der Tür gedreht, und dann sah der Postmaster den Coltman vor sich.
»Was wollen Sie noch?« fragte der Schießer rauh.
»Kann ich einen Moment mit Ihnen sprechen?«
»Was gibt’s?«
Wilkins stammelte: »Ich möchte es Ihnen lieber drinnen im Zimmer sagen.«
Der andere ließ ihn vorbei. Ohne ihm eine Sitzgelegenheit anzubieten, schnarrte er:
»Machen Sie es kurz. Ich möchte schlafen. Um fünf will ich im Sattel sitzen.«
Dem alten Overland-Mann stand der Schweiß in großen Perlen auf der Stirn.
»Mister Lee – ich bin gekommen, um Ihnen einen Vorschlag zu machen.«
»Wenn es sich nicht wieder um einen so verrückten Ritt hinter eurem Rumpelkasten handelt – reden Sie!«
Wilkins schluckte.
»Nein, Mister Lee. Ich wollte Ihnen etwas anderes vorschlagen. Ich bin zwar kein reicher Mann, aber ich habe seit meinem fünfzigsten Lebensjahr jeden Dollar auf die hohe Kante gelegt, den ich mir sparen konnte. Es ist nicht viel geworden, da ich ja nicht viel verdiene. Aber es reicht vielleicht doch, Ihnen zweihundert Dollar anzubieten.«
»Was soll ich dafür tun?«
»Wenn es noch dunkel ist, in die Kutsche steigen. Ich fahre ja schon um vier Uhr los, damit ich um elf die Passagiere aus Lawrence und Topeka in Abilene mit zurücknehmen kann.«
»Kapiere ich nicht«, schnarrte der Revolvermann.
»Ich werde es Ihnen erklären: Sie steigen in die Overland, so daß Sie niemand einsteigen sieht, und machen die Tour noch einmal mit. Hin und zurück, als Passagier. Ich werde in Abilene gleich auf den Hof fahren, so daß Sie dort ungesehen aus- und wieder einsteigen können. Wir haben fast eine Stunde Rast, die Pferde werden gewechselt und dann geht’s wieder zurück…«
Der Schießer rieb die Zeigefinger an den Daumenkuppen.
»Zweihundert Dollar – das ist verdammt wenig, Wilkins. Legen Sie noch hundert dazu!«
»Das kann ich nicht.«
»Well, dann fahren Sie allein. Gute Nacht.«
Wilkins schluckte.
»Well, ich werde versuchen, mir die hundert Dollar zu beschaffen. Meine Frau könnte ihren Bruder fragen, er arbeitet in der Sägemühle…«
Jeff Wilkins brachte das Geld für den habgierigen Coltman zusammen.
Lee stieg kurz vor vier in die Kutsche – und dann rollte das Gefährt aus der Stadt.
Unangefochten kam die Overland nach Abilene.
Und nach der kurzen Rast verließ die Postkutsche die Station in Abilene wieder.
Eine Frau und ein älterer Mann waren zugestiegen.
Der Mann erschrak, als er den düster dreinblickenden Passagier bereits in der Kutsche sitzen sah. Er ging zurück und rief Wilkins zu:
»He, fährt der da mit?«
Der Posthalter erbleichte.
»Wenn dieser Mensch mitfährt, dann bleibe ich. Der Mann ist ja unheimlich! Ich ersuche Sie, dafür zu sorgen, daß…«
Plötzlich hielt Jeremias Villiers in seiner Protestrede inne.
Er starrte auf den großen Revolver, den der unheimliche Fahrgast gezogen und auf ihn gerichtet hatte, ohne sich auch nur um einen Inch aus seiner dunklen Ecke in der Kutsche zu rühren.
»Steigen Sie ein!« herrschte er den Getreidehändler an.
Villiers zitterte am ganzen Leib, gehorchte aber doch.
Die Frau, die dem Schießer gegenüber schon Platz genommen hatte, wollte aufschreien, aber der Schrei war ihr in der Kehle steckengeblieben.
Villiers stieg auf zitternden knieweichen Beinen ein. Dann rollte die Overland aus der Mainstreet auf die offene Straße hinaus.
Villiers hockte stocksteif und schweißnaß auf seinem Platz.
Unentwegt starrte er den unheimlichen Passagier an.
Plötzlich brüllte er los:
»Es ist eine Affenschande. Da steigen die Banditen schon auf der Station ein!«
»Reden Sie keinen Unsinn!« zischte Lee ihn an.
»Unsinn? Wenn Sie kein Bandit sind, weshalb haben Sie sich denn schon auf dem Stationshof in die Kutsche gestohlen, he? Weshalb sind Sie nicht draußen zugestiegen, wo die anderen Passagiere auch zusteigen?«
Der Revolvermann zündete sich eine Zigarette an.
Da schrie die Frau auf einmal gellend los:
»Hilfe! Driver! Hilfe! Er ist ein Bandit! Er will uns umbringen! Zwei Menschen sind schon auf dieser Strecke auf grauenhafte Weise verstümmelt worden! Hilfe! Hilfe!«
Da nahm der Coltman seinen Revolver wieder aus dem Halfter.
»Halten Sie gefälligst Ihren Schnabel! Ich bin kein Bandit! Ich begleite die Overland nach Salina. Das ist alles. Mein Name ist Lee. Jonny Lee!«
Als Mister Villiers diesen Namen hörte, zuckte er zusammen wie unter einer Ohrfeige.
»Jonny Lee! Der Schießer Jonny? Um Himmels willen! Das ist ja ebenso schlimm. Was wollen Sie hier in der Postkutsche? Weshalb reiten Sie nicht…«
Der Revolvermann spannte den Hahn.
»Hört jetzt genau zu, ihr beiden Hähne. Ich habe euch gesagt, daß ich diese Overland begleite. Sie ist zweimal überfallen worden. Dreimal bin ich hinter ihr her im Staub als Begleitschutz geritten. Das hat die Banditen, die die Overland überfallen hatten und es höchstwahrscheinlich wieder wollen, von einem Angriff abgehalten. Möglicherweise. Deshalb sitze ich jetzt in der Karre drin. Glauben Sie ja nicht, daß es mir Spaß macht, in diesem rumpelnden Kasten durchs Gelände geschaukelt zu werden.«
Miste Villiers räusperte sich.
»So ist das also. Die Strecke ist also doch noch nicht sicher. Da war es also alles Schwindel, was die Topeka Post geschrieben hat. Na wartet nur, ihr Zeilenschinder, ich werde es euch heimzahlen. Da fahren wir also gewissermaßen als Lockvögel hier durch die Landschaft…«
»Halten Sie endlich Ihren Mund mit Ihrem albernen Geschwätz«, fauchte der Schießer.
Die beiden schwiegen.
Mit ängstlichen Gesichtern und leise zitternden Händen saßen sie auf ihren Plätzen und dachten beide das gleiche: Wären wir doch bloß schon in Salina.
Sengende Hitze lag auf dem Land. Das ausgedörrte kurze Gras schien von der Sonnenglut wie kurzgeschorenes Haar niedergedrückt worden zu sein.
Die Overland schaukelte Stunde um Stunde durch die Prärie.
Als sie die kleine Ansiedlung Solomon passierte, blickte der Revolvermann hinter dem zurückgeschobenen Vorhang zu der Schenke hinüber.
Fünf Pferde standen am Querbalken und ließen die Köpfe hängen.
Eines dieser Tiere war ein Tupfschimmel.
Jonny Lee dachte ganz sicher in diesem Augenblick nicht daran, daß er dieses Pferd so bald wiedersehen sollte.
Die rumpelnde Chaise hatte schon weit mehr als die Hälfte ihrer Fahrt hinter sich gebracht, als der Schießer plötzlich schmale Augen bekam. Er saß mit dem Rücken zur Fahrtrichtung und starrte hinaus in die Savanne.
Villiers, der ihm gegenübersaß, erschrak bis ins Mark.
»Was… ist passiert?« stammelte er heiser.
»Ich glaube, wir kriegen Besuch!« zischte der Schießer.
Da rutschte die Frau ans Fenster und sah hinaus.
Als sie die fünf Reiter sah, die vor einer flachen Staubfontäne in wilder Jagd von Nordosten her auf die Overland zujagten, fiel sie ohnmächtig zurück und rutschte vom Sitz.
Lee hob sie auf und herrschte den Getreidehändler an:
»Kümmern Sie sich gefälligst um Ihre Frau!«
»He, wie können Sie mir so was zumuten, Mann!« entrüstete sich der Trader. »Sie ist nicht meine Frau. Ich bin Junggeselle. Aber was gibt’s da draußen eigentlich zu sehen.«
Auch er schob sich ans Fenster.
Als Lee ihn am Rock zurückzerren wollte, fiel ihm der Trader schon entgegen.
Er war aschgrau im Gesicht.
»He, wir… kriegen ja tatsächlich Besuch!«
Jonny Lee hatte seine beiden Revolver gezogen und ließ die Trommeln rotieren.
Der Trader sah ihm mit bebenden Lippen und aus hervorquellenden Augen zu. Schließlich stammelte er:
»Glauben Sie denn, daß das nötig sein wird?«
»Ganz sicher!«
»Well!« Villiers nahm seine Reisetasche an sich und wühlte darin herum. Dann brachte er einen alten Armeerevolver zum Vorschein. Es knirschte und knackte, als er die Trommel rotieren ließ. Der Coltman lachte heiser auf.
»Was wollen Sie denn damit, Mann. Lassen Sie das Ding bloß nicht losgehen. Ich habe entschieden etwas dagegen, durch einen Blaujackencolt ausgepustet zu werden!«
Villiers wischte sich mit dem Ärmel den Angstschweiß von der Stirn. »Ich werde Ihnen beistehen. Wenn Sie sich nämlich einbilden, daß Sie fünf Banditen allein abhalten könnten, haben Sie sich sehr geirrt. Ich bin mit dabei.«
Plötzlich kam die Frau wieder zu sich. Zur Verblüffung der beiden Männer kramte sie einen kleinen zweischüssigen Derringer aus ihrer Tasche und hielt ihn in ihrer zitternden Hand.
Jonny Lee mußte plötzlich bellend lachen.
»He, das ist ja tatsächlich eine Verstärkung. Aufgepaßt, wenn die Bande bis auf zwanzig Schritt heran ist, feuern wir. Die Lady braucht sich überhaupt nicht sehen zu lassen, sie hält den Revolver einfach unten über das Fensterbord. Sie, Mister, nehmen den Platz über der Türplanke. Ich nehme das rechte Fenster.«
Rasch nahmen die drei Overlandpassagiere ihre Plätze ein.
Jonny Lee linste vorsichtig hinaus.
»Noch sind sie zu weit«, sagte er. »Halten Sie sich auch zurück, Mister Villiers. Die brauchen gar nicht zu wissen, daß wir ihr Annähern schon bemerkt haben.«
Lee sah den Tupfschimmel.
Heavens, die Bagage hatte sich also Solomon als Station ausgewählt, jedenfalls diesmal.
Noch wenigstens siebzig Yards trennten die Reiter von der Overland.
Da versagten der Frau plötzlich die Nerven. Ihr Revolver ging los.
Jonny Lee stieß eine Fluch aus. Dann brüllte er:
»All right, drauf also!«
Jetzt spie aus der rasenden Overland ein derart wildes Revolverfeuer, daß die Reiter ihre Tiere stoppten.
Hell and devils! Wieviel Männer waren denn da in der Kutsche!
Als der erste Schuß fiel, hatte Wilkins einen Höllenschrecken zu überstehen. Aber er tat das einzig Richtige: er trieb die Pferde zu noch schnellerer Gangart an. Mit jedem Yard kamen sie ja der Stadtgrenze von Salina näher, man würde die Schüsse hören…
Aber man konnte die Schüsse nicht hören.
Noch elf Meilen waren bis Salina zurückzulegen.
Jonny Lee lud seine Revolver neu auf.
»Laden!« schnarrte er.
Villiers starrte ihn an.
»Laden? Ja, glauben Sie denn allen Ernstes, daß ich auch noch Patronen mit mir rumschleppe! Wenn sechs Kugeln nicht reichen, mein Leben zu schützen, dann ist es sowieso sinnlos…«
»Keineswegs. Manchmal kann es die siebte Kugel sein, die einen rettet. Hier!« Er warf den Trader einige Patronen zu. Und für den Derringer hatte er auch Munition bei sich.
Villiers keuchte, während er nachlud:
»Mann, Sie sind ja eine reisende Pulverfabrik!«
Jonny Lee winkte ab.
»Ich glaube, das reicht.«
Villiers hatte nicht begriffen.
»Was reicht?«
»Der kleine Feuerzauber. Die Gentlemen haben ihre Gäule angehalten und schieben ihre Hüte zurück. Ein sicheres Zeichen dafür, daß sie offenbar ziemlich überrascht sind.«
Der alte Wilkins brachte die Overland heil über den Weg. Als er endlich in der Ferne die ersten Häuser von Salina auftauchen sah, stieß er einen hellen Jubelruf aus.
Sie waren gerettet, bis hierher wagte es kein Bandit, der Postkutsche zu folgen.
Mister Callaghan stand auf der Treppe und begrüßte den alten Driver herzlich.
»Na also, Jeff, da sind Sie ja. Und ganz ohne jede…« Er brach ab, da er den Revolvermann aussteigen sah.
Lee blieb neben dem Posthalter stehen. »Mein Geld!« schnarrte er.
Der Alte reichte ihm einen Lederbeutel.
Jonny Lee, der vom Revolverhandwerk lebte, grinste und wog den Beutel in der Hand.
»Ich bin ein Gentleman, Wilkins, ich werde nicht nachzählen.«
Damit stakste er zum Hotel hinüber.
Callaghan sah ihm nach. Dann wandte er sich an Wilkins:
»Sie haben ihn noch einmal mitgenommen?«
»Yeah…«
»Und selbst dafür bezahlt?«
»Was blieb mir weiter übrig? Glauben Sie, ein solcher Mensch täte etwas umsonst?«
Da krochen die beiden Passagiere aus dem Wagen. Mister Villiers war kreidebleich. Der Schock war bei ihm jetzt erst gekommen.
Die Frau entdeckte auf der anderen Straßenseite den Sheriff und rannte schreiend auf ihn zu.
»Hilfe! Sheriff! Wir sind überfallen worden. Wir haben uns nur durch unsere Revolver retten können. Es war furchtbar…«
Callaghan zog die Brauen zusammen. »Was ist los…?«
Wilkins hüstelte.
»Ist ja alles gut abgelaufen.« Damned! Er hatte eigentlich gar nicht über die Geschichte sprechen wollen, aber nachdem die Frau alles ausposaunt hatte und Villiers ihr auf leicht zitternden Beinen zum Sheriff hinüber folgte, blieb dem alten Overlandmann ja nichts weiter übrig.
»Well, Lee hat sie zurückhalten können…«
»Sie? Wen sie?« stieß Callaghan erschrocken aus.
»Die fünf Reiter, die der Kutsche folgten.«
Und als Wilkins jetzt berichten wollte, hatte er plötzlich ein sonderbares Gefühl.
He, wie war denn das? Hatten die fünf Reiter die Overland denn überhaupt angegriffen? Nein! Die waren ja gar nicht dazu gekommen. Lee hatte das Trommelfeuer auf sie eröffnet, noch ehe sie auf Schußnähe an die Postkutsche herangekommen waren. Heavens, das war es.
Und der Overlandmann Jeff Wilkins sprach das aus, was er dachte.
Tim Callaghan schüttelte seinen Kopf.
Der Sheriff, der herangekommen war und die letzten Worte des Postmasters vernommen hatte, blickte die Straße hinunter.
»Hoffentlich hat er da nichts mit der Sache zu tun?« sagte er rauh.
Callaghan und Wilkins blickten auf.
»Croydon?« entfuhr es dem Postmaster.
»Yeah«, sagte Bride zischend, »Lester Croydon!«
Callaghan nahm seine goldgeränderte Brille ab und suchte die Reiter zu erkennen.
»Yeah, es ist Croydon mit seinem Vormann und ein paar Weidereitern. Was sollte der damit zu tun haben?«
Wilkins hatte bis jetzt noch nichts gesagt. Er starrte nur auf die fünf Reiter.
Jonny Lee hatte das Hotel noch nicht betreten. Er stand auf dem Vorbau, hatte den Blicken der Männer vor der Station den Rücken zugekehrt und zählte das Geld, das er von Wilkins bekommen hatte.
Als er jetzt den Hufschlag hörte, wandte er den Kopf.
Er sah nur den Tupfschimmel und verschwand blitzschnell im Hoteleingang.
Die Reiter waren herangekommen und banden drüben vorm Sheriffs Office ihre Tiere an.
Der Mann, der aus dem gelben Sattel des Tupfschimmels rutschte, war untersetzt, breitschultrig, hatte einen kantigen Schädel, der fast halslos auf dem mächtigen Rumpf saß. Sein Gesicht war sonnenverbrannt und schien doch durch das weißblonde Haupt- und Brauenhaar irgendwie fahl zu wirken. Die Augen waren von einem eigenartigen flimmernden Grün; der Mund hart und breit, die Nase kurz und stumpf. Weit schob sich das Kinn vor.
Er hatte den bräunlichen Melbahut an einem Band hinter dem Nacken hängen. Er trug Weidereiterkleidung. Und wären nicht die zitronengelben Wapitihandschuhe gewesen, deren Ende er über den Handrücken geschlagen trug, so wäre eigentlich nichts Besonderes an diesem Mann gewesen.
Langsam überquerte er die Straße und hielt auf die Männer neben der Overland zu.
Drei Schritte hinter ihm kam ein wahrer Klotz von einem Mann. Er war sicher fast einsneunzig, sehr breitschultrig und hatte ein finsteres Gesicht. Die Oberlippe schien fast unter der nach unten gezogenen Nase zu kleben.
Der Mann mit den Wapitihandschuhen tippte an den Hutrand.
»Evening. Hallo, Mister Callaghan! – Sheriff, kann ich mit Ihnen sprechen?«
»Natürlich, Mister Croydon. Was gibt’s?«
Wilkins preßte die Lippen hart aufeinander und sah dem Rancher in die Augen, als könne er ihn hindern, etwas zu sagen, das ihm, dem alten Overlandmann, Unheil bringen mußte.
Der Viehzüchter schob den Unterkiefer vor und deutete mit dem Daumen auf die Postkutsche.
»Hören Sie zu, Sheriff. Ich ritt von Solomon aus in Richtung auf mein Vorwerk unten am Blue Water zu, wobei ich ja die Route der Overland kreuzen muß. Etwa zehn oder elf Meilen östlich von hier wurde ich aus diesem Rumpelkasten da beschossen. Wenigstens zwanzig Schüsse sind auf mich und meine Männer abgegeben worden…«
Wilkins hatte den Kopf gesenkt. Ein leiser, pfeifender Ton kam über seine Lippen. Dann wandte er sich um und wollte in die Poststation hinauf.
»Mister Wilkins!« rief ihm der Sheriff nach. »Ich glaube, hier gibt es etwas aufzuklären.«
Der Postmaster wandte sich um. Sein Blick senkte sich in die grünen Augen des Ranchers. Langsam kam er an den Rand des Vorbaues.
»Yeah, kann sein, Sheriff. Jonny Lee hat die Aufgabe gehabt, die Overland zu bewachen. Vielleicht hat er ein bißchen früh gefeuert, aber…«
»Was soll das heißen?« donnerte der Rindermann.
»Na ja.« Wilkins hob die Arme in einer hilflosen Geste. »Ich meine, daß er vielleicht länger hätte warten müssen…«
Croydon machte drei stampfende Schritte nach vorn, stemmte die Hände in die Hüften und stieß den Kopf vor wie ein gereizter Stier.
»Mister Wilkins. Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich etwas genauer ausdrücken würden!«
Da mischte sich Callaghan ein. »Mister Croydon, Sie müssen den Postmaster verstehen. Er hat noch die beiden Überfälle in den Knochen, von denen Sie ganz sicher auch gehört haben werden. Yeah – und dann saß er also auf dem Kutschbock und da kommen fünf Reiter hinter der Kutsche her…«
»Stop, Mister Callaghan!« fauchte der Viehzüchter. »Erstens möchte ich mir verbitten, daß mich dieser Mann für einen Banditen halten kann, und zweitens kamen wir nicht hinter der Kutsche her, sondern kreuzten nur im spitzen Winkel ihren Kurs. Das ist ein gewaltiger Unterschied! Und wenn Ihre Overland schon so weit herunter ist, Mister Callaghan, daß Ihre Driver eine Ranch-Crew aus der Gegend mit einer Banditenschar verwechseln und das Feuer blindlings darauf eröffnen, dann sieht es ja traurig um sie aus…«
Das war die Sache mit Croydon.
Anstatt sie dem alten Wilkins Erleichterung gebracht hatte, hinterließ sie in ihm ein würgendes Gefühl, das der Verzweiflung und Erniedrigung entsprang.
Wie konnte es ihm auch passieren, in seiner panischen Angst, den im Lande gewiß nicht unbekannten Rancher Croydon und seinen düstergesichtigen Vormann Broncy mit einer Banditenschar zu verwechseln?
Aber im Grunde hatte er ja gar nichts gegen Croydon unternommen. Geschossen hatte Lee! Der – und der andere Passagier.
Dieser vertrackte Jonny Lee!
Als sich der Rancher nach langem Schimpfen in den Sattel gezogen hatte, rief er drohend:
»Wenn ihr soweit runter seid, daß ihr schon auf uns schießt, dann ist man ja seines Lebens nicht mehr sicher. Eins will ich euch noch sagen: Wenn das noch mal passiert, schießen wir zurück!«
Damit sprengte er auf seinem Tupfschimmel, gefolgt von dem klobigen Broncy und den anderen Cowboys davon.
*
Jeff Wilkins fand in dieser Nacht keinen Schlaf. Er glaubte, daß dieser Vorfall ihn vernichtet haben mußte. Croydon, wer kam denn schon gegen diesen Mann auf? Und wie hatte Lee auch einfach losfeuern können.
Mitten in der Nacht stand der alte Postmaster auf und ging hinaus.
Drüben im Hotel brannte noch Licht, im Zimmer des Revolvermannes.
Damned! dachte der Alte, ich werde ihn fragen, weshalb er geschossen hat, ohne… ohne was? Zounds! Auf was hätte er denn warten sollen? Er hielt doch die Croydons auch für die Bande. Sollte er mit dieser Vermutung auf den Angriff warten?
Trotz dieser Ansicht ging der Alte hinüber. Er kam ungesehen vom Hof hier ins Hotel und blieb oben vor Lees Tür stehen.
Unter der Ritze hindurch fiel der Lichtschimmer in den dunklen Korridor.
Wilkins klopfte.
Es rührte sich nichts.
Der Overlandmann hatte den Atem angehalten, weil er das Knakken des Revolverhahnes erwartete.
Aber es geschah nichts.
Wilkins versuchte es noch einmal.
Wieder nichts.
Das Klopfen war bereits so laut gewesen, daß man es im ganzen Haus hören mußte.
»Mister Lee!« Wilkins brachte seinen Kopf dicht an die Tür. »Mister Lee, kann ich einen Augenblick mit Ihnen sprechen! Ich – nein, nein, ich will das Geld nicht zurück. Ich möchte nur mit Ihnen über die unselige Geschichte reden. Bestimmt wird Croydon uns noch Ärger ma…«
Der Alte brach jäh ab. Er hatte das Auge unwillkürlich während des Sprechens ans Schlüsselloch gebracht. Und das Bild, das sich ihm da bot, ließ ihn verstummen.
Dann riß er die Tür auf.
Drüben auf dem Stuhl neben dem Fenster saß Jonny Lee.
Links in seiner schwarzen Weste steckte ein Messer.
Der Revolvermann war tot – erstochen worden!
Taumelnd fuhr der Alte zurück und starrte auf das grauenhafte Bild.
Am Boden lag der Revolver. Er mußte aus der Hand des Schießers gerutscht sein, als ihn der Tod überraschte. Und überrascht hatte ihn der Mörder ganz sicher.
Rechts lag auf der Bettkante der Hut des Coltmans. Und daneben – lag der braune Lederbeutel, den Wilkins dem Revolvermann gegeben hatte.
Mit einem Ruck löste sich der Overlandmann aus seiner Erstarrung, trat ins Zimmer und riß den Beutel an sich. Dann lief er hinunter, im Sturmlauf erreichte er das Sheriffs Office.
Jack Bride war sofort in den Stiefeln und kam an die Tür.
»Was sagen Sie da?« brach es heiser von seinen Lippen. »Aber Mann, das ist doch ausgeschlossen!«
Es war nicht ausgeschlossen. Wenige Minuten später stand Jack Bride vor dem Toten und sah mit harten Augen auf ihn nieder.
Jeff Wilkins ging auf schwankenden Beinen nach Hause.
*
Dann kam der nächste Tag. Es sollte der schwärzeste im Leben des greisen Overlandmannes Jeffrey Wilkins werden.
Gegen elf Uhr tauchten Tim Callaghan und der Sheriff bei ihm auf.
Wilkins sah seinen Boß an.
»Sie kommen wegen der Kutsche, Boß. Tut mir leid. Ich kann nicht mehr fahren. Ich…, nein, ich kann nicht mehr. Ich bin fast siebzig Jahre alt. Ich kann es nicht mehr. Und…«
Jack Bride stemmte die Fäuste in die Seiten.
»Wo ist das Geld, Mister Wilkins?« stieß er heiser hervor.
Der Alte prallte zurück.
»Das… das…«
»Das Geld, das Sie Lee gegeben hatten!«
»Ja – ich – habe…« Seine Rechte tastete zur Jackentasche. »Ich – es – ja, es lag da – und in meiner Verzweiflung…«
Das Gesicht des Sheriffs war graniten geworden. Rostig sprangen die nächsten Worte über seine Lippen:
»Kommen Sie mit, Wilkins!«
Der Postmaster schluckte. Dann flog sein Blick zu seinem Boß hinüber. Als er in dessen Augen auch nur Entsetzen las, schrie er auf:
»Aber was soll denn das? Sheriff! Sie glauben doch nicht etwa, daß ich…«
»Kommen Sie mit!« entgegnete der Sheriff rauh.
»Mister Callaghan!« Wilkins packte den Arm seines Chiefs und preßte ihn verzweifelt. »Boß, Sie werden doch nicht annehmen…«
»Was ich annehme, Wilkins, ist unwichtig. Sie hatten ihm Geld gegeben. Dann wurde er erstochen – und Sie haben das Geld wieder…«
Wilkins schlug sich mit der flachen Hand vor den Schädel.
»Well, es war Verzweiflung…«
»Also«, sagte der Sheriff rauh.
Wilkins’ Kopf flog hoch. In seinen Augen blitzte es auf.
»Nein! Ich habe ihn nicht getötet! Das andere, das mit dem Geld, das war Verzweiflung. Ich weiß es selbst nicht. Ich habe nicht einmal richtig darüber nachgedacht…«
»Kommen Sie mit, Wilkins!«
Um Mittag wußte ganz Salina, daß der greise Overlandmann Jeff Wilkins im Jail saß.
Mit keiner geringeren Bürde als einem Mordverdacht auf den gebeugten Schultern.
*
Und die Overland fuhr nicht mehr.
Die Tatsache, daß sie einen dritten Toten gefordert hatte, reichte hin. Daß der Schießer Jonny Lee von dem Postmaster selbst umgebracht worden sein sollte, fiel dabei wenig ins Gewicht. Jedenfalls war die alte Salina Overland den Menschen unheimlich geworden.
Zusammengesunken hockte der alte Wilkins im Jail. Und als Callaghan ihn einmal aufsuchte, um mit ihm zu sprechen, gab er seinem Chief, der ihn ja so schwer belastet hatte, keine Antwort mehr.
Die Stimmung in der Stadt war mehr als gedrückt. Es gab kaum einen Menschen, der dem alten Wilkins eine solche fürchterliche Tat zugetraut hätte. Nun sah er selbst dem Tod entgegen – dem Tod durch den Strick.
Denn daß der Mord an dem Revolvermann so bestraft werden würde, bezweifelte niemand in Salina.
Sheriff Bride lief mit finsterer Miene umher. Im Grunde konnte er jetzt noch nicht daran glauben, daß der Alte so etwas getan haben sollte. Aber die Verdachtsmomente gegen den Postmaster waren ja erdrückend.
Callaghan selbst, der den Verdacht fast ungewollt als erster ausgesprochen hatte, war sehr erschüttert. Fast ein halbes Menschenalter hatte Wilkins in seinem Dienst gestanden. Er hatte die erste Overland damals von Topeka nach Lawrence kutschiert, war dann mit in Junction City beim Aufbau der Station gewesen, war drüben in Abilene der erste Postmaster überhaupt – und dann mit Callaghan zusammen in das größere Salina gekommen, wo sie die Hauptstation der Overland aufgebaut hatten.
Eine Welt war auch für Tim Callaghan zusammengestürzt. Er war siebenundsiebzig Jahre alt, und die Overland war sein Lebenswerk. Eine harte Arbeit, die Linie aufzubauen. Damals hatte es noch sehr viele Wechselstationen gegeben.
Aber immer größer waren die Abstände geworden, die die Overland überbrückt hatte. Doch ohne die Strecke Salina-Abilene war die Overland tot.
*
Der kleine Eggers hockte in seiner Küche am Tisch und starrte in seine Tasse.
In der Herdnische stand die Frau und hantierte mit Töpfen herum. Sie wandte den Kopf und sah ihren Mann an.
»Was zerbrichst du dir den Schädel, Joseph. Du kannst ihm doch nicht helfen.«
»Sei still, Frau. Laß mich nachdenken.«
»Du denkst schon seit drei Tagen nach.«
»Ja, ich werde so lange nachdenken, bis ich es gefunden habe.«
Die Frau kam an den Tisch. Ihr Gesicht zwar zerfurcht vom Leid mancher harter Jahre.
»Joseph! Weshalb kümmerst du dich um die ganze Sache. Du sagst, es ist etwas faul da. Also, wenn Wilkins den anderen, den Coltman, tatsächlich nicht ermordet haben sollte – um so schlimmer, dann gibt es ja einen Menschen, der – nun ja – der noch frei herumläuft, und dem daran liegt, die Overlandmänner zu fällen.«
Eggers blickte auf und sah seine Frau verwundert an.
»Ja, Kate, genauso ist es.«
»Und wenn du dich da nun – ich meine…«
Joseph Eggers hatte seine Frau verstanden. Ein schwaches Lächeln lag auf seinem Gesicht.
»Keine Sorge, Frau, für mich interessiert sich noch niemand. Aber ich werde einen Weg finden. Das schwöre ich dir. Und hoffentlich finde ich ihn, bevor Richter Beverland den Alten an den Galgen gebracht hat.«
Richter Beverland war vor zwei Wochen nach St. Louis hinübergefahren und wurde jeden Tag wieder in der Stadt zurückerwartet.
Aber wenn die Overland nicht fuhr?
Der Richter war ein gebrechlicher alter Mann, der sich nicht mehr auf einen Pferderücken setzen konnte, und wie es zur Zeit mit privaten Eilkutschen stand, das war schlimm. Die Menschen hatten sich seit Jahren auf die Overland verlassen. Es gab praktisch weder in Abilene noch in Salina ein Unternehmen, das hätte einspringen können. Genaugenommen hätte es natürlich eine Reihe von Leuten gegeben, die rasch irgendwo einen Wagen aufgetrieben hätten, um das Geld in die eigenen Taschen zu bringen, das die Overland sonst gewann – aber diese Leute zogen heute den Kopf ein.
»Salina – Abilene? All thousand devils, da sollte der Satan selbst kutschieren!«
Deshalb war so rasch nicht mit dem Eintreffen des Richters in der Stadt zu rechnen.
*
Der kleine Eggers kam am Abend dieses Tages von der Arbeit nach Hause und ließ sich müde auf die Bank hinter dem großen Küchentisch nieder.
»Sind die Kinder schon im Bett?«
Die Frau nickte und stellte ihm wortlos sein Abendbrot hin.
Eggers rührte die Speisen und den Tee nicht an.
»Was hast du?« fragte seine Frau. »Du bist so spät gekommen, die Kinder haben noch gewartet, weil sie dachten, du würdest ihnen etwas vorlesen. Und jetzt ißt du nicht…«
Der Mann erhob sich. »Kate, ich war heute nach der Arbeit noch draußen bei Pearl.«
»Bei Pearl? Was wolltest du denn bei ihm?«
»Er reitet für mich nach Ellsworth.«
»Was – ich verstehe kein Wort.«
»Ich habe etwas getan…«
Kate Eggers schlug die Hände vor den Mund. »Nein, Joseph!«
Eggers schüttelte den Kopf. »Hör mich doch erst an. Damals, da habe ich ihnen den Rat gegeben, einen Coltman kommen zu lassen. Es war offensichtlich kein guter Rat. Jonny Lee war ein unangenehmer Bursche. Ein richtiger Killer. Und – und Wilkins hat ihn nie und nimmer erstochen!«
»Und weiter.«
»Ich habe etwas ganz Verrücktes getan. Wenn der Major es wüßte und der Sheriff…«
»Spann mich doch nicht so auf die Folter!«
»Ich habe Pearl nach Ellsworth geschickt. Er soll da beim Post Office eine Nachricht für mich aufgeben.«
»Wohin?«
»Nach Dodge City.«
»Nach Dodge? Aber da kennst du doch niemanden.«
»Doch, Kate, ich kenne jemanden dort. Und du kennst ihn auch. Jeder kennt ihn.«
Die Frau schüttelte den Kopf. Sie verstand nichts. Gar nichts. »Aber Joseph, ich…«
Da sagte der Mann Worte, die ihr die Sprache verschlugen.
»Ich habe eine Depesche an Wyatt Earp geschickt.«
»An Wyatt Earp? An den Marshal…?«
»Ja.«
»Aber das ist doch nicht möglich.«
»Doch, Kate. Ich habe Wyatt Earp eine Depesche geschickt, weil ich ganz einfach keine andere Rettung mehr für Wilkins sehe. Für Wilkins und für die Salina Overland.«
*
Es war gegen Abend.
Joseph Eggers hatte seinen Kindern noch eine deutsche Märchengeschichte vorgelesen und sich dann darangemacht, die verrostete Angel aus der Schuppentür zu nehmen, um sie zu erneuern.
Kate Eggers stand im Flur, als sie den Schritt draußen vor der Tür hörte.
Es war ein harter, fester, sporenklirrender Schritt. Dann wurde an die Tür geklopft.
Die Frau öffnete.
Vor ihr stand ein hochgewachsener, breitschultriger Mann mit scharfgeschnittenem wetterbraunem Gesicht, aus dem heraus ein blaues Augenpaar forschend auf ihr ruhte. Es war ein angenehmes Gesicht und ein guter Blick. Das fühlte die Frau sofort.
Der Fremde hatte schwarzes Haar, trug einen dunklen Hut, ein weißes Hemd, eine kurze schwarze Weste und enganliegende schwarze Levishosen. Um seine Hüften hatte er einen schwarzledernen Büffelgurt, der an beiden Seiten zwei große Revolver hielt.
Der Mann zog seinen Hut.
»Mein Name ist Earp, Madam.«
Die Frau fuhr zusammen. »Wyatt Earp?«
»Yeah. Ihr Mann hat mir eine Depesche geschickt.«
»Ja, Mister Earp«, sagte die Frau und konnte ein Zittern ihrer Stimme nicht verbergen. »Bitte einen Augenblick.«
Dann rannte sie in den Hof.
»Joseph! Komm schnell, er ist da.«
Der Mann sah von seiner Arbeit auf.
»Wer ist da?«
Da stand der Marshal schon oben neben der Frau in der Tür.
Dem kleinen Joseph Eggers rutschte die Zange aus der Hand. Ganz langsam war er aufgestanden und sah den Fremden an.
»Wyatt Earp«, kam es dann leise von seinen Lippen.
Der Missourier nickte und ging ihm entgegen. Und während er ihm die Hand reichte, sagte er mit einer sonoren Stimme:
»Sie haben mir eine Nachricht geschickt.«
»Marshal«, stotterte Eggers verlegen. »Ja. Aber daß Sie wirklich gekommen sind…«
»Ich entnahm Ihrer Depesche, daß sich ein Mensch in Not befindet, und daß Sie glauben, ich könne vielleicht helfen.«
Da ergriff der wackere kleine Deutsche noch einmal die große kantige braune Hand des Marshals und drückte sie herzlich.
»Ja, Mister Earp. Wenn hier überhaupt noch einer helfen kann, dann sind Sie es.« Und nun erzählte Eggers dem Missourier, was sich ereignet hatte.
Der Marshal hörte schweigend zu. Die ganze Sache war bedeutend schwieriger, als Joseph Eggers sie sich gedacht hatte. Der Marshal sann nach.
»Well, ich glaube auch nicht, daß der Postmaster Jonny Lee getötet hat. Aber das muß erst bewiesen werden.«
»Die Beweise gegen ihn sind doch erdrückend«, meinte Eggers.
»Sicher, aber man muß versuchen zu beweisen, daß er unschuldig ist. Und das ist nicht ganz einfach. Wenn ein anderer Jonny Lee ermordet hat, dann hat er das Geld absichtlich liegenlassen, um den Postmaster zu belasten. Ich halte dies um so eher für möglich, weil Sie mir sagten, daß auf dem Lederbeutel Wilkins’ Namen gestanden hatte. Leichter konnte man das einem Mörder dann doch nicht machen. Sie haben das Geld geopfert, weil der immerhin gefährliche Lee ihnen ganz sicher eine solche Summe wert war.«
Wyatt Earp hatte sofort einen Plan.
»Ich werde sofort zu Mister Callaghan gehen und fragen, ob ich die Postkutsche fahren kann.«
»Um Himmels willen«, meinte Eggers. »Wollen Sie die Overland allein fahren und sich vielleicht noch gegen ein halbes Dutzend Banditen wehren?«
»Ich bin nicht allein«, erklärte der Marshal.
»Sie haben noch Leute mitgebracht?«
»Einen Mann.«
Der kleine Eggers stieß einen Pfiff durch eine Zahnlücke aus. »Zounds! Etwa Doc Holliday?«
Der Marshal nickte: »Yeah, Doc Holliday. Wenn Callaghan uns annimmt, sind wir beide auf der Overland. Die Sache hat natürlich einen Haken. Wenn bekannt wird, daß ich in der Overland bin, ist die ganze Mühe nutzlos. Deshalb muß es geheim bleiben.«
»Aber wenn Sie hier jemand kennt?«
»Dann haben wir eben Pech gehabt. Jedenfalls müssen wir es probieren. Ich habe eher Sorge, daß Doc Holliday von jemandem erkannt werden könnte, denn er hat einige Zeit drüben in Abilene gelebt.«
*
Eine halbe Stunde später betrat Wyatt Earp Tim Callaghans Büro.
Der Postkutschenboß musterte den hochgewachsenen Fremden eingehend.
»Was kann ich für Sie tun?«
»Mein Name ist Berry Stapp, Mister Callaghan. Mein Freund John Hellmers und ich haben gehört, daß Sie Leute für die Overland suchen.«
Callaghan stand sofort auf und ging Mister Berry Stapp entgegen. Mit freundlicher Miene erklärte er:
»Das ist gut, Mister Stapp. Sie kommen – in einem günstigen – ich meinte, also, der Job ist noch frei.«
Wyatt nickte. »Wann kann es losgehen?«
»Eigentlich sollte die Kutsche heute noch nach Abilene hinüber, weil sie dort morgen früh um elf nach Salina startet.«
»All right«, meinte der neue Overlanddriver Stapp und war heilfroh, daß er seinen Partner Hellmers nicht vorzustellen brauchte, denn obgleich sie dem Georgier unten bei Eggers die Krawatte ausgezogen hatten, er einen anderen Hut bekommen hatte, die goldene Uhr und die edelsteinbesetzten Manschettenknöpfe abgelegt hatte, wirkte der elegante Doc Holliday doch immer noch nicht wie ein Overlanddriver.
Wyatt konnte ihn durchs Bureaufenster draußen auf dem Querholm sitzen sehen.
Callaghan warf einen flüchtigen Blick hinaus.
»Das ist Mister Hellmers?«
»Yeah.«
Der Overlandboß nahm Papier heraus.
»Ich werde die Verträge aufsetzen, Mister Stapp. Gehen Sie nur schon mit Hellmers hinüber zur Poststation. Da ist ein Bursche namens Tom, der Ihnen alles erklären wird.«
Wyatt war schon an der Tür, als er sich noch einmal umwandte. »Mit dem Postmaster kann ich wohl nicht sprechen?«
»Wenn es sein muß, läßt sich das schon machen. Well, dann kommen Sie gleich mit. Ich werde mit dem Sheriff sprechen.«
Jack Bride musterte den Fremden, den Callaghan ihm als den neuen Driver Stapp vorstellte, mit sichtlicher Neugier.
»Sie sind schon gefahren, Mister Stapp?« fragte er.
»Yeah, Sheriff. Ich hoffe doch nicht, daß ich bei Ihnen noch eine Prüfung ablegen muß.«
»Nein, ganz sicher nicht«, entgegnete der Sheriff. »Mister Callaghan ist der Boß der Overland. Diese Dinge gehen mich nichts an. Aber Sie, Mister Stapp, Sie gehen mich etwas an. Ich will ehrlich sein und Ihnen gestehen, daß es mir so vorkommt, als hätte ich Ihr Gesicht schon gesehen.«
Wyatt zog die breiten Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. Dann steckte er sich eine große schwarze Zigarre an und meinte hinter der Rauchwolke hervor:
»Kann sein, Sheriff. Weshalb nicht. Ich bin schon viel im Land herumgekommen.«
Jack Bride musterte den Fremden weiterhin mißtrauisch.
Wie er überhaupt jeden Fremden voller Mißtrauen betrachtete.
»Well, Mister Stapp. Die Tür zum Zellengang ist offen. Gehen Sie nur. Der Postmaster ist der einzige Gefangene hier. Sie können gern mit ihm sprechen.«
Wyatt machte ein paar Schritte auf die Tür zu, als er hinter sich das Knacken eines Revolverhahnes hörte. Er blieb stehen.
»Schreckhaft sind Sie wohl gar nicht«, meinte der Sheriff.
»Wozu auch«, kam da eine spöttische Stimme von der Tür her.
Bride und Callaghan fuhren herum.
In der Tür, die Wyatt, der als letzter hereingekommen war, nicht ganz geschlossen hatte, stand ein Mann. Er war groß, schlank und sehnig, hatte ein blaßbraunes gutgeschnittenes Gesicht, das von einem eisblauen Augenpaar beherrscht wurde. Er trug einen grauen Reiseanzug, der eigentlich zu seinem abgetragenen Hut und den viel zu großen Stiefeln nicht recht passen wollte.
In der rechten Hand hielt er einen großen vernickelten Revolver vom Kaliber fünfundvierzig.
Dem Sheriff rutschte vor Verblüffung der Colt aus der Hand.
»He, wer ist denn das?«
Wyatt Earp sagte rasch: »Mister Callaghan, würden Sie dem Sheriff bitte diese Frage beantworten?«
Callaghan schluckte. »Yeah, das ist Mister Hellmers, der Partner von Mister Stapp.«
Doc Holliday – denn er war es natürlich, der vorn in der Tür stand – hatte seinen Revolver längst wieder weggesteckt. Er schob sich eine Zigarette in den Mund, riß ein Zündholz am Daumennagel an und meinte:
»Nichts für ungut, Sheriff, aber ich habe es nicht gern, wenn jemand einen Colt auf den Rücken meines Partners richtet.«
Bride hatte seinen Revolver wieder aufgehoben und schob ihn ebenfalls ins Halfter. Er war immer noch so verblüfft, daß er zu keiner rechten Antwort kam.
Da meinte der Gambler: »Also, Berry, du wolltest noch mit dem Postmaster sprechen. Wenn wir noch nach Abilene aufbrechen wollen, wird es langsam Zeit. Ich warte solange draußen. Sie haben doch nichts dagegen, Sheriff?«
»Nein.«
Als sich die Tür hinter Doc Holliday geschlossen hatte, ging Wyatt Earp hinüber in den Gefängnistrakt.
Jeff Wilkins kauerte in einer Ecke seiner Zelle in sich zusammengesunken auf einem dreibeinigen Hocker.
Wyatt blieb vor den eisernen Trallen stehen.
»Hallo, Mister Wilkins. Mein Name ist Stapp, Berry Stapp. Ich bin der neue Driver. Ich wollte Ihnen nur sagen, daß mein Partner John Hellmers und ich nicht an Ihre Schuld glauben. Vielleicht gelingt es uns ja, Ihnen zu helfen. Haben Sie irgendeinen Tip für uns?«
Da wandte der alte Mann langsam den Kopf, und der Missourier sah in das Gesicht eines völlig zusammengebrochenen Menschen.
»Yeah, Berry Stapp, ich habe einen Tip für Sie. Und das ist der beste Tip, den ich Ihnen geben kann: Drehen Sie Ihren Gaul um und reiten Sie dahin, woher Sie gekommen sind. Lassen Sie aber auf jeden Fall die Finger von der Salina Overland. Da steckt der Wurm drin.«
Wyatt winkte ab. »Wissen Sie, mein Partner und ich, wir haben ein ziemlich dickes Fell.«
»Das wird Ihnen auch wenig nützen.«
Unvermittelt fragte Wyatt Earp:
»Was halten Sie von Croydon?«
Wilkins rieb sich mit zitternder Hand das Kinn.
»Croydon? Ich weiß nicht. Er ist ein ziemlich selbstgefälliger Mann.«
Wyatt verabschiedete sich von dem Alten, nachdem er ihm Mut zugesprochen hatte, und ging dann ins Office zurück.
Callaghan ging unruhig auf und ab, und der Sheriff stand am Fenster und blickte auf den Vorbau hinaus. Wyatt trat neben ihn.
»Na, gefällt Ihnen mein Partner? Er ist ein netter Kerl.«
»Ich weiß nicht«, entgegnete der Sheriff zögernd, »aber ich will es für Sie hoffen.«
*
Eine Dreiviertelstunde später polterte die Overland aus der Stadt.
Auf dem Kutschbock saß der Marshal Earp, und drinnen im Passagierraum saß Doc Holliday.
Salinas Overland hatte eine neue Besatzung; eine Besatzung, wie es im weiten Westen sicher keine bessere gab.
Gewiß hätten die Leute in der Stadt aufgeatmet, wenn sie gewußt hätten, wer da die Zügelleinen in den Händen hielt, aber es hätte der Sache selbst keinen guten Dienst erwiesen.
Die Fahrt ging glatt vonstatten.
Und zehn Minuten vor fünf Uhr am darauffolgenden Nachmittag lenkte Wyatt Earp, der früher selbst mit Leidenschaft jahrelang die Postkutsche nicht einmal allzuweit von hier, gefahren hatte, in die Mainstreet von Salina ein. In einer Wolke von Staub kam er vor dem Post Office zum Stehen.
Doc Holliday war schon vorher ausgestiegen. Draußen vor der Stadt, wo es niemand beobachtete. Er war schon auf dem Weg zu Eggers.
*
Drei Tage schon fuhr die Overland, und Salina atmete auf.
Am Nachmittag des dritten Tages stieg vor der Poststation ein zwergenhaftes Männchen aus. Es trug einen gelben Kalifornienhut und einen braunen Anzug. Das Gesicht war von tausend Falten gezeichnet. Unter buschigen weißgrauen Brauen blickte ein kluges Augenpaar hervor.
Tim Callaghan war gerade im Office der Poststation. Als er den gebrechlichen alten Mann aussteigen sah, entfuhr es ihm: »Richter Beverland!«
Ja, der Richter war in die Stadt zurückgekommen. Jetzt waren die Stunden des Postmasters Jeffrey Wilkins gezählt.
An diesem Abend hatte sich Sheriff Bride auf den Weg hinunter in die Creekstraße gemacht. Gegenüber von dem kleinen Haus der Familie Eggers blieb er im Dunkel der Türnische stehen. Mit scharfen Augen beobachtete er das Haus. Nach zehn Minuten, als er sein Versteck verließ, ertönte auf einmal eine sonore Stimme neben ihm.
»Hallo, Sheriff. Sie haben doch nicht etwa auf mich gewartet?«
Wyatt Earp, der die ganze Zeit über nebenan in der Toreinfahrt gestanden hatte, trat neben den Sheriff.
»Hell and devils, wo kommen Sie denn her?«
»Da vorn aus dem Tor, Mister Bride.«
»Ach, und weshalb standen Sie da?«
»Was würden Sie tun, Sheriff, wenn Sie zufällig drüben bei Eggers vorm Hoftor stehen und hören einen Mann, der sich in reichlich sonderbarer Manier an den Häuserfronten entlang durch die Gasse schleicht?«
»Ich…?«
»Ich will es Ihnen sagen, Sheriff. Sie würden vermutlich das gleiche tun, was ich getan habe. Haben Sie sonst noch Fragen, Mister Bride?«
»Nein«, maulte der Sheriff und machte sich davon.
Als Wyatt in den Hof zurückkam, sah er durch das Stubenfenster, daß Doc Holliday und der kleine Eggers pokerten.
Wyatt trat ein und berichtete von seiner Begegnung mit dem Sheriff.
»Daß er uns nicht traut«, entgegnete Holliday, »ist mir klar. Erstens traut er ohnehin wahrscheinlich niemandem, und zweitens wird er Leuten, die sich für diesen Job anbieten, erst recht Mißtrauen entgegenbringen.«
*
Als die Kutsche am nächsten Mittag in glühender Sonne die kleine Ansiedlung Solomon erreicht hatte, entdeckte der Marshal vorn am Zügelholm einen getupften Schimmel.
Lester Croydons Pferd. Das Tier stand in einer Reihe von vier anderen Pferden.
Wyatt hielt die Kutsche an, rutschte vom Bock und führte die Pferde in den Schatten eines Wagendaches. Dann betrat er die Schenke.
Es war eine jener primitiven Schenken, wie sie allenthalben in den winzigen Ansiedlungen des Westens zu finden waren. An der Theke lehnten fünf Männer.
Lester Croydon, Ernest Broncy und die drei anderen Cowboys.
Wyatt trat an die Theke und bestellte sich einen Whisky. Er schätzte den scharfen Fusel, der meist in diesen armseligen Bars ausgeschenkt wurde, absolut nicht. Aber die Tatsache, daß Croydon mit seinen Leuten hier war, veranlaßte ihn, dem Saloon einen kurzen Besuch abzustatten.
Der lange Broncy musterte den Fremden und meinte dann mit rostiger Stimme:
»Hallo! Ist das nicht der neue Overlandmann von Salina?«
»Yeah«, versetzte einer der anderen Cowboys.
Wyatt wollte gerade den Whisky in Empfang nehmen, als Broncy wie unabsichtlich gegen seinen Arm stieß.
Das kleine Whiskyglas zerschellte am Boden.
Broncy feixte dumm. »He, Salooner, gib dem Staubschlucker ein neues Glas. Der arme Kerl muß sich schließlich die Kehle ausspülen.«
»Wer zahlt den Whisky?« fragte der Salooner mit grämlicher Miene.
Broncy grölte: »Der Staubschlucker natürlich, wer sonst.«
Wyatt, der nicht in der Absicht gekommen war, sich mit den Weidereitern anzulegen, nickte.
Das schien dem langen Vormann nun auch wieder nicht zu gefallen. Offensichtlich war ihm die Gelegenheit willkommen, einen Streit vom Zaun zu brechen.
»Ich hoffe, Salooner, daß du ihn richtig verstanden hast: Er meinte, daß er für mich einen Drink dazulegen will. Schließlich hat er mich angerempelt und mein Hemdsärmel ist noch naß vom Whisky.«
Das war dem Missourier allerdings zu dumm. Er blickte den Cowboy an und entgegnete ruhig:
»Von einem Drink war keine Rede, Mister. Und angerempelt habe ich Sie auch nicht.«
Da holte der lange Broncy tief Luft. Mit einer solchen Antwort hatte er sich noch nie abfinden müssen.
»He, Boß, was sagen Sie zu dem Burschen? Offenbar ist er gemütskrank.«
Croydon warf einen kurzen Seitenblick auf den Driver und stützte dann wieder den Kopf in seine Hände.
Broncy wandte sich an die andern.
»Wie findet ihr ihn, Boys. Ist er nicht ein Kerl, der ein Gesicht hat, das direkt nach Prügel schreit?«
Die andern stimmten eine grölende Lache an.
Broncy wandte sich an den Marshal. »Hör zu, Staubschlucker. Du zahlst den verschütteten Whisky und gibst den versprochenen Drink für mich aus. Dann machst du, daß du weiterkommst, sonst gibt’s hier Dresche. Ist das klar?«
Wyatt lehnte sich gegen die Theke zurück und musterte den Cowboy nachdenklich.
»Hör zu, Langer«, sagte er dann, »ich finde, du hast einen ziemlich krausen Verstand.«
Das war für den hitzigen Broncy zuviel. Er ballte seine prankenartige Rechte sofort und holte zum Schlag aus.
Es war jedoch für den Marshal nicht einmal schwer, diesen viel zu weit hergeholten Schlag abzuducken. Er stand wieder ganz ruhig da, während der Vormann von der Wucht seines eigenen Hiebes hart mit der Brust gegen die Theke gerissen worden war.
Broncy wandte den Kopf und sah den Driver aus glimmenden Augen an.
»He, Staubschlucker. Das war wohl ein Trick. Und zwar ein ganz übler Trick. Aber ich habe etwas gegen Tricks…«
»Und ich gegen Leute, die ihre Hände nicht bei sich behalten können«, versetzte der Missourier ruhig.
Da warf sich Broncy herum und schleuderte einen langen rechten Haken zum Kopf des Overland Drivers.
Diesmal ließ Wyatt die Hand nur durch ein ganz kurzes Abducken fehlen, hieb dem Riesen aber im gleichen Augenblick unter der rechten Schlaghand her einen trockenen linken Haken in die Seite.
Der Vormann stand da und hatte die Augen weit aufgerissen. Der Schlag hatte ihn fürchterlich durchgeschüttelt, aber keineswegs etwa betäubt.
Mit einem heiseren Schrei sprang Ernest Broncy den Gegner erneut an. Diesmal versuchte er eine Doublette.
Wyatt ließ die Rechte passieren und fing die Linke mit seiner eigenen Hand auf.
Er hielt die Faust des Cowboys fest und sagte ernst:
»Gib’s auf, Langer, ich muß weiter.«
Aber der Cowboy dachte nicht daran, aufzugeben.
»Im Gegenteil, Staubschlucker, jetzt geht’s erst los. Jetzt wirst du Ernest Broncy kennenlernen. Kleinholz werde ich aus dir machen, elendes Großmaul!«
Er holte noch zu einem Schlag aus – aber das war auch das letzte, was der Croydon-Vormann in dieser Stunde noch tat.
Hart und krachend traf ihn der punktgenaue Uppercut des Dodger Marshals am Kinnwinkel und warf ihn sofort von den Beinen.
Für einen Augenblick standen die andern Croydon-Leute völlig verdutzt da, dann aber warfen sich gleich zwei Männer dem Driver entgegen.
Wyatt fing den ersten mit einer langen rechten Geraden ab, steppte zur Seite und riß den zweiten mit einem linken Haken aus der Route.
Da fuhr die Hand Lester Croydons zum Colt.
Gedankenschnell hatte der Missourier seinen großen sechskantigen Buntline Special in der Hand.
»Mister Croydon. Es wäre gut, wenn Sie Ihre Leute zu mehr Vernunft auffordern würden.« Der Revolver flog in einem wirbelnden Handsalto ins Halfter zurück. »Salooner, den Whisky bezahlt dieser lange Bursche hier, wenn er zu sich kommt.«
Der Wirt winkte ab. »Zahlt – ist gut. Broncy hat hier eine Kreidelatte, die die Tafel nicht mehr faßt. Es ist zum Wimmern…!«
Wyatt ging zur Tür. Er kehrte dabei den Männern den Rücken zu.
Der krummbeinige Ted Riccers stieß seine Hand zum Colt.
»Nicht doch, nicht doch, Schweinezähler!« kam da Doc Hollidays harte Stimme von der halboffenen Hoftür her. »Laß das Schießeisen fallen, Boy, sonst gibt’s Zunder!«
Riccers sah Croydon an.
Der wandte sich um. Lange durchforschte er das kantige Gesicht des Gamblers. Dann sagte er heiser:
»All right, Ted, laß den Colt los!«
Doc Holliday lächelte leise in sich hinein.
»Sie haben da einen netten Verein, Rancher. Wirklich. Ich glaube, wenn wir mal den Job bei der Overland aufgeben, fragen wir mal auf der Ranch nach. Falls wir uns vorher natürlich nicht gegenseitig schon ein paar Löcher in den Pelz gebrannt haben. Drin scheint ja hier alles zu sein. So long, Mister Croydon!«
Die Tür schlug hinter ihm zu.
Wyatt Earp hatte den Schankraum im gleichen Moment verlassen.
Croydons Gesicht war hart wie Teakholz geworden.
»Hell and devils, wer war denn das?«
Riccers schluckte und bückte sich nach seinem Colt. »Yeah, das möchte ich auch gern wissen. Eines steht fest: sie werden beide nicht sehr alt.«
Als draußen die Postkutsche anzog und unter dem lauten Heiahh hee! des Drivers davonrollte, kam Ernest Broncy erst unter dem Wasserguß, den der Rancher aus drei Gläsern auf ihn niedergelassen hatte, zu sich.
Der Vormann zog sich langsam an der Theke hoch, sah die anderen benommen an und krächzte:
»He, was war los? War ich – so voll? Damned!« Er wischte sich durchs Gesicht. »Das kann doch nicht sein.« Plötzlich hatte er sein Kinn berührt. Den Punkt, auf den die Eisenfaust des Marshals aufgetroffen war.
Der Cowboy verzog das Gesicht. Und plötzlich war die Erinnerung wieder da.
»Der Overlandkerl! Damned! Wo ist er?«
Croydon wies zum Fenster. »Siehst du die Staubwolke?«
Broncy grölte: »Ah, der Junge hatte es wohl ziemlich eilig, wie?«
Achselzuckend entgegnete der Rancher:
»Das kann man nicht einmal sagen. Es waren übrigens zwei Leute.«
*
Die Salina Overland kam wohlbehalten und sogar noch kurz vor fünf in der Stadt an – was bei dem Aufenthalt in Solomon wirklich eine Leistung war.
Schon hatten sich die Menschen in Salina an das Bild gewöhnt. Der fremde Driver war zwar ein etwas wortkarger Geselle, aber was hieß das schon, er brachte die Overland über die Strecke, und nur das zählte.
Noch immer war es niemandem aufgefallen, daß Holliday vorher ausstieg. Auch an den beiden Tagen, an denen sich wieder Passagiere in die Kutsche getraut hatten, war es nicht weiter aufgefallen.
Wyatt hatte vor einer Feldhütte angehalten und Holliday zugerufen: »He, Brother, wach auf! Du bist da!«
Holliday, der sich schlafend gestellt hatte, war dann rasch ausgestiegen. Niemand hatte etwas dabei gefunden. Schlechter mußte das werden, wenn der Verkehr wieder in alter Regelmäßigkeit lief, und immer die gleichen Passagiere einstiegen.
Der Marshal hatte sich deshalb entschlossen, Doc Holliday offen auf dem Kutschbock mitfahren zu lassen. Jetzt, wo die Croydons über den »zweiten Mann« informiert waren, würde es kaum noch lange ein Geheimnis bleiben.
Wyatt Earp und Doc Holliday hatten vorn in der Mainstreet in Lowells Boardinghouse Quartier bezogen. Es war gegen sechs Uhr. Sie hatten sich gewaschen und standen unten im Speiseraum, als der Georgier den Marshal plötzlich unauffällig anstieß.
Wyatt folgte der Blickrichtung des Spielers und sah durch das Fenster auf die Straße.
Draußen kamen fünf Reiter vorbei.
Croydon und seine Männer.
Sie stiegen vor der Poststation von den Gäulen. Der Rancher und sein Vormann betraten das Bureau.
»Was sie jetzt dem armen Tom wohl erzählen?« meinte Holliday.
Gleich darauf kam der Bursche heraus und verschwand in einer Seitengasse.
»Dachte ich’s mir doch«, meinte Wyatt, »er muß Callaghan holen.«
»Ich glaube, wir werden inzwischen mal hinübergehen«, fand der Gambler.
»Yeah, und zwar wie immer.«
Holliday nickte.
Wyatt ging voran. Als er an den Cowboys vorbeikam, stießen die einander an, und einer von ihnen spie haarscharf vor Wyatts Stiefel aus.
Der Marshal blieb stehen. »Gib genau acht, Junge. Ich habe dich in Solomon wie ein rohes Ei behandelt. So etwas ist bei mir einmalig…«
Da spie der Bursche wieder aus. Diesmal genau auf die rechte Stiefelspitze des Marshals.
Die Ohrfeige, die ihn traf, kam so schnell, daß der Cowboy Joe Linkerton überhaupt nicht mehr zu einer Gegenmaßnahme gekommen war. Er wurde von der Wucht des Schlages um seine eigene Achse gewirbelt und war dann noch wahnwitzig genug, zum Revolver zu greifen.
Wieder blinkte einen Herzschlag früher der sechskantige Revolver mit dem überlangen Lauf in der Hand des Marshals.
»In dieser Beziehung verstehe ich nun gar keinen Spaß, Cowboy!«
Mit raschen Schritten kam Jack Bride heran.
»Was soll das?« zischte er.
Linkerton glaubte, durch den Sheriff Oberwasser bekommen zu haben.
»Dieser Bursche da führt sich auf, als wäre er…«
Bride herrschte den Cowboy an:
»Weshalb hast du ihm auf die Stiefel gespuckt, du hirnloser Cowpuncher? Was geht dich der Mann an?«
Da krächzte der krummbeinige Riccers heiser:
»Er hat uns schon in Solomon angegriffen.«
»Was…?« fragte der Sheriff ungläubig.
»Yeah – er hat Broncy zusammengeschlagen. Und Joe und Larry haben auch was einstecken müssen. Schließlich hat er den Boß mit dem Colt bedroht, und dann kam sein Partner noch mit dem Revolver durch die Hintertür.«
Wyatt hatte den Colt längst wieder weggesteckt.
Bride wandte den Kopf und sah ihn nachdenklich an. »Was sagen Sie dazu, Stapp?«
»Dazu kann man nichts mehr sagen.«
»Soll das etwa heißen, daß es wahr ist?«
»Yeah – aber der Junge hat die Hälfte vergessen. Nämlich, daß der Lange mich angegriffen hat, mir den Whisky aus der Hand gestoßen hat. Und als er am Boden lag, kamen diese beiden Figuren an, und ich mußte mich ihrer erwehren. Dann hielt Mister Croydon es für richtig, zum Colt zu greifen. Und als ich dann endlich gehen wollte, glaubte der krummbeinige Gnom da, daß er den Colt ungestraft in meinen Rücken ziehen könnte. Das war der Augenblick, in dem mein Partner dazukam.«
Bride schluckte. Dann wandte er sich um und stampfte mit harten wütenden Schritten auf sein Office zu.
Croydon war in der Bureautür erschienen.
Der Vormann stand neben ihm.
»He, Ernest, sieh dir das an. Da ist ja unser Freund aus Solomon wieder! – Und Sie, Sheriff, Sie können auch einen Augenblick bleiben. Was ich Mister Callaghan zu sagen habe, geht Sie ebenso an.«
Mit verkniffenem Gesicht kam der Sheriff zurück.
Er blieb unten vor den Stepwalks stehen und sah zu dem Viehzüchter hinauf.
»Finden Sie nicht, daß Sie uns in letzter Zeit ein bißchen viel beschäftigen, Mister Croydon?«
»Ich…? Das ist doch wohl der Gipfel! Vielleicht – ah, da kommen Sie ja, Callaghan!«
»Mister Callaghan«, sagte der Greis eisig.
»All right, dann Mister Callaghan!« meinte der Viehzüchter spöttisch. »Ich komme wieder mit einer Beschwerde zu Ihnen und mit einer Anklage zum Sheriff. Erst kürzlich wurde ich durch Ihre Postkutsche belästigt, mit fast zwanzig Revolverschüssen bedroht, und…«
»Das wissen wir ja bereits!« unterbrach ihn Callaghan.
»Yeah. Aber was Sie noch nicht wissen, ist die Tatsache, daß wir heute wieder Ärger mit Ihren Leuten hatten.«
»Ach…?«
»Dieser Mann da…«, Croydon wies mit dem ausgestreckten Arm auf den Missourier, »hat in Solomon einen Streit mit meinen Leuten begonnen. Er hat meinen Vormann niedergeschlagen, er hat zwei meiner anderen Boys mit Faustschlägen zurückgeworfen…«
»Dann ist er ganz sicher der richtige Mann für die Salina Overland«, meinte Mister Callaghan völlig ruhig.
»Ach, Sie billigen dieses Verhalten Ihrer Leute also?« fauchte Croydon.
Der Overland Chief nahm seine goldgeränderte Brille ab, holte ein blütenweißes Taschentuch hervor, polierte die Gläser und sprach erst, als dies in aller Gründlichkeit geschehen war, weiter.
»Nicht so hastig, Rancher. Wenn Mister Stapp Ihren Vormann niedergeschlagen hat, dann wird Ihr Vormann meinem Driver höchstwahrscheinlich einen Grund dazu gegeben haben. Ich kann mir nicht denken, daß er sich aus lauter Kraftüberschuß auf Mister Broncy geworfen hat.«
Croydons Gesicht wurde düster.
»Ich habe weder Lust noch Zeit, Callag… Mister Callaghan, mich hier mit Kleinigkeiten und Einzelheiten aufhalten zu lassen. Fest steht, daß dieser Mensch ein übler Schläger und vielleicht auch noch ein wilder Schießer ist. Wir standen ganz friedlich in der Prärie-Bar, als dieser Ban…«
»Mister Croydon!« Metallen klang die Stimme des Marshals über den Straßenpart. »Steigen Sie auf Ihren Gaul und reiten Sie auf Ihre Ranch. Ihre haltlosen Beschuldigungen könnten sonst in Salina den Eindruck erwecken, als ob Sie etwas gegen die Overland hätten.«
Der Viehzüchter wurde von einer Sekunde auf die andere aschgrau. Mit belegter Stimme stieß er hervor:
»Was soll das heißen, Stapp? Wollen Sie etwa behaupten, daß ich…, daß ich, Lester Croydon, mit den drei Toten zu tun habe?«
Wyatt schüttelte den Kopf.
»Das habe ich nicht gesagt, Mister Croydon.« Und blitzschnell fügte er hinzu: »Wie kommen Sie übrigens auf drei Tote, Mister Croydon?«
»Wieso…?«
»Wir haben hier einen Toten gehabt, Jonny Lee.«
»Und die beiden Driver?« fauchte der Rancher wütend, »leben die etwa noch?«
Wie aus der Pistole geschossen kam die nächste Frage des Missouriers: »Wissen Sie etwa, daß sie noch leben?«
Croydon wischte sich über die Stirn. Dann brüllte er:
»Sheriff! Ich verlange von Ihnen, daß Sie diesen Burschen zur Rechenschaft ziehen. Er hat mich tief beleidigt. Mich, einen Lester…«
Wyatt Earp winkte ab. »Den Song kennen wir nun schon, Mister Croydon. Es wäre besser für Sie gewesen, wenn Sie nicht in die Stadt gekommen wären. Und dann will ich Ihnen noch etwas sagen: Wenn ich noch einmal mit Ihnen zusammengerate, und einer Ihrer Leute bedroht mich, und Sie ziehen wieder den Colt, dann gibt’s Ärger. So long, Mister Croydon!«
Wyatt wandte sich um und verließ die Straße.
Croydon zeterte noch eine Weile herum.
»Jedenfalls lasse ich es mir nicht bieten, daß die Overlandleute nur aus Angst vor angeblichen Banditen jetzt verrückt spielen. Wenn noch etwas vorkommt, dann…«
Der Sheriff wandte sich ab und ging auf sein Office zu.
Aufgebracht brüllte der Rancher ihm nach:
»Haben Sie schon eine Spur von den Ermordeten gefunden, Sheriff? He? Ist doch Ihre Aufgabe, sich um verschwundene Bürger zu kümmern. Nicht wahr. Oder irre ich mich da?«
Bride wandte sich um. »Kümmern Sie sich um Ihre Ranch, Mister Croydon, und lassen Sie meine Sorgen meine Sorgen sein!«
Die nächsten drei Tage geschah nichts. Ungehindert erreichte die Salina Overland die beiden Städte. Und die Menschen hatten sich bereits wieder so sehr daran gewöhnt, daß sie die Ereignisse vergaßen.
Sogar den Ärger mit dem Rancher Croydon vergaßen sie.
Vielleicht hätten sie auch den alten Wilkins vergessen, wenn der Richter nicht eine Bekanntmachung hätte anschlagen lassen, auf der zu lesen stand, daß morgen die Verhandlung gegen Jeffrey Wilkins stattfinden würde.
Die beiden Dodger Männer hatten am Abend mit den Wechselpferden die Stadt wieder verlassen und waren unbehelligt nach Mitternacht in Abilene angelangt, wo sie gegenüber der Poststation ihr zweites Quartier hatten.
Als sie über die Straße gingen, sahen sie, wie ein Mann aus Jimmys Bar auf die Straße geworfen wurde. Er lag im Sand, rappelte sich hoch und griff nach seinem Schießeisen.
Da feuerte oben in der Tür der Bar der Mann, der ihn hinausgestoßen hatte, zwei Schüsse auf ihn ab.
Der andere auf der Straße brach zusammen.
Wyatt Earp und Doc Holliday waren ruhig im tiefen Dunkel eines Vorbaues stehengeblieben. Der Mann, der aus der Schenke kam, sprang auf die Straße und versetzte dem anderen, den er niedergeschossen hatte, einen Fußtritt.
Da war Wyatt Earp hinter ihm, riß ihn herum und starrte verblüfft auf den Stern auf der Brust des anderen.
»Was fällt Ihnen ein!« schrie Sheriff Ferguson.
Wyatt sah ihn aus harten Augen an.
»Das möchte ich Sie fragen, Sheriff. Wie kommen Sie dazu, diesen Mann mit zwei Schüssen niederzustrecken und dann auch noch nach ihm zu treten?«
»Er ist ein ganz dreckiger Tramp, der überall Unruhe stiftet… Und wenn Sie alles beobachtet haben, dann werden Sie auch gesehen haben, daß er den Colt zog.«
»Er griff zum Colt«, sagte Wyatt frostig.
»Na und? Sollte ich da warten, bis der Bursche mich über den Haufen schießt?«
»Nein, Sheriff. Aber es war auch nicht notwendig, den Mann niederzuschießen. Sie hätten ihm den Revolver aus der Hand schießen können.«
Sheriff Ferguson lachte ein rauhes Lachen.
»Den Mann möchte ich sehen, der einem anderen noch die Waffe aus der Hand schießen kann, wenn der zuerst nach dem Colt gegriffen hat.«
Doc Holliday, der sich um den Verletzten bemüht hatte, richtete sich auf und meinte:
»Ich kenne Leute, die hatten noch nicht gezogen, wenn andere schon mit dem Daumen den Hahn zurückzogen – und doch feuerten sie dem Gegner den Colt aus der Hand. Das sieht dann beispielsweise so aus.«
Mit traumhafter Schnelligkeit flog die Hand des Spielers zum Revolver, und gleich darauf bellten von dessen rechter Hüfte zwei Schüsse auf.
Oben auf dem Vorbau hinter Wyatt Earp und dem Sheriff standen drei Männer. Zwei von ihnen hatten den Revolver in der Hand gehabt. Und Doc Holliday, wie er es dem Sheriff versprach, hatte ihnen die Waffen aus den Händen geschossen.
Ruhig erklärte der Gambler:
»Sehen Sie, Sheriff, das sind nun Freunde von uns. Boys von der Croydon Ranch. Wären es jetzt Feinde gewesen, hätte die Sache unter Umständen etwas unangenehmer für sie ausgesehen. Es ist immer schlecht, wenn Leute zum Revolver greifen, die nicht schnell genug damit umgehen können, und die die feste Absicht haben, andere Menschen auszupusten. – Es wäre gut, wenn Sie den Mann zum Doc schaffen ließen. Er hat einen Steckschuß in der Hüfte, und die zweite Kugel hat seine Schläfe gestreift. Schützen gibt’s, die treffen auf drei Yards keine Overland. So long, Sheriff.«
Die beiden gingen dicht an den Croydon-Cowboys vorbei auf ihr Quartier zu.
»Komisch«, meinte Holliday so laut, daß die Cowboys es noch hören konnten, »daß man diese Burschen allenthalben trifft. Croydon muß ziemlich wenig Arbeit haben. Ich glaube, daß wir da nie nach einem Job zu fragen brauchen.«
Nach einer halben Stunde, als die Croydon-Leute aus der Stadt geritten waren, verließen die beiden Dodger das Boardinghouse durch die Hoftür.
Wyatt Earp stieß einen leisen Pfiff aus.
Gleich darauf löste sich drüben aus dem Dunkel des Stallvorbaues eine riesige Gestalt, die mit raschen Schritten näherkam. Aus dem Küchenfenster des Boardinghouse fiel ein schwacher Lichtstrahl und beleuchtete den Mann. Er war von geradezu herkulischen Körperformen. Selbst der lange Vormann Lester Croydons war noch fast klein gegen ihn zu nennen. Unter dem weißen Hut blickte ein dunkles, kantiges Gesicht hervor. Jetzt bleckte der Mann ein schimmernd weißes, prächtig gewachsenes Gebiß und feixte.
»Hallo, Marshal. Alles bereit.«
Wyatt reichte ihm die Hand. »Thanks, Luke.«
Auch Holliday gab dem Abenteurer aus Texas die Hand.
»War doch ein guter Gedanke des Marshals, Sie mitzunehmen, Mister Short. Da habe ich doch wenigstens jemanden, mit dem ich mal anständig pokern kann.«
Yeah, es war Luke Short. Er war wieder einmal mitgekommen. Wyatt hatte es ihm nicht abschlagen wollen, als er im letzten Augenblick vor dem Abritt der beiden im Marshals Office auftauchte, fix und fertig zum Ritt, gestiefelt und gespornt. Seit sich der bärenstarke, schußschnelle und wirklich schon riskant-mutige Luke Short unten in Arizona so gut bewährt hatte, gab es keinen Grund für den Marshal, den wirklich brauchbaren Mann nicht mitzunehmen. Er war mit seinen schlagfertigen Antworten und seinem kräftigen Humor ein guter Ausgleich zu dem oft gallenbitteren, scharfen, spöttischen Holliday.
Wyatt hatte ihn die Pferde hierherbringen lassen, da er beabsichtigte, der Croydon-Ranch einen nächtlichen Beobachtungsbesuch abzustatten.
Anfangs hatten sie sich ausgemacht, daß Luke Short die Overland am Morgen hinüber nach Salina fahren sollte. Aber da der Texaner auf dem nächtlichen Ritt gebraucht werden konnte und es ohnehin besser war, wenn Jonny Vancelar von der Abilener Poststation in Salina mit der Kutsche auftauchte als ein wildfremder Mann, hatte sich der Marshal wohl oder übel entschlossen, den jungen Overlandmann einzuweihen.
Sie ritten über die Mainstreet, bogen neben der Station in eine Seitengasse ein und führten die Pferde in den Hof.
Vancelar, ein kräftiger, vierundzwanzigjähriger Bursche, hörte die Geräusche. Er kam sofort mit dem Gewehr an die Haustür.
Dann sah er den vermeintlichen Overlandmann Stapp.
»Hallo, Mister Stapp! Sie sind noch mal zurückgekommen? Ich dachte, Sie und Mister Hellmers schliefen längst.«
Wyatt kam langsam auf die Treppe zu und blieb vor der untersten Stufe stehen.
»Hör zu, Jonny, ich muß dir etwas sagen. Ich heiße nicht Stapp.«
In die Augen Jonny Vancelars trat ein jäher Schreck. Instinktiv hob er das Gewehr an. Da sah er hinter Wyatt die beiden anderen Männer aus dem Dunkel auftauchen.
»Laß das Gewehr unten, Jonny. Mein Name ist Earp. Ich bin von Salina aus geru…«
»Earp?« stammelte der Bursche völlig entgeistert.
»Yeah. Ich werde es dir erklären, Jonny.«
»Sind Sie etwa Wyatt Earp?« unterbrach ihn der Bursche.
»Yeah.«
Jonny hob die Linke und wischte sich über die Augen. Dann deutete er auf den vermeintlichen Hellmers. »Und er? Ist er etwa Doc Holliday?«
»Yeah«, antwortete Wyatt Earp. »Und der andere ist Luke Short. Ich werde dir jetzt…«
»Doc Holliday!« Der Bursche hatte es fast andächtig gesagt. »Und Luke Short! – Augenblick mal, Marshal, das ist ein bißchen viel für die Abendstunde. Wyatt Earp, Doc Holliday und Luke Short!«
»Vielleicht sagt er es noch ein paarmal und etwas lauter, dann weiß es in einer halben Stunde die ganze Stadt«, meinte der Georgier.
Wyatt winkte dem Burschen.
Jonny Vancelar kam in den Hof.
Da nahm der Missourier seinen Marshalstern aus der Tasche. »Hier, Jonny, kennst du den?«
»Yeah, Marshal, ich kenne ihn. Ich habe ihn schon in der Zeitung gesehen. Damals, als Sie Milt Rice unten in Dodge stoppten. Und außerdem habe ich mir schon seit Tagen den Kopf darüber zerbrochen, wo ich Hellmers schon gesehen habe. Jetzt weiß ich es genau: Er ist Doc Holliday! Ich habe ihn hier vor Jahren gesehen. Damals war ich fünfzehn oder sechzehn. Er spielte im großen Casino, und dann war da die Schießerei mit Higgins und…, aber er sah damals allerdings etwas anders aus. Er trug einen sauberen schwarzen Anzug und eine Krawatte, ein weißes Hemd und…«
»Du mußt doch zugeben, daß das zu einem Overland Gunman nicht gerade paßt«, unterbrach ihn Wyatt. Und dann erklärte er ihm, was zu erklären war.
Jonny Vancelars Herz schlug schneller. »Marshal, Sie können sich auf mich verlassen wie auf Doc Holliday und Luke Short. Ich danke Ihnen, daß Sie Vertrauen zu mir haben. Ich werde Sie ganz sicher nicht enttäuschen.«
Wyatt schüttelte ihm die Hand. Auch Doc Holliday und der Texaner drückten dem jungen Postmaster die Hand.
»Es geht jetzt um Jeff Wilkins’ Leben!«
»All right, Marshal. Ich werde also morgen die Overland nach Salina hinüberbringen, wenn Sie nicht zurück sind. Mein Bruder vertritt mich gern mal für einen Tag. Er hat früher schon für Jimmy Degorey gearbeitet, genau wie ich, und ist also mit allen Arbeiten vertraut.«
»Und haben Sie nur keine Angst, Jonny, wir sind in der Nähe.«
Der Bursche grinste breit und meinte:
»Wenn Sie in der Nähe sind, Marshal, fahre ich die Overland auch durch die Hölle.«
*
Die drei Reiter verließen die Stadt in nordwestlicher Richtung.
Luke Short hatte die Lage der Croydon Ranch so gut ausgekundschaftet, daß er seine beiden Gefährten trotz der Dunkelheit sicher hinführen konnte.
Schließlich sahen sie auf einer Hügelkuppe die Bauten vor sich auftauchen. Es war eine mittlere Ranch, von einem provisorischen Zaun umgeben. Wyatt setzte mit seinem Pferd über das Gatter und hielt auf einen Schuppen zu, der abseits von der großen Scheune stand.
Luke Short folgte ihm.
Der Georgier trennte sich von den beiden. Seiner nützlichen Gewohnheit folgend, umritt er die Gebäude und näherte sich dem Anwesen von der Rückseite her.
Hinter dem Schuppen rutschten Wyatt und Luke aus den Sätteln.
Der Marshal schlich sich, als er den Zügel seines Pferdes an einer eisernen Krampe befestigt hatte, an die Ecke des Schuppens und äugte zum Hof hinüber.
Der Texaner schob sich hinter ihn. »Sie haben sich da ziemlich nahe herangewagt, Marshal. Wie nun, wenn Croydon einen scharfen Köter hat?«
»Der hätte längst gebellt, auf jeden Fall aber, als wir vorn am Gatter waren und darübersetzten.«
Der Riese fletschte die Zähne. »Stimmt. Aber ich habe schon von Hunden gehört, die so raffiniert sind, zu warten, bis der Eindringling in Bißnähe ist.«
»Yeah, ich habe sogar schon mit solchen Tieren zu tun gehabt.«
»Das dürfte doch ziemlich unangenehm sein?«
»Ist es – aber wenn man keine andere Wahl hat, muß man das Risiko eben auf sich nehmen.«
Luke fragte nach einer Weile flüsternd:
»Der Doc sucht wohl wieder den Hintereingang?«
Wyatt nickte.
Da lachte der Texaner in sich hinein. »Ich muß sagen, das ist immer noch großartig organisiert bei euch beiden.«
Wyatt hatte den Hof eine Weile beobachtet, duckte sich jetzt nieder und näherte sich dem etwa fünfzehn Yards entfernt stehenden Scheunenbau.
Luke Short kam nach.
Sie schlichen sich an der Hinterfront der Scheune entlang und konnten von der nächsten Ecke aus die Stallungen erreichen, ohne über ungeschütztes Gelände laufen zu müssen.
»Sieht ziemlich tot hier aus«, flüsterte der Tex.
»Yeah, fast etwas zu still.«
»Eben«, knurrte Luke. »Wenn da nicht etwas faul ist!«
»Wir müssen abwarten. Bleiben Sie noch hier. Ich muß zum Ranchhaus hinüber.«
»Was denn? Von hier? Über den Platz? Da sieht Sie doch jeder aus zwanzig Yards Entfernung.«
»Wir können nicht warten, bis es Tag wird. Außerdem werde ich hinüberkommen, ohne daß mich jemand sieht.«
Er huschte davon.
Der Texaner sah ihm nach und kniff die Augen zusammen, als der Marshal plötzlich von dem tiefen Schlagschatten eines Wagens verschluckt wurde und nicht wieder auftauchte.
Heavens, wo steckte er?
Luke strengte seine Augen vergebens an. Dann schloß er sie, um intensiver lauschen zu können. Aber er vermochte nichts zu hören. Der Missourier schien verschwunden zu sein.
Und dann sah er ihn plötzlich. Drüben vor der weißgestrichenen Wand des Ranchhauses hob sich für einen Augenblick seine Gestalt ab.
Er hatte den Arm gehoben und gewunken.
Luke brauchte fast doppelt so lange und war fest davon überzeugt, daß er nicht so leise und auch nicht so unsichtbar hinübergekommen war. Als er schließlich neben dem Missourier in einer Nische am Türvorbau stand, flüsterte er:
»Damned, das muß ich lernen. Wie haben Sie das gemacht?«
»Was?«
»Ich habe Sie von dem Wagen an nicht mehr gesehen und gehört.«
»Daß Sie mich nicht gehört haben, kann an Ihren Ohren liegen. Aber sehen konnten Sie mich sicher nicht leicht, denn ich bin immer dem dünnen Schattenfeld der drei Bäume nachgekrochen und konnte dabei eine Bodenrinne benutzen, die zwar nicht sehr tief aber doch immerhin tief genug für mich war.«
»Raffiniert! Ich wußte ja, daß ich beim richtigen Verein bin«, grinste der Goliath.
Die beiden Männer blieben eine Weile lauschend nebeneinander stehen.
Plötzlich bückte sich Wyatt. Ein sonderbarer Geruch war an seine empfindliche Nase gekommen. Ein Geruch, wie es aus unterkellerten Steinhäusern zog und die Nase belästigte.
Der Missourier bückte sich und tastete das Fundamentholz ab. Plötzlich hatten seine Finger einen winzigen Spalt entdeckt, aus dem der sonderbare Geruch kam.
Da packte der Riese den Marshal an der Schulter und deutete stumm über den Hof.
Drüben aus dem Bunkhaus war ein Mann gekommen, der um die Ecke verschwand. Wahrscheinlich einer der Cowboys. Nach wenigen Minuten kam er zurück und ging ins Bunkhaus zurück.
Der Marshal richtete sich auf und brachte seinen Mund an das Ohr des Texaners. Tonlos sagte er: »Das Ranchhaus ist unterkellert.«
Luke Short schüttelte den Kopf. Das war doch ausgeschlossen, dachte er, wer unterkellert denn ein Holzhaus dieser Art?
Vorsichtig schob sich der Marshal aus der Eingangsnische und legte sich flach auf den Boden. Geräuschlos schlich er an der Tür vorbei. Dann sah er die Bewegung an dem Fenster neben dem Eingangsvorbau.
Ganz deutlich nahm er wahr, wie das Fenster hochgeschoben wurde.
Und gleich darauf kam ein Gewehrlauf zum Vorschein.
Sie waren also entdeckt!
Oder hatte der Mann im Haus nur ein fremdes Geräusch gehört und traf deshalb eine Sicherungsvorkehrung?
Wenn er schon etwas gesehen hatte, dann nur einen Eindringling. Luke Short konnte er noch gar nicht gesehen haben.
Wyatt rutschte zurück und winkte dem Riesen. Lautlos unterrichtete er ihn über das, was er beobachtet hatte. »Und jetzt geben Sie acht, nehmen Sie meinen Hut, und schieben Sie ihn ganz langsam vor und wieder zurück, so als wollten Sie nur beobachten. Ich rutsche hier von der Veranda herunter und komme gleich hinter dem Fenster wieder hoch. Es dauert nicht lange.«
Luke wußte nicht, was der Marshal vorhatte, flüsterte aber: »All right.«
Der Missourier kroch zurück und verließ die Veranda.
So sehr Luke sich auch diesmal wieder bemühte – er hörte nicht den mindesten Laut. Hell and devils! dachte der Riese, wie kann sich ein Mensch nur so katzenhaft vorwärts bewegen?
Es dauerte tatsächlich nicht lange, und der Texaner sah seinen Gefährten ein paar Yards hinter dem Fenster wieder auf die Veranda kriechen.
Nun nahm Luke den Hut zurück. Er hatte ihn ohnehin immer nur so kurz um die Eingangsecke gehalten, wie er es für ungefährlich hielt. Bei der Dunkelheit mußte ein Mensch mit dem Gewehr schon einen Augenblick zielen, wenn er auf sieben Yards hin eine schwarze Hutkrone treffen wollte.
Luke beobachtete jetzt, wie der Missourier sich an die Hauswand schob und langsam wie eine Raubkatze unter das Fenster kroch. Plötzlich federte er hoch. Mit einem sicheren Griff hatte er den Gewehrlauf gepackt, hing sich mit seinem ganzen Gewicht daran und warf sich nach vorn.
Wyatt Earp hatte sich nicht geirrt: anstatt das Gewehr loszulassen, hatte der Mann hinter dem Fenster es noch fester gepackt und wurde schneller mit der Waffe über das Sims hinausgeschleudert, als er es selbst mitbekam.
Rasch preßte der Missourier ihm die Hand auf den Mund und hielt ihn am Boden fest.
Da war Luke Short heran. Er hatte einen seiner großen Revolver in der Hand, kniete neben dem Überrumpelten nieder und hielt ihm die Waffe vor die Nase.
»So, Junge«, zischte er, »wenn du auch nur den leisesten Piepser von dir gibst, verschafft dir Onkel Luke eine kostenlose Himmelfahrt.«
Der Mann wurde gefesselt und geknebelt, und dann hielt der Texaner bei ihm Wache, während Wyatt Earp durch das offenstehende Fenster in das Haus stieg.
Der Texaner sah ihm feixend nach.
»Ausgekochter Bursche«, flüsterte er tonlos vor sich hin. Denn jetzt war ihm aufgegangen, wozu sich der Marshal die ganze Mühe gemacht hatte. Er wollte ins Haus!
Es vergingen einige Minuten, dann erschien Wyatt wieder am Fenster.
Er bedeutete dem Texaner, den Gefangenen ins Haus zu bringen.
Der Riese nickte, hob den Mann vom Boden hoch, als sei er leicht wie ein Kind, und brachte ihn über die Fensterbank.
Wyatt nahm ihn in Empfang und fesselte ihn so unter einen Tisch, daß der Mann sich nicht rühren und also nicht zum Verräter werden konnte.
Dann verließen sie den Raum und standen draußen im stockfinsteren Korridor.
Der Marshal tastete sich an der Wand entlang vorwärts. An der ersten Tür flüsterte er Luke zu:
»Hier schläft ein alter Neger.« An der nächsten: »Hier schlafen zwei Frauen.« An der letzten Tür dieser Gangseite blieb er stehen. »Hier ist der Laden zu und das Schlüsselloch verhangen.«
Zounds, dachte der Texaner, das alles hatte der Marshal in der kurzen Zeit schon untersucht? Man konnte wirklich eine Menge von ihm lernen.
»Wollen Sie hier rein?« flüsterte er.
Wyatt nickte: »Yeah. Hinter offenen Türen ist es selten interessant, Mister Short.«
»Wollen Sie das Schloß etwa aufsprengen?«
»Um Himmels willen. Glauben Sie, ich schleiche hier eine halbe Stunde um das Haus, um mir dann die ganze Bewohnerschaft auf den Hals zu hetzen?«
Short hatte das Schloß abgetastet.
»Aber das ist ein Chikagoschloß. Das können Sie nicht einfach mit einem Schraubenzieher herausnehmen.«
»Das habe ich auch gar nicht vor.«
»Wie wollen Sie es denn öffnen?«
»Ich werde mir den Schlüssel holen.«
»Von wem?«
»Wer wird ihn wohl haben? Der Rancher.«
»Sie wollen zu Croydon?«
»Yeah.«
»Und wie wollen Sie ihn finden? In diesem Kasten gibt es doch wenigstens zwölf Zimmer.«
»Wir müssen ihn suchen.«
»Das kann ja heiter werden«, gab der Riese lautlos zurück. »Ich kann nicht gerade behaupten, daß es langweilig bei Ihnen ist, Marshal.«
Luke Short beugte sich zu Wyatt hinüber.
»Vielleicht schläft Croydon in diesem Zimmer.«
»Hätten Sie sich dieses Zimmer ausgesucht, wenn Sie der Rancher wären?«
»Ganz sicher nicht.«
»Wo würden Sie schlafen?«
Der Tex wies mit der Hand nach oben.
»Eben«, antwortete Wyatt und setzte sich in Bewegung.
Die Leute auf der Croydon Ranch mußten einen sehr guten Schlaf haben, sonst hätte sie zumindest der dumpfe Aufschlag, den der aus dem Fenster gezerrte Körper des überwältigten Hausbewohners verursacht hatte, wecken müssen. Die beiden Eindringlinge bewegten sich allerdings so, daß sie nicht gehört werden konnten. Wyatt hatte gleich vorn im Zimmer seine Stiefel ausgezogen, und Luke war sofort seinem Beispiel gefolgt. Die Unterhaltung der beiden war so leise geführt worden, daß sie nur von einem Menschen hätte vernommen werden können, der sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand.
Sie schlichen ins Obergeschoß. Als sie den Korridor erreichten, zuckte Wyatt zurück.
Vor der Tür, rechts neben der Treppe, lag ein großer Hund.
Wyatt flüsterte dem Texaner das Wort »Dog« ins Ohr.
Muß der Köter einen gesunden Schlaf haben, dachte der Texaner.
Wyatt bückte sich und kratzte mit dem Fingernagel leicht über den Fußboden.
Der Hund rührte sich nicht. Wyatt kratzte lauter, und als das Tier auch darauf nicht reagierte, ahmte er das leise Miauen einer Katze nach.
Ächzend richtete der Hund sich auf und kam an die Treppe.
Gedankenschnell hatte Wyatt seine Rechte um die Schnauze des Tieres gespannt. Aber der alte Tierfreund in ihm merkte sofort, daß der Hund nur etwas erschrocken war, aber nicht die mindesten Anstrengungen machte, sich loszureißen. Vorsichtig gab der Marshal ihn frei.
Der Hund beschnüffelte den Fremden und ließ sich sogar von ihm streicheln.
»Gemütshund«, meinte der Texaner kopfschüttelnd.
»Er ist uralt«, erklärte Wyatt.
»Glauben Sie, daß er vor der Tür des Ranchers lag?«
»Ich vermute es.«
Der Rancher würde es wohl kaum seinen Leuten gestatten, ein so altes Tier im Hause zu lassen. Der Hund gehörte ihm wahrscheinlich selbst. Und vielleicht war dies auch der Grund, weshalb er keinen anderen Hund auf den Hof genommen hatte. Wyatt kannte genug Leute, die mit einer wahren Affenliebe an ihren steinalten Hunden hingen.
Wie aber würde das Tier sich verhalten, wenn der Fremde versuchte, die Zimmertür zu öffnen?
Er bedeutete dem Texaner, sich mit dem Hund zu befassen, ließ seine Stiefel an der Treppe zurück und huschte auf die Tür zu.
Der Riese kraulte unterdessen dem zottigen Vierbeiner das Fell. »Komm her, Methusalem, und erzähl’ mir mal einen Schwank aus deinem Leben.«
Der Missourier hatte indessen den Drehgriff in der Hand und bewegte ihn vorsichtig nach rechts.
Die Tür war unverschlossen!
Behutsam öffnete er sie. Glücklicherweise waren die Angeln geschmiert, so daß sie nicht quietschten. Aber Wyatt hatte sie vorsichtshalber schon etwas angehoben.
Der Marshal vernahm die gleichmäßigen Atemzüge eines Mannes.
Tief an den Boden geduckt suchte er die Gegenstände im Raum gegen das Fenster zu erkennen. Links in der Ecke stand ein schwerer Schrank, und davor ein Tisch mit zwei Stühlen. Rechts war das Bett.
In dem diffusen Licht konnte Wyatt den Schlafenden erkennen: es war Lester Croydon. Er sah, daß der Rancher ihn nicht bemerkt hatte und etwa einen Revolver unter der Decke bereithielt, denn seine Hände lagen beide oben auf der Decke.
Und vorn auf dem Tisch lag neben der Tabaksdose und einer Maiskolbenpfeife ein großer Schlüsselbund.
Der Missourier brachte ihn vorsichtig an sich und verließ den Raum ebenso lautlos wie er hereingekommen war.
Luke Short saß noch bei dem Hund auf der Treppe.
»Nichts?« flüsterte er.
Wyatt klirrte leise mit den Schlüsseln.
Da kicherte der Texaner in sich hinein. »Sie sind ein Teufelskerl, Wyatt! – So, Big Bully«, flüsterte er dem Hund zu, »nun halt mal weiter schön Wache und laß dich nicht aus der Ruhe bringen!«
Wenige Minuten später standen sie wieder unten vor der verschlossenen Tür.
Wyatt probierte vorsichtig einen Schlüssel nach dem anderen. Der vierte paßte. Fast wäre die Tür von selbst aufgesprungen, aber der Missourier konnte sie noch fassen. Sie knarrte erschreckend laut.
Wyatt hielt inne und lauschte. Im Haus blieb alles still.
Die beiden schoben sich in den finsteren Raum.
Das Fenster war mit einem dicken Vorhang verhängt.
Nachdem die beiden festgestellt hatten, daß sich kein Mensch in dem Zimmer befand, tastete sich der Marshal an der linken Wand zum Fenster vorwärts.
Luke Short hielt sich rechts – und stieß plötzlich an etwas Metallenes.
Wyatt war sofort bei ihm.
»Eine Wendeltreppe!«
»Yeah – und sie führt nach unten!«
Der Marshal hatte also recht gehabt:
Das Ranchhaus besaß tatsächlich einen Keller!
Die beiden stiegen die enge Metalltreppe hinunter – und standen vor einer schweren Bohlentür, in die oben ein winziges vergittertes Fensterchen eingelassen war.
»Hell and devils!« meinte der Texaner heiser, »wenn das nicht die interessanteste Ranch von ganz Kansas ist, heiße ich Jeroboam!«
Wyatt riß für einen Augenblick ein Zündholz an.
»Sie hat zwei Außenriegel!« flüsterte er dem Texaner zu.
Als sie die Riegel zurückgeschoben hatten, ließ sich die Tür unter einem tackenden harten Knarren öffnen.
Wyatt riß wieder ein Zündholz an.
Sie standen in einem kurzen Kellergang, an dessen Ende wieder eine Tür war, die ebenfalls mit zwei Riegeln gesichert war.
Als Wyatt den ersten Riegel berührt hatte, zuckte er zusammen. Ein winziges Geräusch war an sein Ohr gedrungen.
»Was gibt’s?« wollte Short wissen.
Wyatt stieß ihn an. Der Riese verstand. Und dann hörte er das Geräusch auch. Es war ein leises Scharren oder Schleifen.
Der Marshal beschloß, einige Minuten zu warten. Reglos verharrten sie vor der Tür.
Dann schob der Missourier den zweiten Riegel Millimeter um Millimeter zurück.
Der Texaner hatte beide Fäuste um den Griff gespannt, damit die Tür nicht aufspringen konnte. Ganz langsam gab er nach.
Eine feuchte stickige Moderluft schlug ihnen entgegen.
Wyatt hatte den Revolver in der Linken.
Der Raum war vollständig dunkel – und doch spürte der Marshal, daß sie nicht allein waren.
Daß sich ein lebendes Wesen hier aufhielt.
Ein Mensch!
Die Rechte des Missouriers tastete zum Colthalfter des Riesen hinüber.
Der war leer.
Luke Short hatte also auch eine Waffe gezogen.
Wyatt drückte ihn nieder. Sie mußten sich tief an den Boden kauern.
Da – hinten aus der absoluten Finsternis des Kellerraumes kam ein schleifendes Scharren.
Wyatt schob sich tief am Boden vorwärts.
Luke Short hatte sich ebenfalls von der Tür entfernt.
Plötzlich hatte er ein Hindernis vor sich. Einen Schrank. Er richtete sich dahinter auf und lauschte.
Wieder war dieses Scharren zu hören.
Da nahm der Marshal ein Wachszündholz aus der Tasche, riß es an und warf es über den Schrank nach vorn.
Hart knackte im gleichen Augenblick der Revolverhahn des Texaners.
Wyatt lag links neben dem Schrank. Und beide hatten sie das makabre Bild vor Augen: In der Ecke lag ein Mensch am Boden. Er war gefesselt und geknebelt, sah elend und krank aus. Eine wahre Leichenblässe lag auf seinem Gesicht.
Wyatt riß noch ein Zündholz an und leuchtete den Raum weiter aus.
Er war bis auf den alten Schrank und einen Hocker leer.
Dann standen die beiden vor dem Gefesselten.
Wyatt bückte sich und zerschnitt die Riemen. Dann richtete er den Mann in sitzende Stellung hoch.
Die beiden sahen in ein stoppelbärtiges kalkiges Gesicht, aus dem ein blutunterlaufenes Augenpaar hervorsah.
»Degorey…?« entfuhr es dem Marshal.
Der Mann keuchte: »Yeah – wer – wer sind Sie?«
»Mein Name ist Earp!«
Der Mann wandte das Gesicht von dem zuckenden Licht des Zündholzes ab. Seine Augen schmerzten.
Plötzlich fuhr Wyatt herum. »Luke, an die Tür!«
Der Riese tigerte los.
Aber es war zu spät! In diesem Augenblick wurde die schwere Bohlentür von außen zugeschlagen und die beiden Riegel vorgeschoben.
Mit seinem ganzen Gewicht hatte sich der Texaner dagegen geworfen – aber vergebens.
Degorey keuchte mit pfeifenden Lungen: »Er ist schnell, der Satan! – Statt eines Gefangenen hat – hat er jetzt drei!«
»Noch nicht!« stieß der Riese grollend hervor und richtete die beiden Revolver dahin, wo er die Riegel wußte.
Die Schüsse peitschten los. Donnernd brach sich ihr Echo in dem hohlen gemauerten Kellerraum.
Luke Short gab noch vier Schüsse ab.
Aber die schenkeldicken Bohlen fingen die Geschosse auf, ohne sie durchzulassen.
Ein höhnisches Gelächter aus dem Gang war die Antwort.
Es war die Stimme Ernest Broncys.
Luke Short lud seine Revolver nach.
»Das hat keinen Zweck«, sagte Wyatt halblaut. »Die Bohlen fangen die Kugeln doch ab.«
»Ihr seid verloren«, ächzte Degorey, »verloren wie ich! Ihr Wahnsinnigen! Was wolltet ihr auch hier? Mich – mich befreien? Welch ein Wahnsinn. Niemand kommt gegen ihn an – er ist ein Teufel!«
»Von wem sprechen Sie?«
»Von dem Boß!«
»Von Croydon?«
»Croydon? Nein, wie kommen Sie auf den, Mister…?«
»Earp.«
»Earp? He, sind Sie – etwa…?«
»Yeah, er ist Wyatt Earp und ich bin Luke Short«, sagte der Texaner ungeduldig. »Aber berichten Sie doch weiter! Wer ist denn der Boß, wenn es nicht Croydon ist? Wir sind doch hier auf Croydons Ranch.«
»Was…?« Degorey atmete schwer. »Auf Croydons Ranch? Unmöglich! Als ich – von der Overland gerissen wurde, war ich zwar ohnmächtig – und wurde weggeschleppt. Aber ich habe doch dann bemerkt, daß wir nach Süden ritten. Die Croydon Ranch aber – aber liegt doch im Norden.«
»Sie werden sich getäuscht haben, Degorey«, sagte Wyatt.
»Nein. Ganz sicher nicht.«
»Vielleicht hat man Sie erst ein Stück südwärts weggeschleppt, um Sie dann später nach Norden zu bringen.«
Der Overlandmann atmete mit pfeifendem Geräusch. »Yeah – vielleicht war es so. Und Sie – Sie sind also Wyatt Earp! Das – kann doch nicht wahr sein! Sind Sie gekommen – um mich zu befreien?«
»Ich wußte nicht, daß Sie hier sind, aber ich hatte eine Ahnung, daß ich mich hier einmal umsehen müßte.«
»Wyatt Earp«, ächzte Degorey. »Wyatt Earp ist gekommen – um mich, den nutzlosen Jim Degorey zu befreien – und sitzt jetzt selbst im Loch! Und Luke Short – ist auch dabei! Damned! Damned! Damned!« Er hieb mit seinem Schädel gegen die Kellermauer und rutschte plötzlich zur Seite.
»Was hat er?« fragte der Tex.
»Er ist ohnmächtig.«
»Weshalb hämmert er auch mit seinem Schädel gegen die Mauer. Das hält ja kein Neger aus.«
»Es ist nicht nur deshalb – es ist der Schock.«
Es war eine Weile still; man hörte nur das unruhige Atmen des unglücklichen Postmasters aus Abilene.
Wyatt hatte ihn wieder aufgerichtet und rüttelte ihn.
»Degorey. Kommen Sie zu sich!«
»He…?« Der Postmaster rutschte wieder zur Seite.
Wyatt fing ihn auf. »Mister Degorey, Sie müssen tief durchatmen. Yeah, so. Bleiben Sie liegen. Das ist besser. So, ja, recken Sie sich richtig aus.«
Luke Short kratzte sich im Genick.
»Wie lange mag der arme Teufel hier schon stecken?«
»Das können Sie sich doch ausrechnen.«
Mit krächzender Stimme erklärte da der Mann aus Abilene:
»Ich – habe elenden – Durst! Sie lassen uns hier krepieren! Und er kommt einmal in der Nacht. Es ist bald soweit! Dann – seid auch ihr fällig – fällig…«
Wyatt Earp suchte den Mann zu beruhigen. Dann richtete er sich auf.
»Aus dem, was er gesagt hat, ist ja wohl zu schließen, daß wir bald Besuch bekommen. Ich glaube, es ist am besten, wenn sich einer von uns hinter den Schrank postiert und der andere neben der Tür.«
»All right. Ich bleiben neben der Tür. Und wehe dem, den ich zu packen kriege, der hat die letzten Steaks gegessen!«
»Vorsicht!« mahnte Wyatt. »Ich habe oben in der Tür ein zweiäugiges Guckloch bemerkt. Ich könnte mir gut vorstellen, daß die Halunken es als Schießscharte benutzen.«
»Da vorne steht ein Schemel«, entgegnete Luke, »den werde ich davorhalten.«
»Vielleicht haben sie noch weitere Schießscharten hier.«
»Ich sagte ja schon«, meinte der Tex, »die Sache läßt sich heiter an.«
Wyatt tastete weiter die Wände ab.
»Ein Fenster gibt’s hier nicht. Aber irgendwo muß doch die Luftzufuhr sein, die ich draußen neben dem Eingang vorhin entdeckt habe.«
Mitten im Abtasten einer der feuchten Wände hielt der Marshal inne.
Auch Luke Short, der gerade den Schemel geholt hatte, blieb stehen. Draußen waren zwei dumpfe Schüsse gefallen, und ihr Geräusch wurde abgeschnitten und zerrissen von dem harten Stakkato zweier bellender Revolver.
»Doc Holliday!« entfuhr es Wyatt.
»Yeah!« brüllte der Tex. »Hell and devils, den habe ich ganz vergessen!«
Degorey fuhr stöhnend hoch.
»Doc Holliday? Er – ist auch hier?«
»Yeah, Boy«, entgegnete der Texaner. »Das bellende Husten, das du da vorhin gehört hast, das war seine Stimme. Du kannst dich darauf verlassen, daß wir die aus hundert anderen Revolverstimmen durch noch dreimal so dicke Mauern hindurch erkennen würden.«
Mit brennenden Augen starrte der Overlandmann in die Finsternis. Der Hoffnungsfunke, der so heiß für eine Minute in seine Seele gefallen war, erlosch schon wieder.
»Sie haben ihn eingekreist«, krächzte er. »Sie machen ihn fertig.« Aber draußen blieb alles still.
Da schrie Degorey gellend:
»Da habt ihr es! Sie haben ihn – fertiggemacht! Fertig, wie mich! Wie mich!« Röhrend gellte der Schrei durch den hohlen Kellerraum.
»So beruhige dich doch, Junge«, meinte der Texaner. »Es ist doch Unsinn, was du da sagst. Den Doc macht keiner mit dem Revolver fertig. Und wenn du richtig zugehört hättest, dann wäre dir aufgefallen, daß nach seinen Schüssen Stille herrschte. Verlaß dich darauf, Jimmy: er holt uns hier raus. Und wenn er jedes Brett und jede Planke einzeln von diesem Laden hier herunterschießen müßte.«
Wieder richtete sich der unglückliche Overlandmann hoch, stützte sich auf die Hände und kauerte mit zitternden Armen da. Wie in all den Tagen und Nächten, die er hier steckte, waren seine Augen weit aufgerissen, wie immer, wenn er glaubte ein Geräusch gehört zu haben.
Im Kellergang dröhnten Schritte.
»In Deckung!« zischte Wyatt. Er selbst packte Degorey mit sich und zerrte ihn hinter den Schrank.
An der Tür war ein kratzendes Geräusch, und Wyatt deutete es ganz richtig, als er vermutete, daß ein Revolverlauf durch eines der beiden zuklappbaren Löcher geschoben wurde. Ein hartes, splitterndes Krachen ließ den ganzen Raum erdröhnen.
Luke Short hatte den schweren Schemel mit einem wuchtigen Schlag gegen die Tür gehämmert.
Draußen löste sich ein Schuß. Schrill drang ein Schrei durch den Kellerraum.
»Sie haben den Colt zurückgeschlagen!« brüllte jemand im Gang.
»Werft die Klappe zu!« antwortete die Stimme des Vormanns.
Gerade als der Texaner mit seinem Colt den Trichter der Schießscharte gefunden hatte, flog oben die Klappe zu.
Der Lärm draußen im Kellergang verebbte. Und dann herrschte wieder tiefe Stille, die von der rostigen Stimme des Abilene Postmasters zerrissen wurde.
»Na, was habe ich gesagt? Wo ist er denn – euer Doc? Sie haben ihn fertiggemacht!«
»Reg dich nicht auf, Jim«, suchte der Texaner ihn zu beruhigen. »Wenn es sein muß, holt er uns aus der Hölle.«
Der Missourier war wieder damit beschäftigt, die Wand abzutasten. Endlich hatte er das gefunden, was er suchte. Den Luftschacht.
»Luke. Sie haben doch ein Bowiemesser bei sich?«
»Na klar.« Der Hüne tastete sich heran.
Wyatt hatte den Schrank quergelegt, zerrte ihn an die Mauer und stellte sich darauf.
Short reichte ihm das Messer.
Das kratzende spachtelnde Geräusch ließ den Texaner ahnen, was der Marshal vorhatte.
»Sie haben die Lüftung gefunden?«
»Yeah.«
»Und wollen jetzt einen Stein rausbrechen?«
»Ich versuche es. Der Mörtel ist schlecht und brüchig.«
Der Texaner riß einen seiner Sporen von den Stiefeln, stieg auch auf den Schrank und ließ sich von dem Missourier mit der Hand an den Stein führen.
»All right. Ich versuche die andere Seite zu lockern.«
Die beiden arbeiteten wie wild darauflos.
Mörtelstücke und Steinsplitter prasselten auf den Schrank hernieder, und nach zwanzig Minuten war Wyatt mit dem Messer so tief um den Stein vorgedrungen, daß er ihn bereits mit beiden Händen packen konnte.
»Wir müssen es zusammen versuchen.«
Sie legten ihre »Werkzeuge« nieder und krallten ihre Finger in den Stein. Gemeinsam zerrten sie daran.
Beim dritten Ruck knirschte es in der Deckenmauer.
»Na wartet nur, Boys. Einen faulen Zahn werden wir euch gleich ziehen.«
Mit Berserkerkräften rissen die beiden starken Männer an dem Stein. Es war ein großer behauener Felsstein, der die Lüftung nach unten bis auf einen dünnen Spalt verschloß.
Schon wollte der Marshal das Messer wieder in die Hand nehmen, als der Stein plötzlich nachgab und den Texaner mit sich zu Boden riß.
In das Prasseln der Mörtel- und Mauerstücke hinein rief der Missourier besorgt:
»Was passiert?« Er war vom Schrank gesprungen und tastete nach dem Riesen.
»Nicht doch«, kam da dessen Stimme aus dem Staubwirbel. »Das Ding war schwerer als ich und hatte es eiliger auf den Boden zu kommen. Ich habe nur meinen Hut verloren.«
Auch Wyatt hatte die Augen voller Mörtelstaub. Trotzdem war er gleich wieder oben und tastete die Öffnung ab.
»Zounds! Da ist ja ein richtiger Schacht!«
Tatsächlich hatte das Rancherhaus Lester Croydons also nicht nur ein Unterkellergang, sondern auch einen echten Luftschacht dazu. Eine höchst merkwürdige Sache im Westen.
Wozu brauchte der Rancher einen solchen Raum? Das war ja ein perfektes Verlies. Ein Gefängnisloch, das unauffindbar war.
Fast unauffindbar.
Der Missourier zog sich an zwei vorspringenden Mauerkanten hoch und zwängte sich in den Schacht. Nur mühsam kam er vorwärts. Das Luftloch wurde immer enger. Dennoch verspürte Wyatt die frische Luft immer deutlicher und stärker.
In diesem Moment fielen unten im Kellergang Schüsse.
Und gleich darauf fraß sich das harte Bellen der Revolver des Gamblers dazwischen.
Luke Short jubelte auf. »He, Jimmy, hast du das gehört? Das ist Musik in meinen Ohren, verstehst du?«
Wieder bellten die Sixguns des Georgiers draußen. Diesmal schon erheblich näher.
»Jim, steh auf!« dröhnte die Stimme des Riesen durch den Kellerraum. »Da kommt Doc Holliday!«
Der Overlandmann raffte sich auf und lehnte sich schwankend an die Wand.
An der Tür waren jetzt Geräusche. Mit harten Stößen wurden die Riegel zurückgeschlagen.
Die Tür sprang auf.
Fackelschein drang in den Raum.
»Doc Holliday!« rief der Texaner.
Der Gambler stand in der Tür, in der Linken die Fackel, in der Rechten den Revolver. Zuckend tanzte das rotgelbe Licht durch den Raum und zerfraß die Finsternis.
»Wo ist der Marshal?«
Luke Short deutete in die Ecke. Dann zog er die Brauen zusammen. »He, da war er eben noch!«
Er rannte auf die Ecke zu und sprang auf den Schrank.
»Wyatt!«
»Yeah!« kam es dumpf aus dem Kamin zurück.
»Wir können raus. Doc Holliday ist hier!« Luke Short kam wieder zur Tür zurück.
»Er war schon halb draußen, Doc. – Wie haben Sie uns gefunden?«
»Als ich Ihren Revolver hörte…«
»Sie haben meinen Revolver gehört? Ich dachte, Sie wären im weiten Bogen um die Ranch herumgeritten?«
»Yeah – und als ich dann vorn an der Ecke des Geräteschuppens stand, hörte ich Ihre Schüsse. Bald darauf tauchten Männer auf dem Vorbau des Ranchhauses auf. Wir gerieten aneinander. Schließlich sagten mir Ihre Schüsse, daß sich da drinnen etwas tat.«
»So, ihr gerietet aneinander?« meinte der Tex grinsend.
Wyatt Earp rutschte aus dem Schacht zurück auf den Schrank, sprang auf den Boden und meinte:
»All right, Doc. Sie waren schneller!«
Er nahm Degorey am Arm und stützte ihn.
»Wie sieht’s aus, Doc?«
»Ich hatte erst mit dreien und dann noch einmal mit zweien zu tun. Aber die kamen alle hier aus dem Haus. Möglich, daß Croydon jetzt die Kerle aus dem Bunkhaus herhetzt!«
»Vorwärts«, sagte Wyatt Earp.
Der Gambler verlöschte die Fackel und ging voran.
»Wo sind denn die fünf?« zischelte der Texaner.
»Sie ruhen sich aus. Das heißt, einige sind getürmt…«
Sie stiegen die Wendeltreppe hinauf, und als Wyatt die Flurtür öffnen wollte, schlugen ihnen hämmernde Schüsse entgegen.
»Miserabel!« fauchte der Riese. »Jetzt stecken die Boys im Gang. Haben sie sich fein ausgedacht. Wir sitzen zwar nicht mehr im Mauseloch, aber doch noch fest.«
Da zündete Holliday die Fackel wieder an, riß die Tür auf und schleuderte den brennenden Pechstock weit in den Flur.
Wyatt Earp packte sofort den Tisch, der neben der Tür stand, und schob ihn hinaus.
Im nächsten Augenblick knieten die beiden hinter der dicken Holzplatte.
Und wieder hämmerten und bellten Schüsse durch das Haus.
Der Hüne lachte laut auf. »Raffiniert! Was, Jimmy? Der ganze Flur ist hell. Sie sehen alles und stecken selbst in Deckung. Ja, Boy, Köpfchen muß man haben. Und jetzt paß
auf. Jetzt kommt Onkel Luke aus Texas!«
Der Riese rannte los, riß den Vorhang vom Fenster, kam wieder zurück und stürmte erneut los. Zu Degoreys Entsetzen warf er sich wie eine Kugel durchs Fenster auf die Veranda.
Der Overlandmann hatte vor Entsetzen den Atem angehalten. Er konnte ja nicht wissen, daß der Kugelsprung durchs geschlossene Fenster zu den »Spezialitäten« des Texaners gehörte.
Scherben klirrten, Holzstücke barsten und splitterten, und draußen brüllten die Revolver des Riesen
auf.
Doc Holliday stieß den Marshal an.
»Er ist schon draußen.«
»Yeah, habe ich gehört.«
Die Cowboys hatten den Korridor geräumt. Als sie aber die Tür zum Hof aufrissen, peitschten ihnen Schüsse entgegen.
»He, Joe!« brüllte einer der Croydon-Leute!«
»Bist du verrückt? Du sollst auf die anderen feuern, nicht auf uns!«
Aber der kleine Joe Fint war schon ausgeschaltet. Der erste Schuß des Riesen hatte ihn aus der Sache herausgenommen.
»Ist Croydon noch bei euch?« rief der Marshal durch den Korridor.
Es herrschte einen Augenblick Stille, dann antwortete der Cowboy, der nach Joe Fint gerufen hatte:
»Nein.«
»Dann hört genau zu. Ihr sitzt in der Patsche. Aber ihr habt eine Chance! Verschwindet in Indianerlinie hinüber ins Bunkhaus!«
Wieder blieb es fast eine Minute still. Dann rief der vorherige Sprecher:
»Wir wissen überhaupt nicht, was los ist!«
»Eben, deshalb verschwindet ihr jetzt, sonst erfahrt ihr es in der Hölle!« rief der Spieler rauh zurück.
Die Cowboys machten sich langsam davon.
Luke Short hatte den Wortwechsel gehört und ließ sie passieren.
Wyatt kam ans Fenster.
»Kommen Sie, Luke. Wir verlassen das Haus auf der Rückseite.«
»Aber unsere Pferde?«
»Die holt Doc Holliday schon.«
Als der Gambler kam, hatte er sogar ein viertes Pferd. »Es langweilte sich im Corral«, meinte er, als er sich hinaufzog.
Wyatt Earp hob den Overlandmann in den Sattel des Schecken. Leider war Jimmy Degorey so schwach, daß der Marshal ihn stützen mußte.
Dann ging es nach Südosten davon.
*
Nach einer Meile hielt der Missourier an.
»Wir müssen ein paar Minuten anhalten. Degorey ist ziemlich down.«
Holliday kam heran, holte etwas aus der Satteltasche seines Schecken und hielt es dem völlig Erschöpften unter die Nase.
Degorey hob den Kopf. »Ah…!« Er holte tief und kräftig Luft.
»Was ist denn das wieder für ein Zauberzeug?« meinte der Texaner.
»Whisky«, entgegnete der Spieler kurz.
Luke Short feixte. »Hätte ich mir doch denken können. Der Doc schleift aber auch alles mit sich herum…«
*
Als sie nach Abilene kamen, war Degorey am Ende.
Wyatt brachte ihn sofort in die Poststation. Dann kümmerte sich Doc Holliday um ihn.
»Es ist nur Schwäche. Wahrscheinlich haben die Hunde ihn so eben am Rand des Verhungerns und Verdurstens entlangrutschen lassen.«
»Was mögen sie von ihm gewollt haben?« fragte der Tex. Holliday hatte die Frage richtig verstanden: Weshalb lebt er überhaupt noch? Weshalb hatten sie ihn nicht umgebracht?
Jonny Vancelar bekam vor Verblüffung den Mund nicht mehr zu.
»Mister Degorey! Sie leben! Heiliger Himmel! Ihre Frau – soll ich sie rufen?«
»Yeah«, entgegnete Wyatt, »aber noch nicht. Er muß erst etwas zu sich kommen.«
»Und er war tatsächlich auf der Croydon Ranch?« stotterte Vancelar. »Das ist doch…«
»Yeah«, stimmte ihm Luke Short zu, »das ist doch wohl das Letzte!«
Jimmy Degorey war befreit. Er war zwar ziemlich mitgenommen, hatte aber höchstwahrscheinlich keine größeren Schäden durch seine Gefangenschaft erlitten. Er behauptete steif und fest, nicht auf der Croydon Ranch gewesen zu sein, sondern irgendwo im Süden in einem Steinhaus, bei einem alten Mann, der einige Knechte bei sich hatte…
Damit ließ sich natürlich wenig anfangen. Croydon hatte es so eingerichtet, daß der Overlandmann ihn nie belasten konnte. Aber was hatte das Ganze für einen Sinn, was für ein Ziel verfolgte der brutale Gewaltmensch eigentlich?
Und wo war Bill Norton?
*
Genau um elf startete die Postkutsche. Wyatt Earp saß auf dem Kutschbock. Und seine beiden Gefährten saßen im Passagierraum. Es waren noch zwei weitere Männer zugestiegen. Gestalten, wie nur der Westen sie ausspucken konnte: Der eine hatte ein fahles hageres Gesicht, das von einem Stoppelbart noch in seiner Scheußlichkeit unterstrichen wurde. Das linke Auge war durch eine Wunde so verletzt worden, daß der Mann es nur noch einen Spaltbreit öffnen konnte. Er hatte einen aufgeworfenen brutalen Mund und dichte schwarze Brauen. Zu seinem mißfarbenen Hut trug er ein verwaschenes rotes Halstuch, ein altes schmutziges blaues Hemd und eine Cordjoppe. Tief rechts an seinem Oberschenkel baumelte ein achtunddreißiger Revolver. Er hatte noch etwas an sich, etwas, das den Marshal unwillkürlich an Lester Croydon erinnerte: er trug Wapitihandschuhe. Nur waren sie nicht mehr neu und gelb wie die des Viehzüchters, sondern alt und fast braun.
Der andere war jünger, hatte ein volleres, aber ebenfalls von einem häßlichen Stoppelbart entstelltes Gesicht, eine Schlägernase und kleine harte zurückliegende Augen. Er trug einen blauen Schal und ein braunes Hemd. Auf dem Arm hatte er eine Pelzjacke.
Luke Short und Doc Holliday saßen wie Ölgötzen da und musterten die beiden.
Wyatt Earp hatte Jimmy Degoreys Frau eingeschärft, noch strengstes Stillschweigen über alles zu bewahren. Die Frau hatte es ihm schluchzend vor Ergriffenheit über die Rückkehr ihres totgeglaubten Mannes in die Hand versprochen.
Jonny Vancelar stand an der Tür und sagte leise:
»Sie können sich auf mich verlassen, Marshal. Mister Degorey liegt im Nebenraum, und da sieht und hört ihn niemand. Seine Frau hat versprochen, nicht wiederzukommen, bevor Sie zurück sind. Ich passe schon auf!«
Wyatt drückte ihm die Hand.
Die Overland zog an.
In schneller Fahrt ging es nach Westen. Ausgedörrt von der sengenden Julihitze lag die Prärie unter dem blaßblauen Kansashimmel.
Der Missourier lenkte das Gespann mit großem Geschick über die nicht eben leichte Strecke. In einer riesigen Fontäne stieg der Sandstaub hinter der Overland hoch und bildete einen Nebel, der sich erst nach Minuten legte.
Solomon tauchte am Horizont auf.
Da schob der Hagere mit dem Spaltauge seinen Schädel durchs Fenster.
»Driver! Dri-iver!«
Wyatt sah sich um.
»Halten Sie an! Ich muß hier aussteigen!«
Wyatt hielt vor der Bar des Iren die Kutsche an.
Der Hagere stieg aus. Als er den Wagenschlag noch in der Hand hatte, flog die Hand des anderen plötzlich zum Revolver.
Zu spät. Der Tramp hatte das Pech, dem Mann gegenüberzusitzen, auf dessen Grabstein oben in den Felsenbergen Colorados einmal stehen würde: Er war ein großer Spieler und der schnellste Mann mit einem sechsschüssigen Revolver im Westen.
Doc Holliday hatte den Revolver in der Hand.
Der Tramp hielt in der Bewegung inne und starrte den Gambler gebannt an.
Der andere, der am Wagenschlag stand, wollte seinen Revolver hochreißen, wurde aber im gleichen Moment von der Stiefelspitze des Texaners an der Hand getroffen und brüllte auf.
In diesem Augenblick kamen aus der Präriebar des Iren mehrere Männer und stürmten auf die Kutsche zu.
Die Croydons! Ted Riccer und Lerry Beech erkannte Wyatt sofort. Die verkappten Cowboys rannten im wilden Schreien vorwärts.
Luke Short hechtete ihnen wie ein Tiger entgegen, riß Beech um und hieb einem zweiten Mann einen krachenden Backhander unter die Kinnlade.
Der hagere Tramp wollte sich von hinten auf den Riesen werfen, wurde aber von dem Missourier, der vom Kutschbock sprang, zu Boden gerissen!
Doc Holliday sagte ganz ruhig zu dem anderen Tramp, der ihm noch immer steif gegenübersaß:
»Heb deine Pfoten hoch, Junge. Ganz hoch, höher!«
Mit einem gedankenschnellen Griff hatte er den Revolver des anderen an sich gebracht.
»Aussteigen«, befahl er, »aber nach links!«
Der Mann gehorchte.
Holliday folgte ihm. »Vorwärts, geh um die Kutsche herum. Du kannst deinen Kameraden helfen – aber – oh, die haben keine Lust mehr!« bemerkte er ironisch mit einem Blick auf das von Wyatt Earp und Luke Short bereits sauber aufgeräumte Feld.
Die »Cowboys« waren schon entwaffnet.
Wyatt warf die Revolver in die Overland. Dann ging er auf die Schenke zu.
Der Ire stand am Fenster und sah sich erschrocken um.
»Wissen Sie, Stapp, seit Sie die Overland fahren, geht es hier im Land ja ziemlich rauh zu. Sitten sind das. Weshalb haben Sie denn die Leute da alle verprügelt? Das sind doch Gäste von mir, die ein paar Kameraden erwarteten…«
Wyatt hatte die Tür krachend hinter sich ins Schloß geworfen und stand mit gespreizten Beinen da.
»Vorsicht, Irishman, wenn ich noch einmal hier von dieser Bande angegangen werde, werde ich anders zuschlagen. Im übrigen möchte ich Ihnen sagen, daß Sie nicht sehr stolz auf diese Gäste sein können, und daß Sie sich ein paar Dollars, die die Brüder Ihnen bringen, eines Tages in einer Gerichtsverhandlung vielleicht einmal von der Seele werden reden müssen!«
Die Salina Overland fuhr weiter.
Unangefochten kam sie bis an die Stelle, an der Sheriff Bride den Wagen mit dem geborstenen Hinterrad gefunden hatte.
Da peitschten plötzlich Gewehrschüsse von einer leichten Bodenerhebung auf den Fahrweg hinunter.
Wyatt riß das Gespann sofort herum, vom Weg weg, vergrößerte durch Antreiben der Tiere rasch den Abstand zu der Halde und hielt dann an.
Schnell spannten er und Luke Short zwei Tiere aus, nahmen ihre Gewehre aus dem Wagen und umritten in weitem Kreis die Halde.
Doc Holliday blieb beim Wagen.
Die beiden hatten kaum hundertfünfzig Yards zurückgelegt, als sie in der Ferne zwei Reiter auf schnellen Pferden nach Norden davonpreschen sahen.
Der Missourier hielt die Stute an. Auch der Tex hatte eingesehen, daß er mit dem Overlandpferd den beiden nicht folgen konnte. Wyatt rutschte von dem Pferderücken und nahm seinen einäugigen Feldstecher aus der Tasche.
Im flimmernden Glast des Nachmittags erkannte er wie durch einen Wasserschleier einen der beiden Reiter. Es war der lange Vormann Broncy!
*
Der Weg nach Salina war frei.
»Damned!« knurrte der Riese vor sich hin, »wenn die Leute sich das immer so bitter erkämpfen müssen, dann wüßte ich mir einen besseren Job.«
Noch vor fünf rollte die schwere Postkutsche vor der Station in Salina ein.
Was der Marshal vermutet hatte, war geschehen: Drüben vor dem Sheriffs Office standen zwei Pferde; eines davon war der Tupfschimmel Lester Croydons.
Jack Bride stieß die Tür des Office auf und brüllte dem Driver über die Straße zu:
»Stapp, verdammt noch mal, kommen Sie her!«
Wyatt stieg langsam vom Wagen, ließ sich Zeit, in Ruhe seine große schwarze Zigarre anzuzünden und ging auf das Sheriffs Office zu.
Hinter Bride tauchte jetzt die untersetzte bullige Gestalt des »Ranchers« auf. Neben ihm erschien der lange Broncy.
»Mister Croydon ist schon wieder mit einer dicken Beschwerde hier, Stapp. Sie geht wieder gegen Sie. In Solomon sollen Sie wieder eine Schlägerei angefangen haben, und dann haben Sie ihn und den Vormann unterwegs mit Gewehrschüssen angegriffen.«
Wyatt Earp stand unten vor der Treppe und sah an dem Sheriff vorbei in das harte, undurchdringliche Gesicht Lester Croydons. Es war ein Verbrechergesicht!
Der Marshal hatte es in der ersten Minute gewußt, als er dieses Gesicht sah.
Mit schweren Schritten stieg er die Treppe hinauf, ging an dem Sheriff vorbei auf Croydon zu.
»Hallo, Rancher. Freut mich, daß wir uns mal wieder treffen. Sie müssen übrigens tolle Augen haben!«
»Was soll der Blödsinn, Sheriff?« knurrte der Outlaw den Sheriff an. »Schaffen Sie mir den Kerl vom Hals, Bride, sonst muß ich es selbst tun.«
»Ach, tun Sie das doch«, kam da die harte Stimme des Texaners plötzlich von der Straße herauf.
Jack Bride zog die Brauen zusammen.
»Wer ist denn das?«
»Ein Freund von uns«, erklärte Wyatt ruhig.
Doc Holliday kam langsam um die Overland herum und blieb so auf der Straße stehen, daß er die beiden Desperados genau im Schußwinkel hatte.
Lester Croydon hatte den Blick von einem zum anderen genommen; dann warf er den Kopf herum.
»Sheriff, sehen Sie sich das doch an! Das sind doch Banditen! Ich habe es Ihnen doch gleich gesagt! Schauen Sie doch nur, wie sich die Kerle postieren, wie sie Aufstellung nehmen!«
Der Texaner feixte mit schiefgelegtem Kopf:
»Auch Fachmann, Kleiner? Klar, so etwas sieht nur der Spezialist!«
Croydon machte einen Schritt auf Bride zu.
»Sheriff, ich fordere Sie auf, uns vor diesen Männern zu schützen. Es sind Banditen, ich habe es Ihnen neulich schon gesagt. Und fällt Ihnen nicht auf, daß es immer mehr werden. Erst war es nur der da, dann kam der andere Bursche mit den scharfen Augen hinzu, und jetzt noch dieser riesige Kerl da! Sheriff, ich…«
»He, Kleiner, sprich etwas vorsichtiger von mir!« unterbrach ihn der Hüne. »Ich bin verdammt empfindlich.«
»Ich verlange von Ihnen, Sheriff, daß Sie dafür sorgen, daß Mister Callaghan Stapp und Hellmers sofort entläßt! Und weiter verlange ich, daß diese Kerle sofort verjagt werden. Seit sie hier sind, ist ja der Teufel los!«
»Der war schon vorher los, Mister Croydon«, entgegnete Wyatt schroff.
»Belästigen Sie den Boß nicht!« knurrte Broncy.
»Du hältst das Maul, Kurzer!« fuhr ihn der Texaner an, während er sich dicht hinter den Marshal schob.
Croydon stampfte mit dem Fuß auf.
»Weshalb reden Sie nicht, Sheriff!«
Da wandte Bride sich ihm zu.»Was soll ich denn noch sagen. Hier wird doch genug geredet.«
»Ah, da haben wir es! Sie haben Angst, Bride, ich habe es ja immer gesagt: Sie sind nicht der richtige Mann für Salina!«
»Yeah!« echote Broncy. »Er ist nicht der richtige Mann für diesen Job!«
»Vielleicht wärst du der richtige Mann dafür?« höhnte Luke Short.
»Sheriff! Handeln Sie augenblicklich!« trompete der »Rancher«, »sonst handeln wir!«
»Sie handeln doch dauernd!« sagte Wyatt Earp schroff. »Vor allem handeln Sie blitzschnell. Sie sind in Solomon nicht zu sehen, weil Sie nämlich am Hügelkamm unten vor der Wegschleife im Hinterhalt liegen, beobachten aber trotzdem die Prügelei in Solomon, und dann sind Sie wieder vor uns hier.«
»Man muß eben zusehen, daß man einen schnellen Gaul hat«, warf Luke Short wieder ein, »dann braucht man nur noch halb so viel Verstand.«
»Well«, lenkte Croydon ein, »wir verlassen die Stadt, Sheriff. Aber ehe wir reiten, will ich Ihnen noch etwas sagen: Heute nacht ist bei mir draußen auf der Ranch eingebrochen worden. Wenn ich nicht genau wüßte, daß diese Burschen gestern abend in Abilene waren, wo der eine da wieder auf meine Cowboys schoß, müßte ich sie im dringenden Verdacht haben.«
Luke Short sah den Marshal an. Weshalb handelte er nicht? Weshalb machte er nicht kurzen Prozeß mit den beiden Verbrechern? Aber sicher wußte der Missourier, was er tat. Wahrscheinlich hatte er einen triftigen Grund, noch zu warten.
»Stapp!« sagte der Sheriff mit unsicherer Stimme. »Sie haben die Beschwerde gehört! Was haben Sie dazu zu sagen!«
»Darf ich ihm antworten, Berry?« fragte der Tex, dem es in den Fäusten juckte.
Wyatt nickte.
Da trat der Riese dicht vor den Sheriff und erklärte:
»Was wir dazu zu sagen haben? Wir sind Strolche, Halunken, Diebe und Mörder. Nehmen Sie uns fest und hängen Sie uns möglichst ohne Verhandlung auf. Und dann vergessen Sie nicht, diesem Gentleman da Ihren Posten abzugeben. Und wenn Sie dann selbst eine blaue Bohne zwischen den Rippen haben, Mister Bride, dann sagen Sie dem lieben Lester Croydon noch mit brechendem Auge einen stummen Dank, weil er Sie von der Erdenqual erlöst hat.«
Bride schüttelte sich unbehaglich und trat einen Schritt zurück. Er wußte offensichtlich nicht, wie er sich verhalten sollte. Die drei Fremden waren ihm nicht geheuer; aber Croydon war ihm auch nicht genehm.
Da machte Wyatt diesem Auftritt ein Ende. »Wir haben Hunger, Sheriff. Wenn Sie sich überlegt haben, was Sie wollen, können Sie ja zu uns ins Boardinghouse kommen.«
In diesem Augenblick hatte der lange »Vormann« Ernest B. Broncy noch genau eine Minute zu leben. Er sah, wie Doc Holliday auf das Boardinghouse zuging. Dann sah er hinter dem Riesen her. Als Luke Short im Eingang verschwunden war, befand sich Doc Holliday noch drei Yards davon entfernt.
Wyatt Earp, der an dem Sheriff und den beiden Banditen vorbeigegangen war, noch sieben Yards.
Da geschah es.
Mit kieselharten Augen blickte der lange Broncy hinter dem Driver her. Er hatte sofort in ihm den Anführer der drei Fremden erkannt – und den gefährlichsten Mann.
Was wußte der? Und was hatte er vor? Damned, wie er ihn angesehen hatte! Als wollte er durch ihn hindurchsehen!
Dem Outlaw rissen die Nerven.
Ehe sein Boß ihn daran hindern konnte, riß er ein langes Wurfmesser hoch und schleuderte es mit dem heiseren Schrei: »Stapp, wehr dich!« hinter dem Marshal her.
Fast im gleichen Augenblick krachten zwei Revolverschüsse über die Stepwalks.
Wyatt Earp war gedankenschnell herumgefahren, mit dem Colt in der Hand. Er hatte sofort geschossen.
Und Doc Holliday, das Schießphänomen, das schon fast im Eingang gewesen war, er hatte die Bewegung des Banditen im letzten Moment noch im Augenwinkel bemerkt, war herumgeflogen und hatte den Schuß von der Hüfte abgefeuert.
Die Klinge steckte federnd im Rahmenholz der Tür. Sie hätte den Marshal genau hinten links im Rücken getroffen, wenn er nicht auf der Hut gewesen wäre.
Mit zwei Kugeln in der linken Brustseite tödlich getroffen, sank der Verbrecher Ernest B. Broncy nach hinten zurück und schlug hart auf die Vorbauplanken auf.
Luke Short war sofort draußen, mit dem Revolver in der Faust.
Er sah den Pulverrauch, das Messer und den stürzenden Outlaw.
»Aha«, sagte er nur, »der hatte es aber eilig!«
Croydon war leichenblaß geworden. Er stierte auf seinen gefällten Vormann und warf den Kopf herum.
»Mister Bride! Das war Mord! Ein doppelter Mord!«
Wyatt kam langsam zurück. Dicht vor dem »Rancher« blieb er stehen.
»Hören Sie gut zu, Lester Croydon. Ich habe jetzt genug von Ihnen geschluckt, wenn ich jetzt noch eine einzige Beleidigung von Ihnen höre, schlage ich Sie nieder! – Mord war das, was Ihr sauberer Vormann plante. Und vielleicht auch das, was Sie im Sinn hatten, als Sie Ihre Hand zum Colt schlugen. Nur die schnelleren Revolver hielten Sie auf.«
Wyatt hatte den Blick in den Augen des Sheriff gesehen.
»Mister Bride, sprechen Sie.«
Der Sheriff sagte dumpf:
»Yeah, Stapp hat recht. Broncy wollte ihn erstechen. Und Sie haben im Rücken des Drivers zum Colt gegriffen. Mister Croydon, ich fordere Sie auf, die Stadt zu verlassen. Nehmen Sie den Toten mit.«
Wyatt Earp verließ den Vorbau und verschwand in einer Nebengasse, langsam ging er durch die Häuserenge dem Stadtausgang zu. Immer weiter schoben sich die Häuser zurück. Vorgärten, die sauber gepflegt waren, wenn auch die Beete auf dem trockenen Boden nicht eben üppig waren, so wirkten sie doch hübsch.
Wyatt ging hinaus. Unter einer zerzausten Kiefer hinter den letzten Häusern ließ er sich nieder und stützte den Kopf in die Hände.
Doc Holliday und Luke Short waren ihm bis zum letzten Haus gefolgt. Da lehnten sie sich an einen Zaun.
Der Texaner schob sich eine lange braune Strohhalmzigarre zwischen die weißen Zähne, nahm das Zündholz, das der Georgier ihm reichte, ohne den Blick vom Marshal zu nehmen, und fragte in die blaue Tabakswolke hinein: »Was hat er denn? Ich denke, wir wollen essen?«
»Lassen Sie ihn jetzt in Ruhe«, erwiderte der Gambler. »Wenn Sie ihn besser kennen, werden Sie ihn verstehen.«
Plötzlich nahm der Tex die lange Virginia aus dem Mund. »He, ist es etwa wegen Broncy?«
Holliday nickte.
»Aber ich bitte Sie, Doc, der Kerl wollte ihn doch töten. Es war doch eine glatte Reflexbewegung von Wyatt. Und einwandfrei Notwehr! Ihr habt doch beide im Reflex und in Notwehr gehandelt…«
Der Gambler winkte ab.
»Darum geht es nicht. Er ist eben gegen – das Töten! Vor Jahren, als ich ihn kennenlernte, sagte er mir einmal: Es muß anders gehen. Und meistens kann man so schießen, daß man den Gegner nicht zu töten braucht.«
»Well, wie er schießt, kann er das auch. Ihr schießt ja beide einer Fliege auf zwanzig Yards ein Auge aus. Aber in diesem Fall war es doch ganz etwas anderes!«
»Schon. Aber es ändert nichts an der Tatsache, daß der Mann tot ist – und daß der Marshal das Töten haßt.«
Sie warteten geduldig, bis der Missourier sich erhob und zurückkam. Sein Gesicht war ernst und hart.
Doc Holliday zündete sich eine Zigarette an und bot Wyatt auch eine an.
Ganz in Gedanken nahm der sie an.
»Wie sind Sie eigentlich auf den Keller gekommen?« fragte Holliday, um ihn aus seinen düsteren Gedanken zu reißen.
»Das will ich Ihnen sagen, Doc. Als ich mit Luke drüben vor den Stallungen stand und zu dem Wagen kroch, sah ich eine sonderbare Furche im Boden. Eine Vertiefung im Hof, die wie eingesunken wirkte. Ich hatte das allerdings nicht besonders beachtet. Es fiel mir nur wieder ein, als ich neben der Tür stand und auf einmal glaubte, Steinmodergeruch in der Nase zu verspüren. Was konnte einen Rancher veranlassen, sich bei der Planung seines Hauses der fürchterlichen Mühe zu unterziehen, einen gemauerten Keller zu bauen? Um ihre Speisen im Sommer kühl zu halten, haben die Ranches die Kühlräume, die hinter der Küche halb in der Erde liegen. Das sind meist nur winzige Räume, da man sich hier im Westen die Ausschachtungsarbeiten nicht macht. Wozu hatte Croydon einen Keller? Daß wir ihn so verhältnismäßig schnell fanden, war allerdings reiner Zufall.«
Luke Short ging hinter den beiden her, hatte seine Hände tief in die Taschen geschoben und den Kopf gesenkt.
Er dachte über den seltsamen Mann aus Missouri nach, der so umsichtig und klug war, der so eisenhart sein konnte und doch ganz offensichtlich ein verdammt empfindliches Gemüt besaß.
Heavens, war das ein Schuß gewesen, mit dem er aus seiner Position heraus den vertrockneten Broncy abgefangen und Croydon noch am Feuern gehindert hatte!
Well, Doc Holliday hatte auch geschossen und getroffen.
Aber der feingliedrige Spieler schien ja überhaupt nur ein Bündel aus Reaktion und Schnelligkeit zu sein.
Der Texaner hob den Kopf und sah die beiden Männer an, die vor ihm her zwischen den Gärten hindurch auf die Gassenenge zugingen. Sie waren fast gleichgroß. Nur daß Wyatt viel breiter war als Doc Holliday. Und Wyatts hochhackige Stiefel waren staubgepudert.
Wie machte es der Georgier nur, daß er nie staubige Stiefel und schmutzige Kleider hatte. Er besaß offensichtlich ein unsichtbares Talent dafür, seinen Habit in peinlichster Sauberkeit zu halten.
Hochaufgerichtet und schweigend gingen die beiden jetzt vor ihm her.
Da kam aus einem der Häuser eine Frau auf die beiden zugestürzt.
Es war Joana Eggers.
»Mister Earp!«
Wyatt und Doc Holliday fingen sie auf, fast wäre sie im letzten Augenblick gestürzt.
Sie schluchzte haltlos in sich hinein.
»Wir bringen sie ins Haus«, sagte Wyatt.
*
Als die Frau auf ihrem Sofa saß und Doc Holliday sie mit Hilfe eines nassen Handtuches und einem Schluck Whisky wieder zu sich gebracht hatte, schlug sie die Augen auf.
»Mister Earp! Da sind – Sie ja! Ich – wie kommen Sie hierher? Ich darf doch nicht mit Ihnen sprechen…«
Eine furchtbare Ahnung sprang den Mann an, der so etwas wie den sechsten Sinn besaß.
»Wo ist Ihr Mann?«
Die Frau schluchzte wieder los.
»So beruhigen Sie sich doch, Madame.« Doc Holliday gab ihr noch einen Schluck Whisky und lehnte sie gegen die Sofalehne zurück. »Sie müssen ruhig sein, ganz ruhig. Wie sollen wir Ihnen sonst helfen.«
Wyatt beugte sich zu ihr nieder:
»Sie haben ihn geholt?«
»Nein, er ist erst gar nicht wieder nach Hause gekommen. Ich habe gestern einen Brief gefunden – vorn unter der Tür ist er in den Flur geschoben worden. O Gott! Es ist furchtbar! Die Kinder weinen oben. Ich habe ihnen gestern schon eine Lüge auftischen müssen. Aber heute – sie wollen sich nicht beruhigen lassen…«
»Wo ist der Brief?« fragte Wyatt.
»Ich glaube, ich habe ihn in meiner Erregung ins Feuer geworfen.«
»Wann?« forschte Holliday schnell.
»Gestern, gleich.«
»Sie glauben – aber vielleicht irren Sie sich auch und haben ihn sonstwohin geworfen, Madame?«
»Das kann sein. Ich weiß es nicht. Es ist alles so furchtbar.«
Wieder wurde sie von einem heftigen Weinkrampf geschüttelt.
»Mrs. Eggers«, suchte Holliday sie zu beruhigen, »fassen Sie sich doch. Wir müssen sofort wissen, was in dem Brief stand. Wie soll der Marshal Ihnen helfen können, wenn Sie hier sitzen und heulen?«
Die unglückliche Frau trocknete sich die Tränen vom Gesicht.
»Ich weiß ja, Sie haben recht. Also, da stand: Ihr Mann ist in der Gewalt der Prärie. Da ist er gut aufgehoben, wenn Sie schweigen. Wenn Sie aber reden, ist er verloren. Und Ihre Kinder werden wir auch holen! Ja, das ungefähr stand darin.«
Doc Holliday verließ das Zimmer und ging in die Küche. Ein paar Minuten später kam er mit dem Zettel zurück. »Sie hat ihn in den Kasten neben dem Ofen geworfen.«
Mit gerunzelter Stirn blickte Wyatt auf das zerknitterte Papier. Es war gewöhnliches Briefpapier, wie es die Menschen allenthalben im Westen benutzten. Aber ein Wort fesselte die Blicke des Gesetzesmannes. Das Wort Prärie. Es war falsch geschrieben. Und zwar so falsch geschrieben, wie er es schon irgendwo gelesen hatte…
*
In der City Hall hatten sich die Bürger zur Verhandlung gegen den alten Wilkins versammelt.
Als Wyatt Earp, gefolgt von Doc Holliday und dem Texaner, die breite Mainstreet überquerte und auf das Stadthaus zuhielt, war hinter ihm aus dem Yankee Saloon, einer schlauchdünnen Schenke, ein Mann gekommen.
Er war mittelgroß, hatte ein scharfes, schmales Gesicht und stechende Augen. Sein Anzug war neu und elegant. Die beiden Revolver, die vorn unter den Jackenaufschlägen hervorsahen, paßten nicht zu der ganzen Erscheinung.
Es war wenige Minuten vor sechs Uhr.
Tim Callaghan stand mit dem kleinen Tom vor der Poststation, der Bursche hatte die Pferde versorgt und blickte neugierig auf die Menschenmenge, die sich schräg gegenüber vor der City Hall drängte.
Sheriff Bride hatte sein Office verlassen und kam auf die Straße.
Da hatte der Blick des eleganten Fremden den Missourier erfaßt. Er zog die Brauen zusammen, daß sie nur noch einen einzigen Strich zu bilden schienen. Und plötzlich fuhr der Schrei von seinen Lippen:
»Earp!«
Der Marshal hatte sich in seiner heute schon einmal notwendigen Halbpirouette herumgeworfen, den großen Buntline Special in der Linken.
Die Kugel fehlte ihn um genau sieben Inches.
Zu einem zweiten Schuß kam der Mann indessen nicht, denn der schnelle Holliday hatte in einer seiner typischen Blitzreaktionen fast gleichzeitig geschossen, und da er im Gegensatz zu dem Missourier noch seitlich von dem Mann auf der Treppe war, hatte er das bessere Schußfeld.
Der Revolver wurde dem Mann aus der Hand gerissen.
Der Fremde warf seinen Kopf in die Richtung, aus der die Kugel gekommen war.
Sein Gesicht verzerrte sich zur Fratze.
»Doc Holliday! Goddam! Ich hätte es mir denken können. Wo Wyatt Earp ist, da kann Doc Holliday nicht weit sein!«
»Hallo, McTyred!« rief da der Texaner. »Wenn wir schon bei der Begrüßung sind, möchte ich von dir nicht übersehen werden.«
»Luke Short!« fauchte McTyred heiser. »Wie könnte ich Sie übersehen!«
Die Menschen auf der Straße hatten den Atem angehalten.
Und Jack Bride stand wie angenagelt vor seinem Zügelholm.
»Wyatt Earp«, murmelte er tonlos vor sich hin. »Er ist also Wyatt Earp! Hell and devils! Darauf – darauf wäre ich nie gekommen!« Dann sah er zu Doc Holliday hinüber. Wie hatte der sich denn zurechtgemacht? Wie ein Mann, dem in der vorletzten Stadt im Spielsaloon alle Dollars davongelaufen waren, der einen Teil seiner Kleidung mitverspielt und dann den Weitermarsch zu Fuß angetreten hatte.
Wyatt Earp hatte seinen Revolver zurück ins Halfter geschoben. Und wie er es gemacht hatte!
Jack Bride und eine ganze Stadt hatten es beobachtet: Es war unnachahmlich schnell geschehen.
Langsam ging der Marshal auf die Treppe der City Hall zu, auf der McTyred stand.
»Geben Sie mir Ihren Revolver, McTyred.«
Totenstille herrschte auf der Mainstreet von Salina.
Der einunddreißigjährige Elvis Jonathan McTyred aus Nebraska hatte die Hände immer noch so, daß er seinen zweiten Revolver mit einem raschen Griff ziehen konnte.
Wyatt ging weiter auf ihn zu.
»Bleiben Sie stehen, Marshal!« schrie McTyred.
In diesem Augenblick kamen zwei Männer aus dem Sheriffs Office, die den alten Wilkins auf die Straße brachten.
Der Postmaster, der zur Verhandlung gebracht werden sollte, schien ein gebrochener Mann zu sein. Als der Sheriff die drei jetzt mit einer Bewegung aufhielt, ohne sich nach ihm umzudrehen, hob der Overlandmann den Kopf. Es war für ihn ein wunderliches Bild, das er da sah: Zwanzig Yards entfernt von ihm mitten auf der Straße stand der Mann, an den er die ganze Zeit über hatte denken müssen. Berry Stapp, der neue Driver. Und die Augen der ganzen Stadt waren auf ihn gerichtet.
Wyatt hob jetzt die Hand.
»Geben Sie mir jetzt Ihren Revolver, McTyred.«
»Bewegen Sie sich nicht, Marshal! Ich schieße Sie nieder!« schrie der Nebraskamann mit sich überschlagender Stimme.
Wyatt kam trotzdem einen Schritt näher und hielt ihm die ausgestreckte Rechte entgegen.
Nur anderthalb Yards trennten die beiden Männer voneinander.
Da flog die Hand McTyreds zum Revolver. Dort blieb sie kleben, denn der Nebraskamann starrte mit weit aufgerissenen glasigen Augen auf den großen Revolver, den der Marshal plötzlich in der Linken hatte, dessen Hahn sogar schon gespannt war.
Mit der Rechten nahm Wyatt den zweiten Revolver McTyreds an sich. Dann nahm er den Mann wie einen Zwerg am Kragen und hievte ihn von der Treppe auf die Straße.
»Sheriff! Dieser Mann ist der Mörder Elvis Jonathan McTyred. Er hat vor drei Monaten in Deatwood, in den Hills, Sheriff Pordon erschossen.«
Langsam kam Jack Bride näher. Er sah nicht den Mann an, der schon vor Jahren wegen eines Bankraubes gesucht und nach dem jetzt wegen Sheriff-Mordes gefahndet wurde, sondern den hochgewachsenen Missourier, der also der berühmte Marshal aus Dodge City war.
»Sie sind tatsächlich Wyatt Earp?« brachte er heiser über die Lippen.
»Nach dem großen Sheriff Bride hätte der steckbrieflich gesuchte Mörder kaum eine Kugel geschickt«, meinte Luke Short spöttisch. »Machen Sie den Mund zu, Sheriff.«
Jack Bride blickte McTyred an.
»Stimmt das?« fragte er unsicher.
Die stechenden Augen des Mörders flogen hin und her. Irgendwie hatte er plötzlich das Gefühl, daß da vielleicht noch ein winziges Loch im Netz war.
»Nein!« schrie er. »Dieser Mann lügt! Das Ganze ist eine Verleumdung. Ich bin weder McTyred noch ist er Wyatt Earp! Ich kenne den Mann gar nicht!«
Da trat Doc Holliday hinzu.
»Woher wissen Sie denn, daß er nicht Wyatt Earp ist, wenn Sie ihn nicht kennen.«
Der Mörder zuckte zusammen, als er in Doc Hollidays Augen sah.
»Ich habe nichts mit Ihnen zu schaffen, Doc.«
Holliday nickte, dann meinte er zu dem Sheriff gewandt:
»Klarer Fall.«
Bride hatte nicht ganz so schnell begriffen, aber dann war auch ihm aufgegangen, daß sich McTyred selbst verraten hatte. Wenn er diesen Mann als Doc Holliday kannte, so war es ganz selbstverständlich, daß der andere da drüben der Marshal Earp war.
Wyatt griff mit der Linken in die Tasche und hielt, ohne den Arm hochzuheben, eigentlich nur für den Sheriff sichtbar, seinen fünfzackigen, von einem Wappen umgebenen Stern in der Hand.
Jack Bride schluckte. Dann nickte er, packte McTyred am Arm und zog ihn mit sich ins Office. Nach zwei Minuten war er wieder auf der Straße.
Oben am Eingang zur City Hall erschien jetzt Richter Beverland.
Das kleine gebrechliche Männchen krächzte etwas mit seiner dünnen Greisenstimme, das jetzt in dem Stimmengewirr, das auf der Mainstreet herrschte, unterging.
Da verschwand der Richter in der City Hall und kam gleich darauf mit einer kleinen Glocke zurück, die er mit wilden Bewegungen hin und her schwang.
Langsam trat auf der Straße Ruhe ein.
Der Greis sah nur den vermeintlichen Driver Stapp vor sich. Ärgerlich knurrte er in seinen Bart:
»Gehen Sie aus dem Weg, Stapp. Ich warte auf den Angeklagten.«
Da trat der Sheriff ein paar Schritte näher und sagte in verhaltenem Ton:
»Euer Gnaden, dieser Mann ist Wyatt Earp.«
»Ja, ja«, sagte der Richter mit greisenhafter Starrsinnigkeit. »Er kann sich nach der Verhandlung melden, wenn er irgend…« Plötzlich unterbrach sich der Richter, kniff die Augen zusammen und nahm den Klemmer von der Nase. Ohne die Augen zu öffnen, fragte er: »Was haben Sie gesagt, Sheriff?«
»Dieser Mann ist der Marshal aus Dodge City.«
»Wollen Sie einen Scherz mit mir machen, Mister Bride?«
Da trat Wyatt Earp auf die Vorbautreppe zu.
»Euer Gnaden, Sie können die Verhandlung beginnen lassen.«
Beverland schob den Klemmer auf die Nase und hob den Kopf. Scharf durchforschten seine kleinen Äuglein das Gesicht des Missouriers.
Und dann geschah etwas Furchtbares.
Eine kalkige Blässe überzog das Gesicht des Greises, die linke Hand fuhr zum Herzen, und ganz langsam, als würden ihm die Füße weggezogen, stürzte er auf die Vorbauplanken.
Wyatt sah Doc Holliday an.
Der hatte sich schon in Bewegung gesetzt, betrat den Vorbau, kniete neben dem Richter nieder und öffnete dessen Weste. Er nahm das Handgelenk des Richters, betastete den Puls und legte das Ohr auf die Brust des Richters. Dann richtete er sich wieder auf, blickte in Beverlands Augen und ließ seine Linke über die Lider gleiten.
Langsam erhob er sich und sah den Missourier an.
»Mit der Verhandlung wird es nichts, Marshal. Der Richter ist tot.«
Auf der Mainstreet herrschte eine Stille wie auf dem Boot Hill.
Wyatt Earp wandte sich an den Sheriff.
»Lassen Sie Mister Wilkins ins Jail zurückbringen – und behandeln Sie ihn gut, Mister Bride!«
Der zog die Brauen zusammen. »Wie meinen Sie das, Marshal?«
»Ich meine, daß er kein Mörder ist…«
*
Es war kurz nach sieben Uhr, als Wyatt Earp, Doc Holliday und Luke Short auf Mietpferden vor dem Sheriffs Office haltmachten. Der Marshal stieg ab und betrat den Vorbau.
Sheriff Bride kam ihm entgegen. »Sie wollen zu mir, Mister Earp?«
»Yeah – ich möchte Sie bitten, mitzukommen.«
»Wohin?«
»Das werden Sie erfahren.«
»Sie können es mir doch sagen, ich muß doch…«
»Ich kann Ihnen nichts sagen. Die Stadt hat mir zu viele Ohren.«
Bride nickte.
»Well, ich komme mit.«
Unterwegs trennte sich Luke Short von ihnen und ritt weiter nach Osten, auf der Fahrstraße nach Abilene.
Wyatt Earp, Doc Holliday und Jack Bride ritten der Croydon Ranch entgegen.
Es war längst dunkel, als sie die Bauten erreichten.
Vor dem Gatter hielt Wyatt Earp an. »Hören Sie genau zu, Mister Bride. Das ist die Croydon Ranch. Wir haben ihr in der vergangenen Nacht einen Besuch abgestattet. Der Rancher berichtete Ihnen ja schon davon. Was er Ihnen jedoch nicht berichtete, war die Tatsache, daß wir in seinem gemauerten Keller…«
»… in seinem gemauerten Keller?«
»Yeah, daß wir da Jimmy Degorey gefunden haben.«
»Was?« entfuhr es dem Sheriff. »Ist er tot?«
»Nein, Gott sei Dank nicht, obgleich diese Halunken ihn fast hätten verdursten und verhungern lassen.«
»Aber…«, stammelte der Gesetzesmann von Salina, »das ist ja ungeheuerlich. Ich kann das gar nicht fassen. Glauben Sie allen Ernstes, Lester Croydon stecke hinter den Overland-Verbrechen?«
»Wer dahintersteckt, wird sich noch zeigen. Jedenfalls ist Croydon der wichtigste Hintermann.«
»Aber…«
»Wußten Sie, daß Joseph Eggers aus Salina verschwunden ist?«
»Nein.«
»Dann ist Ihnen auch sicher nicht aufgefallen, daß das gleiche Messer, das Croydons Vormann nach mir schleuderte, in der Brust Jonny Lees steckte?«
Der Sheriff schob sich den Hut aus der Stirn. »Aber – Marshal. Ich – weiß nicht…«
»Kommen Sie, wir wollen Mister Croydon einen Besuch abstatten. Ich wäre allerdings nicht sonderlich überrascht, wenn das Nest leer sein sollte.«
Es war leer.
Nur der alte taubstumme Neger Poul saß auf der Treppe zur Küche und grinste mit geblecktem Pferdegebiß dumm vor sich hin.
Jack Bride sog die Luft tief in die Lungen.
Wyatt hatte ihm das unterirdische Gefängnis gezeigt. Und dann waren sie im Schein der Pechfackeln über den Hof gegangen. Genau dort, nämlich hinter einer halbverfallenen Scheune, fand Wyatt das, was er vermutet hatte, den Platz, auf dem die Mörder den alten Overlanddriver Norton verscharrt hatten.
Sie verließen die Ranch des Grauens und ritten nach Süden davon.
»Wo geht’s jetzt hin?« wagte der Sheriff nach einer halben Stunde zu fragen.
»Nach Solomon«, entgegnete der Marshal kühl.
»Und was wollen wir dort?«
»Sie sind ziemlich neugierig, Sheriff«, mischte sich der Texaner ein. »Wenn Sie mit Wyatt Earp reiten, müssen Sie bedeutend geduldiger und vor allem ruhiger werden.«
Es war fast Mitternacht, als sie Solomon erreichten. Weit ab von den Häusern, vorn an der Fahrstraße, stand die Schenke des Iren.
Wyatt und Sheriff Bride betraten sie durch den Vordereingang. An der Theke lehnten Joe Lincerton, Larry Beech und der krummbeinige Ted Riccer.
Die drei Banditen waren herumgefahren. Als sie aber den Colt in der Hand des vermeintlichen Drivers Stapp sahen, rührten sie sich nicht.
Nur Ted Riccer brüllte: »Was soll das, Stapp. Wollen Sie jetzt auch noch unter dem Schutz des Sheriffs hier loslegen?«
»Mister Bride, nehmen Sie ihnen die Waffen ab«, forderte Wyatt den Sheriff auf.
Lincerton und Beech wehrten sich nicht, als der Sheriff ihnen die Waffen aus den Halftern nahm.
Anders der Mann mit den sichelkrummen Beinen, der sich Ted Riccer nannte. Er warf sich zur Seite und zog seinen Colt. Die Waffe, deren Mündung auf den Sheriff von Salina gerichtet war, ging jedoch nicht mehr los.
Wyatt Earp hatte früher geschossen.
Steif und bewegungslos hatte der Ire diesen Bewegungen zugesehen.
Mit rauher Stimme sagte Wyatt Earp:
»Kommen Sie einmal vor die Theke, Salooner.«
Der Ire erblaßte. »Ich?« fragte er.
»Ja, Sie. Und zwar sofort.«
Der Ire wollte sich bücken und tat, als beabsichtigte er ein Handtuch unter die Theke zu legen. Da knackte der Revolverhahn des Marshals.
»Laß deine Hände oben, Irishman, wenn du nämlich so schlecht schießt wie du schreibst, triffst du am Ende noch einen von deinen Kameraden.«
Das Gesicht des Salooners hatte eine gelbliche Farbe angenommen.
Wyatt Earp stand mit dem Revolver vor ihm.
»Komm vor die Theke, Rotschopf«, herrschte er den Wirt an.
Der gehorchte zögernd.
Als er vor der Theke stand, nahm Wyatt mit der Rechten den Zettel aus der Tasche, den Mrs. Eggers bekommen hatte.
»Wollen wir noch mehr Worte machen, Irishman, oder willst du mir freiwillig sagen, wo Joseph Eggers ist?«
»Aber ich weiß gar nicht, was Sie wollen, Stapp. Ich schwöre Ihnen, daß…«
Hart stieß ihm der Marshal den Revolverlauf auf die Brust.
»Hör zu, Bandit«, kam es schroff über seine Lippen. »Ich bin Wyatt Earp und habe verdammt wenig Zeit und keine Lust, mich hier länger mit dir abzugeben. Wo ist Eggers!«
Der Ire nagte an seiner Unterlippe. Dann warf er einen Blick auf die anderen Männer.
Lincerton knurrte mit gesenktem Kopf:
»Ich werde mich für diese Wahnsinnigen nicht in die Tinte setzen. Sag es ihm. Du hast es ja gehört: Er ist Wyatt Earp. Broncy hatte schon recht, als er gestern sagte, daß ihm der Mann nicht geheuer ist und daß er nie im Leben ein gewöhnlicher Overlanddriver ist. Aber wir waren ja alle so gescheit…«
Langsam ging der Wirt zurück.
Wyatt sah im Boden einen eingelassenen Ring.
»Sheriff, schieben Sie den Tisch weg, da ist eine Falltür.«
Lincerton und Lerry Beech mußten helfen.
Zwei Männer waren dazu nötig, die schwere Falltür zu heben.
Das Licht der schwachen Kerosinlampe warf einen magischen Schimmer in die Grube, in der leere Fässer und Flaschen durcheinander lagen.
Hinten in der Ecke lag ein Mensch. Es war Joseph Eggers.
Wyatt ließ ihn heraufholen.
In diesem Augenblick rollte draußen ein Wagen vor. Über Ted Riccers Gesicht huschte ein häßliches Grinsen.
Dann fiel ein Schuß.
Wyatt Earp hatte sofort den Revolver, den er vorhin ins Halfter geschoben hatte, in der Hand.
»Bleib ganz still stehen, Riccers, sonst verläßt du die Schenke nicht lebend.«
Und als auf dem Vorbau Schritte waren, wandte sich der Marshal zur Verblüffung der anderen nicht einmal um.
Die riesige Gestalt des Texaners schob sich herein.
»Alles okay, Marshal.«
Wyatt Earp nickte. »Nehmen Sie Eggers mit, Luke. Mister Bride wird Ihnen helfen.«
Joseph Eggers, der sich nicht in einem ganz so schlechten Zustand befand, wurde in die Overland gebracht, wo er den schon totgeglaubten Postmaster von Abilene vorfand.
Wyatt Earp stand mit dem Rücken zur Tür noch allein vor den Banditen in der Schenke.
»Und jetzt gebe ich euch einen guten Rat. Verschwindet, und zwar so schnell ihr könnt. Spätestens morgen mittag werden Leute aus Salina, aus Abilene und hier aus Solomon kommen und dieses Banditennest niederreißen. Darauf könnt ihr Gift nehmen.«
Wyatt Earp ging hinaus.
Bride wartete draußen auf ihn.
»Was haben Sie jetzt weiter vor?«
»Jetzt geht’s in die letzte Runde, Sheriff. Vorwärts, Luke, auf nach Salina.«
*
Im Morgengrauen erreichten sie die Stadt.
Wyatt forderte den Sheriff auf, sie zu dem Haus des toten Richters zu führen.
Doc Holliday und Luke Short ritten um das ziemlich einsam gelegene Anwesen herum, und Wyatt Earp ging mit dem Sheriff auf den Eingang zu.
»Was wollen wir hier?« fragte der Sheriff betreten.
»Jetzt holen wir den letzten Mann ab«, entgegnete Wyatt.
Noch ehe sie die Hälfte des Vorgartens erreicht hatten, hörten sie hinterm Haus einen Schuß.
Es war Hollidays Revolver.
Dann hastete ein Mann durch den Garten.
Wyatt rannte sofort los. Er hörte es auch drüben in den Büschen knacken; ein Geräusch, als wenn sich ein Grisly durch das Unterholz brach. Das konnte nur Luke Short sein.
Aber noch vor dem Gatter erreichte der Marshal den Fliehenden.
Es war Lester Croydon.
Wyatt schleppte den Verbrecher zum Hauseingang.
Inzwischen war der neue Tag mit seinem fahlen Licht über den Horizont gekrochen.
Wyatt Earp bat Luke Short, die beiden Männer aus der Kutsche ins Haus zu bringen.
Lester Croydon wurde in den großen Wohnraum gebracht, in dem die Leiche des Richters aufgebahrt war. Und der Georgier postierte sich so an der Tür, daß der Verbrecher keine Chance mehr hatte, zu entkommen.
Dann führte Luke Short Joseph Eggers und Jimmy Degorey in den Raum.
Der Postmaster von Abilene stieß einen heiseren Schrei aus. »Der Boß! All thousand devils. Das ist der Boß!«
Der kleine Eggers starrte auf die Leiche des Richters nieder. »Ich habe ihn nicht sprechen hören, sonst hätte ich ihn sicher erkannt, Marshal, aber er stand in der Schenke des Iren an der Grube und hatte eine Maske vor dem Gesicht. Aber ich erkenne ihn an dem großen Ring an der Linken. Er ist es todsicher!«
Jimmy Degorey hatte die Fäuste geballt.
»Das Scheusal ist also tot…«, kam es spröde von seinen aufgerissenen Lippen. »Er wollte mich erpressen. Wenn ich weich genug geknetet war, wollte er mich loslassen und ich sollte dann drüben in Abilene gegen die Overland arbeiten.«
*
Niemand in Salina und Abilene wollte später begreifen, daß zwei Männer so irrsinnig sein konnten. Croydon und der Richter hatten sich seit Jahren gekannt und waren höchstwahrscheinlich gemeinsam auf den Plan gekommen, die Salina Overland zu zerstören, um selbst eine neue Linie bauen zu können.
Der Overlanddriver William Norton und der habgierige Jonny Lee hatten ihr Leben dafür lassen müssen. Lester Croydon hat seine Schuld zwar nie eingestanden, aber als der Richter in Topeka ihn auf Lebenszeit in die Steinbrüche nach Sescattewa schickte, senkte er seinen Kopf und stieß einen heiseren Fluch aus, der dem toten Richter Beverland, seinem Dämon, galt.
Seit diesem Tage fuhr die Salina Overland wieder viele Jahre unbehelligt durch die Prärie von Kansas, bis sie eines Tages von dem dampfenden Feuerroß vertrieben wurde, das auf einem starken Eisenweg allenthalben von Norden in den Westen vordrang.