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Sprache im Gesamt der Entwicklung
ОглавлениеDie vorgeburtlichen Errungenschaften, so erstaunlich sie sein mögen, aber auch die Fortschritte im ersten Jahr sind noch Vorarbeit. Denn Sprache setzt erst einmal Erfahrung von Welt voraus, bevor sie schließlich zum mächtigsten Mittel wird, diese Welt zu begreifen.
Der Mutterspracherwerb ist auf vielfältigste Weise in die Gesamtentwicklung eingebunden. Das ist die »biologische Verklammerung« (PlessnerPlessner, Helmuth) von Körper, Seele und Geist, die zusammen die eine Wirklichkeit des Menschen ausmachen. Deshalb gilt es zunächst, dieses Gesamt zu erkunden, in dem Sprache erworben wird.
Sprache ist anfangs noch von der körperlichen Entwicklung abhängig. Die Anatomie des Stimmtrakts muß sich noch verändern, damit das Baby saubere Sprachtöne hervorbringen kann. Die Sinne – die Tore zur Welt und zu sich selbst – müssen sich weiterentwickeln. So braucht der Sehsinn noch drei bis fünf Wochen der Reifung und des Lernens, bis das Baby das Gesicht seiner Mutter von anderen Gesichtern unterscheiden kann. Und es dauert ungefähr ein Jahr, bis es unser Mienenspiel richtig deuten kann.
Spracherwerb ist aufs engste mit der geistigen Entwicklung verflochten. Es muß die Dinge greifen, bevor es sie begreifen und benennen kann; es muss sie fassen, bevor es sie erfassen kann. Wenn es sie sprachlich miteinander vergleicht (»so groß«, »größer«, »kleiner«), muß es sie vorher mit Blicken vermessen und verglichen haben.
Sprache entsteht zwischen den Menschen. Sie ist von Anfang an Zwiesprache, eingebettet in Fühlen und Kommunizieren, die schon vorher da sind. Unsere Lautsprache baut auf vorsprachlicher gestisch-mimischer Verständigung auf. Wir sehen, wie tief der sprachbegabte Mensch im Tierreich verwurzelt ist. Denn Kommunikation ist uraltes Naturerbe. Sprache wirkt mit bei der Entwicklung des Kindes zum sozialen Wesen und der Herausbildung seiner Gemeinschaftsgefühle. Bevor das Kind sinnvoll »ich« und »mein« sagen kann, muß es sich als ein Ich verstehen.
Gefühle sind in alle Wahrnehmungs- und Entscheidungsvorgänge tief verwoben. Um mit seinen Gefühlen bewußt umgehen zu können, muß man sie für sich und andere versprachlichen können.
Das ist ja das Traurigste an den sog. wilden Kindern, den Wald- und Wolfskindern ebenso wie den Käfigkindern, die ohne menschliche Sprachkontakte groß wurden: Sie zeigten sich als emotional tief verstörte Wesen, die den Blicken der Menschen auswichen, dabei kein Schamgefühl besaßen, vielfach nicht weinen und mit anderen teilen konnten. Wenn überhaupt, gelang es nur mit unendlich viel Liebe und Geduld, tragfähige Bindungen zu ihnen herzustellen (vgl. S. 357ff.).
Schauen wir uns dagegen eine Dreijährige an, die in einen Kindergarten kommt, in dem man eine fremde Sprache spricht. Sie läßt sich von Freude und Trauer anderer anstecken und versucht schon, andere zu trösten: Mädchen sind besser im Trösten als Jungen. Sie kann andere versöhnlich anlächeln und reagiert, wenn sie so angelächelt wird. Sie ist schon auf vielfache Weise weltklug, so daß das Erlernen der ZweitspracheZweitsprache, Zweisprachigkeit zu einem beträchtlichen Teil reine Lautierarbeit, Vokabel- und Grammatikarbeit ist: Wie drückt man das, was ich jetzt sagen möchte, auf die neue, fremde Art aus: »Ich hab’ heute Geburtstag?«
Schauen wir sie uns einige Jahre später an, wenn ihr die erste Schulfremdsprache begegnet. Was ist nicht schon alles durch die Muttersprache angebahnt worden! Die Achtjährige weiß schon, wann und wie man sich entschuldigt, wann und wie man andere foppt, ärgert oder zu etwas überredet, versteht den Unterschied zwischen Du und Sie und ein ironisch gemeintes »danke!«, hat auch schon allerhand Ausreden und Ausflüchte auf Lager, kann Gründe angeben, hat einen entwickelten Zeit- und Zahlensinn, kann lesen und schreiben. Diese Vorleistungen der Muttersprache für die FremdspracheFremdsprachen, F.-Unterricht fallen – selbst was die Aussprache betrifft – viel stärker ins Gewicht als die Hindernisse, die sie ihr in den Weg stellt.
Fazit: Der Mutterspracherwerb kann nicht für sich allein betrachtet werden. Zu viele Entwicklungen finden zu gleicher Zeit statt und beeinflussen sich gegenseitig. Es gilt, den sprachlichen Strang sorgsam aus dem Gesamtkomplex der Entwicklung herauszuschälen. Bevor wir dies in den folgenden Kapiteln tun, stellen wir einige Vernetzungen mit anderen Entwicklungslinien dar.