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Wer hat die Hauptrolle?
ОглавлениеLeistet das Kind das meiste, weil es so gut auf die Eltern zu hören versteht? Oder gelingt die Nachahmung nur so gut, weil die Eltern sich so gut auf das Kind einstellen?
Die Initiative geht von der Mutter aus. Sie ist auf die Rolle der Spielleiterin abonniert und hält das Spiel in Gang. Sie ist nicht die bloße Assistentin des Kindes; sie ist die treibende Kraft. Es dauert eine ganze Weile, bis das Kind sich so gründlich auskennt, daß es selbst zum Ausführenden wird, der das Spiel steuert. So übernimmt es eindeutig die Hauptrolle wohl erst, wenn es im dritten Lebensjahr damit beginnt, sich die Grammatik zusammenzureimen – eine Aufgabe, bei der die Eltern weit weniger Hilfe leisten können (auch wenn sie wollten). Erst dann gilt PinkersPinker, Steven Satz, daß Kinder »das größte Verdienst an der von ihnen erworbenen Sprache« besäßen.1
Wie Eltern ihr Verhalten den Lernfortschritten ihrer Babys anpassen, kann man u.a. auch damit belegen, daß in den ersten Monaten nur 10 % der Mütter Kinderwörter wie hamham, wauwau, gagack gebrauchten. Dieser Anteil stieg zwischen dem 7. und 15. Monat auf 66 %.2 In dieser Zeit des SilbenplappernsSilbenplappern können die Babys eben viel mehr damit anfangen. Es sind Wörter, die zu ihrem Lautrepertoire passen und die sie bald übernehmen können.
Nicht alle Eltern setzen alle hier erwähnten pädagogischen Tricks ein, ohne daß sprachliche Verzögerungen aufträten. Offenbar hat die Natur ein so reichhaltiges Repertoire angelegt, daß auch mal etwas fehlen kann.
Was bringt nun das Baby in diese Situation ein? Es antwortet mit heranreifenden fertigen Verhaltensweisen: dem Lächeln, dem Weinen, dem Lachen, dem Ausdrücken von Unmut oder Ablehnung. Sie kommen in allen Kulturen vor. Mehr noch: Sie treten auch bei taubblindtaubblind geborenen Kindern auf, den »Kindern der Nacht und der Stille«, die Klang und Mienenspiel niemandem abgucken und ablauschen können.3 Denn solche Ausdrucksbewegungen »sind die erste Muttersprache der Kinder, welche Mutter Natur selbst sie gelehrt hat«, wußte schon Joachim Heinrich CampeCampe, Joachim Heinrich.4 Der Säugling tut so seine Gemütslagen kund, welche die Eltern auf Anhieb verstehen und als Ansatzpunkt für einen kommunikativen Austausch benutzen. Sie sind das Pack-Ende für ihre Führungskunst.
Gehörlose Kinder fangen zu lallen an wie gesund geborene Kinder. Mit ungefähr sechs Monaten gehen die Lautierungen jedoch stark zurück. Je nach Resthörvermögen und Hörgeräteversorgung gelangen sie auch zum Silbenplappern, jedoch später als gesundgeborene Kinder und nicht in so deutlich auf Sprache hinzielender Ausprägung. Die wohlgeformten, am sprachlichen Input orientierten Silben, die sie ja gar nicht vernehmen, können sie auch nicht produzieren. Es ist, als ob auch diese kleinen Wesen mit ihrem Gebrabbel eine Frage an die Welt wie auch an sich selbst richten und auf Antworten warten, die jedoch nicht kommen. Weder hören sie ihre Eltern, noch hören sie sich selbst. Diese Antworten brauchen sie aber, um weiterfragen zu können.
Kindliche Ausdrucksbewegungen, kategoriales Hören, Lallen und Plappern bilden den genetischen HebelSpracheGenetische Doppelsicherung, an dem die Eltern ansetzen. Auf der einen Seite: angeborene Ausdrucksformen und die Spontaneität des stimmlichen Spielens und Brabbelns. Auf der anderen Seite: ständige Ansprache, ständiger Zuspruch. So konvergiert der Sprachtrieb des Kindes mit dem Bemühen der Eltern. Sprechen ist – auf beiden Seiten – eine aus den Tiefen der Persönlichkeit hervorbrechende Betätigung. Erst die Konvergenz – das Zusammenspiel – ermöglicht den Erwerb der Sprache.5