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Die ersten Bedeutungen

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Einige Wörter stehen als Globalwörter für eine ganze Situation:

aua: kann alles bedeuten, was mit Schmerz zu tun hat, was weh tut oder womit man sich weh tun kann, wie Nadel oder Schere.
lecker/mhm: ist lecker, schmeckt gut, hab Hunger, hab Durst; mein Essen.

Kinder verfallen auf wirkungsvolle Kürzel:

mit: ich will mitgehen, mitspielen, mitfahren …
mal: ich will das noch mal, noch etwas essen, noch mal streicheln …

Viele Kinder drücken diesen Wunsch statt mit mal mit mehr aus; Gisa verfiel auf das Wörtchen ein, das sie wohl aus Äußerungen wie »Noch ein Löffelchen, ein Löffelchen für Papa, ein Löffelchen für Mama« ableitete. Der Zufall spielt mit!

Andere Wörter orientieren sich in ihrer weiträumigen Bedeutung an einem bestimmten Merkmal, etwa wenn Ball alles einschließt, was rund ist. Für die zweisprachige Olivia sind alle Männer papá, alle Kinder, auch Achtjährige, bébé. So werden anfangs etwa ein Viertel der Wörter in einem größeren Bedeutungsumfang gebraucht, als ihnen zukommt. Auto kann z.B. auch für Motorrad, Fahrrad, Laster, Flugzeug und Hubschrauber gebraucht werden. Merkmale, nach denen die Kinder die Bedeutung gruppieren, sind vor allem die Form, wie bei Ball, aber auch die Größe, der Schall, die Bewegungsart wie beim Wort Auto, der Geschmack, die Textur. »Mit machen kann?« war eine Zeitlang eine Standardfrage von Gisa. Wichtig ist also noch ein anderes Merkmal, der funktionale Aspekt eines neuen Gegenstands, nicht nur, was das Ding tut (wauwau, muh), sondern was man selbst damit tun kann: etwas zum Rollen, zum Beißen, zum Streicheln usw. Georg hieß der Bauer gegenüber, der meist auf dem Traktor saß, und bald hieß jeder Traktor, Bagger und Erdschieber »Georg«: auch solche Verschiebungen wie hier vom Menschen auf die Maschine oder auch vom Teil aufs Ganze und umgekehrt kommen vor. Elemente, die in Raum und Zeit zusammen vorkommen und eine Erlebniseinheit gebildet haben, können füreinander eintreten. So beginnt der sprachliche Erkennungs- und OrdnungsdienstSprachesprachlicher Ordnungsdienst.1

Einige Beispiele von verschiedenen Kindern:

ohm (oben): nach oben, aber auch nach unten; Treppe rauf oder runter
piepiep: beim Anblick von Vögeln; dann auch Insekten
baba: wenn Bubi aufs Töpfchen geht, schmutzig, unsauber; dann auch unordentlich und unartig
huh, huch: zuerst Schaudern bei Kälte; dann auch heiß; endlich alles Unheimliche, z.B. das dunkle Zimmer; ähnlich bedeutet heiß alles, was von der normalen Temperatur abweicht, also heiß sowie kalt
hoot: vielfach wird ein Farbwort, meistens rot, kurzfristig verwandt, um praktisch alle Farben zu bezeichnen2
abpellen: für Kartoffeln wie für Obst, wird aber auch zum Knacken von Nüssen gesagt
merci: Olivia sagt merci, wenn sie etwas bekommt, aber auch, wenn sie selbst etwas überreicht

Allerdings konnte man nachweisen, daß Kinder beispielsweise Auto oder das lautmalerischeLautmalerei brrm zwar auch im Sinne von Kinderwagen, Flugzeug oder Motorrad verwendeten, zugleich aber bei Sortieraufgaben sehr wohl schon zwischen Auto, Motorrad, Fahrrad usw. unterschieden. Es wäre auch verwunderlich, wenn die Kinder, die etwa rot für alle Farben, Bonbon für alle Süßigkeiten oder Milch als Sammelbezeichnung für Getränke gebrauchen, den Unterschied nicht sehen bzw. schmecken würden. Die Beschränkung liegt zumeist in ihrem sprachlichen Vermögen, nicht in der Auffassung von Welt. Möglicherweise machen sich’s die Kinder beim Sprechen einfach, entweder weil sie die korrekte Bezeichnung noch nicht kennen bzw. sich nicht an sie erinnern oder weil ihnen die richtige Lautgestalt noch zu schwierig ist. Allmählich werden die korrekten Bezeichnungen erworben, manchmal über Zwischenstationen wie Himmel-Auto oder Piepiep-Auto für Flugzeug.

Leichte Wörter sind immer solche, die durch Anschauung gestützt werden, wie wauwau und piepiep. Wauwau wird meist für alle Vierbeiner gebraucht; später eingeschränkt auf Hunde, wird dann aufgegeben zugunsten von Hund. Übergangsformen wie »Wauwau-Hund« oder »Piepvogel« zeigen sehr schön, wie die anschauliche, lautmalende Kinderbezeichnung die Brücke zur unanschaulichen konventionellen Bezeichnung bildet. Wauwau bleibt aber noch der Name für den Stoffhund, der mit ins Bett kommt.

Kinder wuchern einfach mit den wenigen Pfunden, die sie haben. Sie weichen auf ein nahe liegendes anderes Wort aus oder erfinden »Passe-partout-Wörter«, ähnlich wie wir uns mit Dingsbums aushelfen, wenn uns gerade das Wort nicht einfällt. So nennt der 17 Monate alte Bubi viele Dinge, die er nicht kennt, einfach mam, wie weiße Steine, Seife, Wachs, Siegellack und Kork.3

Gewöhnlich geht also der Weg von einer überdehnten, umfassenden Bedeutung zur eingeschränkten, passenden Bedeutung. Das Kind greift zu weit aus, als ob es mit wenigen Wörtern die ganze Welt vereinnahmen möchte. So muß Bubi noch den beschränkten Anwendungsradius von blond lernen. Als Dreijähriger nannte er seine Hafersuppe und einen Goldring blond. Aber es gibt auch den umgekehrten Fall der Bedeutungs-Schrumpfung, d.h. einer zu engen statt zu weiten Bedeutung, etwa wenn Dorothee das Wort nackt bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres nur im Sinne von nackte Füße, barfuß verwendet und dann erst diese Beschränkung aufhebt.4 Solche Unterdehnungen fallen gewöhnlich nicht weiter auf, da das Wort ja, wenn angewendet, immer richtig angewendet wird.

Wie Kinder sprechen lernen

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