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IchbewußtseinIchbewußtsein und Selbstbezeichnungen

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Grundlage für die Entwicklung des Ichgefühls sind die Empfindungen des eigenen Körpers und seiner Grenzen und das eigene Körperhandeln. Das Baby, das auf der Wickelauflage seine strampelnden Füßchen aufmerksam beobachtet und dann in den Mund zu stecken versucht, gewinnt erst allmählich ein Gefühl dafür, daß die Beinchen zu ihm gehören. Die Hände öffnen und begegnen sich, gelangen ins Blickfeld des Säuglings, die eine spielt noch mit der anderen wie mit einem fremden Gegenstand. Langsam macht es Bekanntschaft mit seinem eigenen Körper, schaut an ihm hinunter, lernt seine Konturen kennen und trennt, was von der eigenen Haut umschlossen ist, von dem, was der Außenwelt angehört. Am klarsten ist die Schmerzempfindung: Das Füßchen stößt an, und es tut ihm weh. Immer wieder, ohne Ausnahme. Daß es nur ihm weh tut, muß es vielleicht noch lernen. Muß nicht auch ein junges Kätzchen, das herumwirbelnd auf den eigenen Schwanz Jagd macht, erst noch lernen, da nicht hineinzubeißen, also erst noch erkennen, daß das Schwänzchen zu ihm gehört?

Wer bin ich? Ich bin Bewohner und Eigentümer meines Körpers. Mein Körper ist, womit ich handle, worüber ich verfüge. Er ist meine stärkste Gewißheit, Zentrum meines Handelns. Mit der zunehmenden Beherrschung der willkürlichen Muskulatur bekommt das keimende Ich ein Mittel an die Hand, sich als ein Selbst zu entdecken. »Ich« ist mein Wille und Begehren, dem mein Körper Ausdruck verleiht. »Das Ichgefühl ist der Instinkt, die Einheit des Körpers zu erwerben, die Herrschaft über den Körper zu erobern.«Sacks, Oliver1 »Leben« kommt von »Leib«, und es sind zu allererst die Eigenwahrnehmungen des Leibes, die uns zu uns selbst führen.

So erhält auch das Wort »mein« seine Bedeutung von »zu mir selbst gehörend«. Die ersten Dinge, die mir gehören, sind jene, die physisch ein Teil von mir sind, der Ursprung unserer Eigentumsvorstellungen.2 Danach wird der Begriff auf andere Arten von EigentumEigentum ausgedehnt: »meine Milch«, »meine Schule«, »mein Beruf« sind Erweiterungen dieser Grunderfahrung, wie auch die folgende Verwendung von »mein«:

Gisa (3;0 = drei Jahre, null Monate alt) trommelt mit der Gabel auf dem Tellerrand herum.
Vater: Hör auf damit.
Gisa: Is doch mein Teller.

Nicht alle Sprachen kennen übrigens solche Erweiterungen; sie haben andere Wörter für unveräußerlichen Besitz wie »mein Kopf« oder »mein Vater« und wechselnden Besitz wie »mein Teddy«. – Eltern tun wohl instinktiv das Richtige, wenn sie ihr Kind nicht immer mit du anreden, sondern auch bei seinem Namen: »Lukas muß jetzt schlafen.« Lukas ist eben eindeutig, in der Welt des Lukas gibt es zumeist nur den einen. Der EigennameEigenname stiftet Identität. Wörter wie du und ich, mein und dein, hier und da aber sind vieldeutig; man hat sie auch Wechselwörter genannt. Abwechselnd sind wir du, ich, er oder sie, je nachdem, wer spricht. Es dauert eine Weile, bis die Kinder herausfinden, daß es vom Sprecher abhängt, wen oder was diese Wörter meinen. Lange werden ich und du, mein und dein miteinander verwechselt, bis – allmählich – der korrekte Gebrauch immer häufiger wird.3 Wie sehr hier ein Lernproblem besteht, zeigen uns Kinder mit verzögerter Sprachentwicklung, die mitunter jahrelang die PronominaPronomina umkehren. Weil hier der Austausch meines Standorts mit dem des Partners verlangt wird, hilft ihnen ihr ausgesprochen imitatives Lernen hier nicht weiter.


Wer mit »Peter« angeredet wird, ist der Peter. Das ist klar. Aber: Wer mit »du« angeredet wird, ist nicht »du«, sondern »ich«. Das finden Kinder verwirrend.

Es stellt aber keinen besonderen Einschnitt in der Entwicklung dar, wenn das Kind zum ersten Mal ich sagt:

In der Tat braucht das IchbewußtseinIchbewußtsein nicht schwächer zu sein, wenn ein Kind ruft: Paul Suppe haben, als wenn es ruft: i au (ich auch) Suppe haben; auch die Gegensätzlichkeit der eigenen Person bedarf nicht des Pronomens, sondern kann mit dem Namen bestritten werden, z.B. is nich Günthers Mütze, is Hildes Mütze.4

Die Ehepaare SternStern, Clara und William und ScupinScupin, Ernst und Gertrud, die schon zu Beginn des letzten Jahrhunderts die Sprachentwicklung ihrer Kinder detailgetreu dokumentiert und analysiert haben, räumen auch mit dem Vorurteil auf, daß Kinder sich zuerst durchweg mit dem Eigennamen bezeichnen, bevor das Ich auftaucht. Dies gilt wohl nur für Erstgeborene. Wo schon Geschwister da sind, kann das Ich noch vor dem Eigennamen auftreten (zwischen 1;5 und 2;5); vielleicht weil häufig Situationen entstehen, in denen sich auf eine Frage der Mutter die älteren Geschwister mit ich, ich auch melden und das jüngste echot i au, i au.

Im übrigen läßt die Prioritätsfrage Eigenname oder ich? die Wirklichkeit einfacher erscheinen, als sie ist. Bei Bubi Scupin konkurrieren eine Zeitlang als Selbstbezeichnungen du, er, ich, Bubi, mein. Mädchen sagen manchmal die und meinen ich. Genau genommen wären noch Häufigkeitsverteilungen zu errechnen: ob eine Form nur vereinzelt oder gleich massiv auftritt, dann wieder verschwindet usw. Einige Beispiele:

Peter (2;1):
n Pipi mustu (ich muß ein Pipi machen)
balla hastu (ich habe den Ball)
tragdich! (Trag mich!)5
Beth (2;6) war eifersüchtig, wenn ihre ältere Schwester etwas von ihren Sachen anrührte, und falls die letztere auf ihrem Stuhle saß, fing sie stets an zu schreien: »Das ist dein Stuhl, das ist dein Stuhl.«6
Günther (2;7) hat eine Sonne aus Papier zerrissen:
Günther: Günther e Sonne erreisst.
Erwachsener: Warum denn?
Günther: Ich böse is.7

Im folgenden einige persönliche Notizen:

Gisa (2;1) fällt hin und steht wieder auf:
Wiedaaufateht. (Ich bin wieder aufgestanden)
Papa trinkt eine Tasse Tee.
Gisa (2;2): Gisa aucha Tasse Tee tunk hat.
Kinderärztin: Wie heißt du denn?
Gisa (2;2): Gisa.
Am selben Tag:
Tante: Wie heißt du denn?
Gisa: Mä(d)chen heiß-ich.
Mutter: Gisa, du gehst jetzt nicht mehr an die Stifte.
Gisa (2;3): Nein, die beiden darfa (darf er statt darf ich) haben.

Gisa ist mittlerweile sechs Jahre alt. Man könnte meinen, sie weiß inzwischen über Namen Bescheid. Aber sie muß noch weiterlernen:

Gisa: Eine Mutter kann doch nicht Gisa heißen.
Papa: Wieso? Man ändert seinen Namen nicht. Deine Mutter heißt Ingrid, und die hieß als kleines Mädchen auch Ingrid.
Gisa: Aber Gisa ist doch ein Kindname.

Sie kennt keine Erwachsenen, die Gisa heißen, ebenso wie die taubgeborene Emmanuelle keine gehörlosen Erwachsenen kennt und darum annimmt, nur Kinder seien gehörlosGehörlos, hörgeschädigt wie sie.8

Sprache ist also nicht allein entscheidend bei der Herausbildung eines Ichgefühls; vielleicht eher das Tüpfelchen auf dem i, indem sie das Ichbewußtsein faßbar macht und (humboldtisch gesprochen) »vollendet«. Sie wirkt klärend und bestimmend bei der weiteren Entwicklung mit, wenn es beim Menschen um Selbstbehauptung, schließlich um eine realistische Selbsteinschätzung und -bewertung geht.

Wie Kinder sprechen lernen

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