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Die Lebenswelt des Säuglings wird erforscht
ОглавлениеWoher weiß man heute, daß das Neugeborene an schon Vorhandenes anknüpft und sich an etwas erinnert, das noch vor der Geburt liegt; daß es so etwas wie Gedächtnis hat? Wie kann man ein Neugeborenes darüber ausfragen? Wie kann man es überlisten, uns seine Geheimnisse zu verraten?
Fortschritte in der Wissenschaft verdanken wir nicht nur neuen Theorien. Manchmal sind es einfach neue Untersuchungstechniken, die Ideen findiger Bastler, die weiterführen. Neugeborene können noch nicht »Ja« oder »Nein« antworten, aber sie verfügen über andere Signale, die man zu Antworten umfunktionieren kann. Sie können schon ansatzweise eine Schallquelle orten, können schon ihre Augen wandern lassen, bevor sie richtig den Kopf drehen, sie können etwas länger oder kürzer anschauen. Vor allem können sie saugen und verändern ihren Saugrhythmus (wie wir das wohl auch tun würden), wenn sie plötzlich etwas stört oder ihnen etwas auffällt. Diese Leistungen machen sich die Forscher zunutze. Wir fragen: Was schauen sie sich bevorzugt an? Wem oder was hören sie interessiert zu? Welche Veränderungen in ihrem Gesichtsfeld nehmen sie wahr? Wodurch lassen sie sich überraschen? Was langweilt sie? Vielen Experimenten mit Säuglingen liegt das Schema »HabituierungHabituierung/Gewöhnung – Dishabituierung/Unterbrechung« zugrunde. Der Säugling wird an ein Reizmuster gewöhnt, er wird darauf eingestimmt, sagen wir auf eine lange Folge von deutsch »papa papa papa …«. Dann wird das Reizmuster an einem Punkt verändert: Dasselbe deutsche »papa« wird jetzt nach französischer Manier auf der zweiten Silbe betont. Reagiert er nun, fällt ihm der Wechsel des Wortakzents auf? Bei der SaugfrequenzmethodeSaugfrequenzmethode (engl. high amplitude sucking) verfährt man wie folgt: Dem Baby wird während des Nuckelns ein Seh- oder Hörreiz dargeboten. Nach einer Weile nuckelt das Baby still vor sich hin, d.h. es hat sich an den Reiz gewöhnt, das Interesse scheint verflogen. Dann wird die Reizvorlage in einem Detail verändert. Wenn nun die Neugier des Babys erneut entfacht wird, es also wieder länger hinschaut oder wieder heftiger saugt, hat es die vorgenommene Veränderung entdeckt. Ein anderer Test funktioniert so: Die Babys bekommen einen Schnuller, der mit einem Tonbandgerät verbunden ist. Je nachdem, ob sie schnell oder langsam saugen, wechselt das Gerät von einem Hörprogramm auf ein anderes. Diesen Zusammenhang bekommen sie schnell heraus. Sie merken, daß sie mit einer bestimmten Art zu nuckeln ein bestimmtes Hörerlebnis gewissermaßen anwählen können. Was wird häufiger »herbeigesaugt«? Oder welches Reizmuster wird durch Drehen des Kopfes nach links oder rechts häufiger angeschaut? (PräferenzmethodePräferenzmethode)
Solche und davon abgeleitete Techniken haben u.a. gezeigt: Neugeborene zogen die Stimme ihrer Mutter anderen Frauenstimmen vor. Auch die Stimme des Vaters ließ sie kalt. Selbst dann, wenn die Väter bei der Geburt dabei waren und zwei Tage lang ausgiebig die Gelegenheit genutzt hatten, zu ihren Babys zu sprechen. Erst nach einigen Wochen zogen sie auch die väterliche Stimme fremden Männerstimmen vor.
Offensichtlich lernen die Kinder schon vor der Geburt nicht nur die mütterliche Stimme, sondern auch den Klang ihrer Sprache kennen. Den interessantesten Beweis dafür lieferte ein Experiment, in dem die Mütter angehalten wurden, in den letzten sechseinhalb Wochen ihrer Schwangerschaft ihren Ungeborenen zweimal am Tag ein bestimmtes Kindergedicht vorzulesen. Nach der Geburt wählten die Babys dieses Gedicht viel häufiger als jedes andere von der Mutter später auf Band gesprochene. Ein ähnliches Experiment wurde mit zwei Liedchen wiederholt. Neugeborene wollten das Liedchen hören, das ihnen durch tägliches Vorsingen zwei Wochen vor der Geburt schon vertraut war.1
Heute haben sich die pränatale (= vorgeburtliche) und perinatale (= um die Geburt herum) Medizin und Psychologie zu einem eigenen Forschungsgebiet entwickelt. Man hat das Schallmilieu der Gebärmutter mit akustischen Sonden erkundet, dazu physikalische Experimente über die Weiterleitung des Schalls durch das Knochengerüst durchgeführt sowie Frühgeborene beobachtet. Wenn letztere schon auf Schallreize reagieren, dürften auch Ungeborene gleichen Alters hörfähig sein.
Was genau haben die angeführten amerikanischen und französischen Babys an ihren Muttersprachen erkannt? In Bezug auf die Lautung unterscheiden sich Sprachen
nach ihrem Lautinventar
nach den Kombinationsmöglichkeiten dieser Laute (der PhonotaktikPhonotaktik)
nach den lautübergreifenden Merkmalen von Melodie (Intonation/Tonhöhenverlauf) und Rhythmus.
Nun kann man Hörtexte so manipulieren, daß der einer Sprache eigene charakteristische Rhythmus erhalten bleibt, aber nicht deren Intonation. So weiß man heute, daß Babys jedenfalls den Sprachrhythmus wieder erkennen, auch ohne die Intonation. Die Forschung geht weiter!2
Fest steht: Neugeborene sind keine bloßen Reflexbündel.
Sie unterscheiden die Stimme der Mutter von anderen Stimmen.
Sie unterscheiden die Sprache der Mutter von anderen Sprachen.
Sie unterscheiden Texte, die ihnen während der Schwangerschaft vorgelesen wurden, von anderen Texten.
So wundert es nicht, dass schon die ersten Schreimuster Melodiebögen zeigen, die für die jeweiligen Muttersprachen typisch sind. Auf sie können die später folgenden Lautproduktionen aufbauen. Das Neugeborene hat das vorgeburtliche Erlebnis der Stimme, Sprache und Texte seiner Mutter aufbewahrt. Sein Gedächtnis hört mit. Dies bildet sich also schon vor der Geburt und bindet das Baby an die Mutter.
Gedächtnis aber ist die Grundlage jeder Lernfähigkeit. Alles, was uns begegnet, beziehen wir auf Bekanntes, vergleichen wir mit Erinnertem. Jedes Lernen ist ein Hinzulernen. Auch das Lernen von Sprache baut auf frühen Voraussetzungen auf. Sprache wird nicht aufgepfropft, sobald die ersten Wörter erscheinen; sie wird schon vor der Geburt angebahnt, vom Vernehmen. Vom Vernehmen aber kommt uns die Vernunft, das Wort selbst und das, was es meint.