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Warum es »Muttersprache« heißt
ОглавлениеDas Abenteuer des Hörens, Zuhörens und Hinhörens beginnt drei Monate vor der Geburt. Damit setzt auch das Abenteuer Sprache ein, lange bevor das Kind auf die Welt kommt, den Mund auftut und zu babbeln anfängt.
Mit sechs bis sieben Monaten ist der Menschenkeimling in der Lage, auf Laute zu reagieren. Zu diesem Zeitpunkt ist das Innenohr in seiner Grundstruktur angelegt. Ultraschallaufnahmen konnten zeigen, daß das Ungeborene auf akustische Reize hin mit einem Lidschlag reagiert. Was es hört, ist vor allem die Stimme seiner Mutter, die es einmal über das Mitschwingen des Knochenskeletts vernimmt, zum anderen – abgeschwächt, wie auch die Stimme des Vaters und aller anderen – über die Bauchdecke und die Flüssigkeitsleitung des Fruchtwassers.
Entspinnt sich bereits hier der intime DialogDialog zwischen Mutter und Kind, wie wir ihn nach der Geburt miterleben können? Oder ist diese Kommunikation nicht doch nur ein passives Vernehmen? Das Ungeborene kann zwar nicht verstehbar antworten, aber es lauscht, nimmt Anteil an der Stimme der Mutter, merkt sie sich, prägt sie sich ein. Sie ist im Uterus deutlich präsent, wenn sie auch im Fruchtwasser anders klingen muß als draußen, wo sich die Schallwellen im Medium der Luft ausbreiten.
Gewiß, die Wortinhalte bleiben verborgen. So gesehen, sagt die Mutter dem Ungeborenen nichts. Doch darf man spekulieren, daß sich ihm über die Stimme, ihre Rhythmen, Klangfarben und Kadenzen sehr wohl etwas mitteilt: Erregung oder Ruhe, Sanftmut oder Anspannung, Festigkeit oder Zweifel, Gefühlswärme und Liebe, aber auch Ärger und Zorn. StimmeStimme, das ist eben Stimmung und Gestimmtsein, der Spiegel der Seele. Stimme, Sprache und Gefühl sind eins. Ob das Ungeborene auch spürt, wenn sich die Mutter ganz ihm zuwendet, ihm ein Liedchen singt, nur ihm? Warum nicht? Jedenfalls wissen wir, daß es den Klang der mütterlichen Stimme geradezu erforscht. Es entziffert nicht nur die einzigartige Klangschrift der mütterlichen Stimme, sondern auch die ihrer Sprache. Denn Neugeborene können Äußerungen in der Muttersprache von solchen in einer unvertrauten, fremden Sprache unterscheiden. Vier Tage alte französische Babys zeigten eine deutliche Vorliebe für Französisch im Vergleich zum Russischen, auch wenn es nicht die Mutter selbst ist, die spricht. Zwei Monate alte amerikanische Babys reagierten positiv auf Englisch im Gegensatz zur Fremdsprache Italienisch. Zwischen zwei fremden Sprachen, die beide Gruppen von Babys nicht kannten, machten sie hingegen keinen Unterschied. So reagierten die französischen Babys gleichermaßen teilnahmslos, ob ihnen nun englische oder italienische Texte vorgespielt wurden. Den amerikanischen Babys wiederum war es egal, ob sie französische oder russische Texte zu hören bekamen.1