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Geborgenheit befreit

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Zweierlei hatten wir, das unsere Kindheit zu dem gemacht hat, was sie gewesen ist – Geborgenheit und Freiheit.

(Astrid LindgrenLindgren, Astrid)

Beobachten Sie Ihr Kind, wie es spontan und ohne Anleitung seine Welt auskundschaftet, wenn es sich behütet weiß. Der niederländische Verhaltensforscher und Nobelpreisträger Nico TinbergenTinbergen, Nico erzählt, wie ein einjähriger Junge über eine Sanddüne kriecht: Tante und Großmutter sind in Sichtweite. Auf der Sanddüne wachsen Wegerich, vereinzelt auch Disteln. Nachdem er schon über einzelne Wegerichpflanzen hinweggekrochen ist, ohne ihnen Aufmerksamkeit zu schenken, stößt er mit dem nackten Füßchen an eine Distel. Er zuckt leicht zusammen, kriecht aber erst etwas weiter, hält dann an und schaut zurück. Probierend fährt er mit dem Fuß noch einmal über die Distel, um sie sich schließlich genau anzuschauen. Er berührt sie mit der Hand und macht dann, was Tinbergen »das perfekte Kontrollexperiment« nennt: kriecht zu einem Wegerich, fährt ebenfalls mit dem Händchen darüber und prüft die Distel jetzt noch einmal. Erst danach setzt er seine Reise über die Düne fort.1

Eines Morgens erklärte uns Gisa, sie gehe nun auf Besuch, und machte, ungebeten, ihre Runde bei den Nachbarsfrauen, egal, ob es da Spielgenossen gab oder nicht. Geborgenheit befreit. Wer sich im Schutz der Familie aufgehoben weiß, ist schneller selbständig und bereit, es mit der Welt aufzunehmen und Erfahrungen zu sammeln. Eine Gruppe von Babys im Alter von sechs bis vierzehn Wochen wurde beim freien Spiel in der Gegenwart ihrer Mütter beobachtet. Dabei wurde festgehalten, wie oft und wie lange sie jeweils den Blickkontakt mit ihrer Mutter suchten. Es gab »Viel-Schauer«, die also immer wieder die BindungBindung, personale B. zur Mutter suchten und fanden, »Wenig-Schauer« und »Blickvermeider«. Dieselben Kinder wurden zwei Jahre später noch einmal gefilmt, wie sie sich an einem neuen, dafür extra konstruierten Spielzeug zu schaffen machten, an dem es viel auszuprobieren gab. Bei den Viel-Schauern, die schon früh und intensiv Bindung gesucht und gefunden hatten, war die Bereitschaft, den neuen Gegenstand zu begucken, zu betasten und auszukundschaften – mit anderen Worten: die Lernbereitschaft – am stärksten ausgeprägt! Das Kleinkind muss zwei Bedürfnisse, die miteinander in Widerstreit geraten können, austarieren: das Bedürfnis nach Sicherheit and das Verlangen, Neues zu unternehmen und hinzuzulernen.

Freuen Sie sich also, wenn Ihr Krabbelkind alle Schubladen ausräumt, an die es herankommt. Es folgt einem Lerntrieb, durch den es später auch die Sprache meistern wird. Und es wagt sich nur an das Unbekannte heran, weil es sich bei Ihnen behütet fühlt, weil es ihm momentan gut geht. Ist es hungrig, müde, ängstlich oder gar krank, dann sucht es Trost und klammert sich an die Mutter. Das ExplorierenExplorieren – und damit das Lernen – hört schlagartig auf. Hier zeigen sich schon früh Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Mädchen waren gegenüber neuen Spielsachen zurückhaltender, Jungen erkundeten länger, wagten sich weiter weg, riskierten einfach mehr, weinten aber auch häufiger und heftiger, wenn etwas schiefging und ihre Sicherheit zusammenbrach.2

»Der sich entwickelnde Mensch braucht nicht motiviert zu werden«, schreibt Leo Montada, Mitherausgeber des führenden Lehrbuchs zur Entwicklungspsychologie, »seine Erkenntnismöglichkeiten drängen nach Erprobung und Anwendung. Ein Kleinkind, das gerade werfen gelernt hat, wirft, was immer ihm in die Hände kommt.«

Nur Menschen ist es zugedacht, diesen Zauber des Anfangs durch die Zeit zu retten – bis ins Alter hinein.

Wie Kinder sprechen lernen

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