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Ursympathie und die Gunst der Stunde

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Das Menschenbaby kommt im Vergleich zu Säugetieren etwa 12 Monate zu früh auf die Welt. Da verwundert es nicht, daß es noch lange auf engste Verbindung mit der Mutter angewiesen ist. Was aber verwundert, ist, daß die Medizin – gewiß in den besten Absichten – so unbekümmert in die natürlichen Abläufe eingegriffen und diese Verbindung erst einmal unterbrochen hat. Denn es ist noch nicht lange her, da wurde in den Geburtskliniken der Mutter das Baby unmittelbar nach der Entbindung kurz gezeigt und dann für Stunden weggenommen.

Aus der Verhaltensforschung wissen wir aber, daß in bestimmten Fällen die Zeit unmittelbar nach der Geburt ungeheuer wichtig ist, um das Junge auf die Mutter und die Mutter auf das Junge zu prägen. Das Mutterschaf leckt sein Junges unmittelbar nach der Geburt ab, nimmt dabei seinen Geruch auf und erkennt es daran wieder. Bei vielen Säugern hängt die mütterliche Brutpflege davon ab, ob sofort ein Kontakt mit den Jungen erfolgt. Wenn nicht, erwacht auch die Mutterliebe nicht; das Junge wird verstoßen oder getötet. Die Erforschung des PrägungsvorgangsPrägung verdanken wir Konrad LorenzLorenz, Konrad, der seine Entdeckung machte, als er ein frisch geschlüpftes Gänschen mal eben unter der Hausgans hervorholte, um es näher zu betrachten. Das Gössel gab Laut, er antwortete, und es war passiert: Für dieses Küken war er hinfort die Mutter, der es immer folgen würde, unwiderruflich.

Solche Unumkehrbarkeit gibt es jedoch bei dem auf Freiheit angelegten Menschen nicht. Die Mutter-Kind-Beziehung entsteht nicht durch einen einmaligen Akt der Prägung, sondern in häufigen, intensiven und ungestörten Kontakten, frühen wie späteren. Richtig ist aber, daß die meisten Babys in der Stunde nach der Geburt wach und aufnahmebereit bleiben. Sollte das Zufall sein?

Viele Mütter erleben ein überwältigendes Glücksgefühl, wenn sie ihr Baby gleich nach der Geburt in dessen erster Lebensstunde in ihren Armen halten, in seine offenen Augen schauen und mit ihm eine erste Zwiesprache führen können. Jede Bewegung des Babys, vor allem auch jeder Blick, ist für Mütter in dieser Stimmung ein mit innerem Jubel empfangenes Geschenk,

schreibt Bernard HassensteinHassenstein, Bernard.1 Wahrscheinlich ist das Kontaktbedürfnis des Neugeborenen in seiner ersten Stunde ebenso stark. Schon hier beeinflussen sich Mutter und Kind wechselseitig und lernen voneinander, sind Lehrer und Schüler zugleich.

Alle Sinne sind beteiligt, auch der – von den Menschen zumeist unterbewertete – GeruchssinnGeruchssinn, der sich ebenfalls schon im Mutterleib ausgeformt hat. Babys bevorzugen schon nach wenigen Tagen den Lappen, den die Mutter nach dem Stillen an ihre Brust legt, gegenüber anderen Stilleinlagen. Umgekehrt konnten auch Eltern das Hemdchen ihres Babys durch Riechen wiedererkennen. Und wenn die Mutter mit ihrem Säugling während der ersten halben Stunde seines Lebens zusammen war, konnte sie ihn sechs Stunden später am Geruch identifizieren.2 In den siebziger Jahren haben amerikanische Ärzte das Verhalten von Müttern untersucht, die mit ihrem Baby ausgiebigen Erstkontakt hatten, und sie mit solchen Müttern verglichen, die ihr Baby nur kurz sehen durften, wie es der damaligen Routine auf manchen Entbindungsstationen entsprach. Diese Studien gaben den entscheidenden Anstoß zu einer neuen Praxis der Geburtskliniken, dem Rooming-in, das gewiß den natürlichen Bedürfnissen von Mutter und Kind besser entspricht. Das gleiche gilt für das Stillen. Gestillte Säuglinge nehmen den vertrauten Muttergeruch ungleich stärker wahr als Flaschenkinder.

Allerdings sind allein an eine Stunde gelungenen Kontakts direkt nach der Geburt keine Langzeiteffekte zu knüpfen. Menschliches Leben ist zu sehr auf Lernen und stetiges Erfahren angelegt, als daß ein punktuelles Ereignis für immer Weichen zu stellen vermag. Wir dürfen also nicht dramatisieren. Das Menschenbaby wird nicht wie das Lorenzsche Gössel bei der Geburt reflexhaft ein für allemal auf seine leibliche Mutter geprägt. Wiewohl immer deutlicher wird, daß die leibliche Mutter schon aufgrund der vorgeburtlichen Beziehung die besten Voraussetzungen für eine enge Bindung mitbringt, ist diese mit der Geburt nicht automatisch gegeben. Sie muß erst erarbeitet werden. Damit besteht auch die Chance, daß andere Personen einspringen können. Allerdings wird zwischen dem 7. bis 12. Monat die Beziehung zu den wenigen, ausgesuchten Bezugspersonen so eng, daß sie ganz individuell wird und nicht mehr ohne Belastungen auswechselbar ist.

Nunmehr bestätigt uns auch die Neurobiologie, allerdings bisher nur im Tierexperiment, daß mütterliche Wärme sich auch langfristig auf den Seelenhaushalt des Kindes auswirken kann. Umsorgte Rattenkinder erwiesen sich als viel resistenter gegen Streß als vernachlässigte Altersgenossen, und mehr noch: die von der Mutter erworbene StreßresistenzStreßresistenz – deren molekularen Grundlagen man auf der Spur ist – schlug sich später auch im Verhalten gegenüber dem eigenen Nachwuchs nieder. Die Nachhaltigkeit früher Erfahrungen wird durch Veränderungen am Baby-Erbgut erklärt.3

Mutterliebe könnte also weit ins Leben hineinreichen, aber selbst der frühe Tod der Eltern hat nicht zwangsläufig einen durchschlagenden Effekt auf die spätere Persönlichkeitsentwicklung. Kinder können selbst solche Katastrophen letztlich unbeschadet überstehen und in eine liebevolle Adoptivfamilie hineinwachsen. Die beliebte Gleichung: Unglückliche Kindheit = verpfuschtes Leben stimmt so nicht. Auch nicht die umgekehrte Gleichung: glückliche Kinder = emotional stabile Erwachsene. Es ist alles viel komplizierter – und wäre auch aus evolutionärer Sicht wenig sinnvoll, wenn frühe Erfahrungen, negative wie positive, den Menschen lebenslang festlegen würden. Eine Langzeitstudie ergab, daß sich ein Drittel von den rund 200 als Hochrisikokinder Eingestuften später in der Tat negativ entwickelten, straffällig wurden usw. Ein weiteres Drittel konnte zwischen 20 und 35 Jahren wieder Tritt fassen. Das restliche Drittel nahm offensichtlich keinerlei Schaden. Die Forscher tippen auf Veranlagung, denn schon als Kleinkinder wurden sie als freundlich-gutmütig beurteilt. Außerdem gelang es ihnen, eine vertrauensvolle Beziehung zu mindestens einer Bezugsperson außerhalb ihres problematischen Umfelds (Nachbarin, Lehrer, Großvater, Tante…) aufzubauen und sie konnten schon früh Verantwortung für sich und andere übernehmen. Für sie war die Schule eher ein Zufluchtsort. Der Fachausdruck für solche Widerstandsfähigkeit und Belastbarkeit ist ResilienzResilienz.4

Am Anfang des Lebens steht die sympathische BindungBindung, personale B. zwischen Mutter und Kind, die Quelle jener Liebesfähigkeit, die beim Menschen ein ganzes Leben sprudeln kann. Je mehr von dieser mitgegebenen Sympathie wirksam werden kann, umso besser können sich Baby und Betreuungspersonen zusammenfinden. Mit ihnen akzeptiert der Säugling auch ihre Sprache, ja sogar mehr als eine Sprache, wenn Vater und Mutter verschiedene Sprachen sprechen.

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