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Verläßlichkeit der Menschen und der Dinge

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Studien über Gefängnisinsassen förderten zutage, daß ein hoher Prozentsatz während der Kindheit nicht die Zuwendung einer zentralen Betreuungsperson genossen hat. Bei 50 % der Insassen wechselten die Betreuer bis zum 14. Lebensjahr. Zu oft wechselnde Bezugspersonen, auch wenn sie sich Mühe geben, entmutigen und überfordern das Kind.1

Ähnlich sieht es in schlecht geführten Säuglingsheimen aus. Sehen die kleinen Heimbewohner immer wieder andere Gesichter und hören sie immer wieder andere Stimmen, so führt dies schließlich zur Resignation. Die Lächelreaktion des Halbjährigen stirbt ab. Er hat seine Vertrauten gesucht und nicht gefunden. Die Verlassenheitsangst wird ihn nie mehr ganz loslassen. Was das für das Neugier- und Erkundungsverhalten des Kleinkindes und damit für seine geistige Entwicklung bedeutet, kann man sich unschwer vorstellen. Das Kind, das sich nicht hat binden können, versäumt weitere Lern- und Erfahrungsschritte. So urteilt die Schweizer Logopädin Barbara ZollingerZollinger, Barbara, die sich auf eine langjährige kindertherapeutische Praxis berufen kann: Wenn das Kind sich ständig vergewissern muß,

daß die Bezugsperson noch anwesend ist, wird es sich der Gegenstandswelt nicht auf die Art widmen können, daß es die Bedeutung seiner Handlungen entdecken kann. Ist es einem Kind nicht möglich, eine gute Beziehung zu einer anderen Person aufzubauen, kann es sich auch von den Gegenständen nicht rufen lassen.2

Nie mehr in unserem Leben brauchen wir soviel Fürsorglichkeit und soviel Gegenwart der uns vertrauten Personen wie in den ersten drei Lebensjahren.

Die zahllosen, unverläßlich-flüchtigen, jederzeit aufkündbaren Beziehungen der Erwachsenen sind nicht Sache des Kindes. Kinder brauchen die Dauerbetreuung durch wenige Personen. Das ist schon aus sprachlicher Sicht einleuchtend und auch in Säuglingsheimen möglich. Die Kommunikation klappt am besten mit denen, die das Kind ständig betreuen und Stück für Stück miterleben, wie sich das Kind Welt und Sprache erobert. Nur durch ständiges Dabeisein kann man sein Ohr für die unvollkommenen Artikulationen des Kleinkinds schulen und sie auf Anhieb verstehen. So ist es gar nicht selten, daß Mütter die Dolmetscher selbst für diejenigen Väter spielen müssen, die ihr Kind täglich sehen.

Dennoch brauchen unter Dreijährige nicht ständig am Rockzipfel der Mutter hängen. Sie können durchaus auch feste Bindungen außerhalb ihrer Familie aufbauen. Wenn, ja wenn die öffentliche Kinderbetreuung dies im Auge behält und die Bedingungen dafür schafft, können auch Krippenkinder gedeihen. In traditionellen Kleingesellschaften wachsen Dreijährige oft in altersgemischten Gruppen auf und eine ganze Dorfgemeinschaft übernimmt die Erziehungsarbeit. Jahrtausende lang war eine breit abgestützte Betreuung in der Horde die Norm.

Die Verläßlichkeit der Welt ist auch eine Verläßlichkeit der Dinge. Das Kind drückt auf die Klinke, und die Tür gibt nach. Es greift nach dem Löffelchen, und das läßt sich widerstandslos fortnehmen. Von einem Malstift kann man die Kappe abnehmen und wieder aufstecken. Wieder andere Sachen sind fest und lassen sich gewöhnlich nicht von der Stelle bewegen. Es bläst in seine Kindertrompete hinein, und es gibt einen Ton. Es bläst in Seifenlauge hinein, und schon steigen schillernde Blasen auf, die zerplatzen, wenn man sie antupft. Papier kann man zerreißen und zerknüllen. Schlüssel passen in Schlüssellöcher, wenn man lange genug stochert. Ein bißchen Druck oder Zug an der richtigen Stelle genügt, und schon rauscht ein Wasserschwall daher und spült alles fort. Man drückt das Plastikentchen unter Wasser. Wenn man es dann losläßt, schießt es wieder an die Oberfläche. So lassen wir uns von den Dingen belehren, bilden Erwartungen, tragen sie wieder in die Welt hinein und werden nicht enttäuscht. Solche Urerfahrungen mit den Menschen und den Dingen werden nicht von der Sprache geschaffen, aber in sie aufgenommen. Das ist die Bodenhaftung der SpracheSpracheBodenhaftung der Sprache, ihre Erdung.3

Ein Vater beobachtet seinen Sohn:

Sein ganzes Interesse gilt dem Löffel. Nicht um damit zu essen. Um zu sehen, wie er reagiert, wenn man etwas zu ihm sagt. Oder wenn man ihn berührt. Er stößt ihn sachte an. Gibt ihm einen Schubs. Als möchte er sehen, was nun der Löffel tut. Ob er Antwort gibt. Oder ob er still liegen bleibt. Noch ein kleiner Schubs – und der Löffel fällt zu Boden. Pierre kann ihn nicht wieder aufheben. Er murrt. Nichts geschieht. Er beginnt zu schreien. Ich hebe den Löffel für ihn auf. Pierre lächelt. Gibt ihm einen kräftigen Schubs, so daß er wieder zu Boden fällt. Ich hebe ihn auf. Er wirft ihn weit weg und quietscht vor Vergnügen. Pierre und die ihn umgebende Welt. Er schaut. Er patscht. Er klopft. Er schreit. Er versucht. Er will herausfinden, wie das funktioniert. Was dahintersteckt. Er klapst hierhin. Nochmals. Sieh an. Und nochmals. Nun ist er überzeugt davon. Alles, was ihm einfällt, muß gleich ausprobiert werden. Ob das geht? Er versucht es. Er versucht, die Welt und die Kräfte, die in ihr wirken, zu verstehen.4

Wie Kinder sprechen lernen

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