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Helen KellerKeller, Helens Gedankenblitz: das Erlebnis des Bedeutens

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Fräulein SullivanSullivan, Anne liest Helen KellerKeller, Helen vor, indem sie die Wortzeichen mit ihrer rechten Hand auf die Innenfläche von Helens rechter Hand tastet.

Die Erkenntnis, daß die Dinge ihren Namen haben, wächst wohl allmählich. Alles Sprechen ist ja von Anfang an in Situationen eingebettet, in denen viele Faktoren zugleich ein Verstehen bewirken. Es läßt sich normalerweise kein Moment festhalten, in dem einem Kind der ZeichencharakterZeichen, anders gesagt: die Darstellungs- oder Nennfunktion von Sprache, offenbar wird.

Wir haben jedoch einen Fall von »wahrhaft gewaltigem Erkenntniswert«, bei dem diese Grunderfahrung des Nennens zu einem einmaligen Aha-Erlebnis zusammengezogen wurde.1 Helen KellerKeller, Helen erblindete und ertaubte mit 19 Monaten. Als sie fast sieben Jahre alt war, kam sie in die Obhut von Anne SullivanSullivan, Anne, einer begabten, gerade 19 Jahre jungen Frau, die selbst leicht sehbehindert war. Den Tag, an dem Anne Sullivan als Hauslehrerin bei den Kellers einzog, bezeichnete Helen später als den wichtigsten Tag in ihrem Leben. Anne Sullivan, ihre geistige Mutter, blieb zeit ihres Lebens Pflegerin, Dolmetscherin und Gesellschafterin von Helen, die sich später als Sozialistin und Pazifistin einen Namen machte und im Dienste von Blindenorganisationen um die Welt reiste. Helen Kellers Die Geschichte meines Lebens ist eigentlich eine Gemeinschaftsproduktion der beiden. (Den Erlös aus der deutschen Übersetzung hat sie den deutschen Kriegsblinden aus dem Ersten Weltkrieg gestiftet. Die Nazis haben ihre Bücher verbrannt – der Dank des Vaterlandes …)

Der Unterricht beginnt, indem ihr Anne eine Puppe schenkt, sie eine Weile damit spielen läßt und ihr dann das Wort Puppe in die Hand buchstabiert. Dabei benutzte sie die Rochester-Methode, bei der das traditionelle Fingeralphabet auf eine Hand konzentriert wird und mit der Taubblindetaubblind auch untereinander kommunizieren können.Lorm, Hieronymus2

Somit ergibt auch ein kurzes Wort wie Puppe (doll) ein kompliziertes Muster. Was macht Helen damit? Sie versucht, das Muster nachzumachen, und freut sich, wenn es ihr gelingt. So lernt sie über mehrere Wochen noch viele »Wörter«: Es sind im Grunde nur verschiedene taktile Reizfolgen ohne Bedeutung. Allmählich stellt sich aber eine Gedankenverbindung her, denn ihre Lehrerin buchstabiert ihr das Muster immer nur dann, wenn sie unmittelbar zuvor die Sache selbst berührt hat. Oder: Helen hält den Gegenstand in der einen Hand, und die Zeichen dafür werden ihr in die andere geschrieben. Helen »fragt« sogar schon nach »Wörtern«: wenn sie auf etwas zeigt, dann die Hand ihrer Lehrerin tätschelt, erwartet sie von ihr ein bestimmtes Reizmuster zum Nachmachen. Das in die Hand getippte und gestreichelte Muster gehört irgendwie zum betasteten und erfühlten Gegenstand dazu. Aber sie ist noch nicht zur vollen Klarheit gelangt. Das Reizmuster ist mehr ein Anhängsel als ein Stellvertreter der Sache, noch kein Zeichen für etwas. Manchmal gibt es Ärger. Helen will nicht akzeptieren, daß Anne ihr das gleiche Muster für zwei ganz verschiedene Puppen in die Hand tippt, und wirft die Puppe wütend auf den Boden, wo sie zerschellt.

Schwierigkeiten gibt es auch beim Auseinanderhalten von Becher (mug), Milch und Trinken. Für Helen fällt das eher in ein Ereignis zusammen. Die Dinge und die damit regelmäßig verbundenen Tätigkeiten sind ungeschieden, sind »AktionsdingeAktionsding«: zum Ball gehört der Kick, zur Puppe das Spielen, zum Kuchen das Aufessen, zur Milch das Trinken. Anfänglich bezeichnen viele Kinderwörter ein solches Erlebnisganzes: quak-quak ist zugleich Ente, Wasser, Teich.

Über das entscheidende Erlebnis berichtet die Lehrerin:

Als ich sie heute früh wusch, wünschte sie die Bezeichnung für Wasser zu erfahren. Wenn sie die Bezeichnung für etwas zu wissen wünscht, so deutet sie darauf und streichelt mir die Hand. Ich buchstabierte ihr w-a-t-e-r in die Hand und dachte bis nach Beendigung des Frühstücks nicht mehr daran. Dann fiel es mir ein, daß ich ihr vielleicht mit Hilfe des neuen Wortes den Unterschied zwischen mug und milk ein- für allemal klarmachen könnte. Wir gingen zu der Pumpe, wo ich Helen ihren Becher unter die Öffnung halten ließ, während ich pumpte. Als das kalte Wasser hervorschoß und den Becher füllte, buchstabierte ich ihr w-a-t-e-r in die Hand. Das Wort, das so unmittelbar auf die Empfindung des kalten über ihre Hand strömenden Wassers folgte, schien sie stutzig zu machen. Sie ließ den Becher fallen und stand wie angewurzelt da… Sie buchstabierte das Wort water zu verschiedenen Malen. Dann kauerte sie nieder, berührte die Erde und fragte nach deren Namen, ebenso deutete sie auf die Pumpe und auf das Gitter. Dann wandte sie sich plötzlich um und fragte nach meinem Namen. Ich buchstabierte ihr teacher in die Hand.3

Helen selbst schreibt dazu:

Mit einem Male durchzuckte mich eine nebelhaft verschwommene Erinnerung an etwas Vergessenes, ein Blitz des zurückkehrenden Denkens, und einigermaßen offen lag das Geheimnis der Sprache vor mir. Ich wußte jetzt, daß w a t e r jenes wundervolle kühle Etwas bedeutete, das über meine Hand hinströmte.4

Wasser war das ZeichenZeichen, das den Weg zu allen weiteren Wörtern wies. Helen erlebt es wie einen Gedankenblitz. Dennoch kein Blitz aus heiterem Himmel, sondern einer, der sich angekündigt hatte. Es war ein Kulminationspunkt, in dem das, was in wenigen Wochen angebahnt wurde, zusammenkam.

Ich verließ den Brunnen voller Lernbegier. Jedes Ding hatte eine Bezeichnung, und jede Bezeichnung erzeugte einen neuen Gedanken. Als wir in das Haus zurückkehrten, schien mir jeder Gegenstand, den ich berührte, vor verhaltenem Leben zu zittern.5

Normalsinnige Kinder gleiten unmerklich in die Erkenntnis hinein, daß Dinge, Eigenschaften, Tätigkeiten und Vorgänge Namen haben können und daß umgekehrt die Geräusche, die wir mit unserem Mund erzeugen, etwas »bedeuten«. Wenn Kindern dieser natürliche Weg zunächst verwehrt wird, kann dieses Erkennen bewußt erlebt werden. Blitzartig leuchtet die Erkenntnis auf, wird ein Zusammenhang klar. Dieses Erlebnis ist von freudiger Erregung begleitet.

Es gibt mittlerweile weitere Berichte über Gehörlose, in denen dieser dramatische Moment geschildert wird. So schreibt die Gebärdendolmetscherin Susan SchallerSchaller, Susan über den Unterricht, den sie einem siebenundzwanzigjährigen Taubgeborenen erteilt. Als sie ihm die GebärdeGebärdensprache für Dein Name? vormachte, imitierte er diese einfach wie Helen, ohne sie als Zeichen für eine Frage zu verstehen. Der Durchbruch kam nach tagelangen Versuchen, in denen er zigmal Gebärdenwörter wiederholt hatte, besonders das Zeichen für Katze, ohne eigentliches Verständnis. Doch plötzlich war es keine Geste mehr, mit der man nichts weiter anfangen konnte, als sie nachzumachen, weil es offenbar so erwartet wurde. Es wurde etwas ganz anderes, und seine Lehrerin jubelt:

Er hatte es geschafft! Er hatte verstanden, hatte denselben Strom durchquert wie Helen KellerKeller, Helen, als sie am Pumpbrunnen plötzlich den Zusammenhang zwischen dem Wasser, das über ihre Hände floß, und dem Wort water herstellte. Ja, W A T E R und C A T bedeuteten etwas! Und die Bedeutung von Katze in der Vorstellung des einen Menschen konnte die Bedeutung von Katze in der Vorstellung eines anderen wachrufen, wenn man ein Symbol – ein Wort oder eine Gebärde für Katze benutzte.6

Auch bei doppelt behinderten, taubblinden Kindern haben wir mittlerweile weitere Zeugnisse über ein solches Aha-Erlebnis. Ein Film zeigt, wie ein taubblindes Kind unterrichtet wird, indem man ihm z.B. einen Apfel in die Hand gibt oder einen Ball und ihm dann das Wort in die Hand buchstabiert.

Man sieht, wie das Kind aufmerksam mit der Hand lauscht, und als es endlich den Bedeutungszusammenhang zwischen Zeichen und Objekt erfaßt hat, hüpft es vor Freude in die Höhe. Ist dieser Durchbruch einmal geschafft, lernen die Kinder mit großem Eifer und überraschend schnell.7

Das Tor zur Bezeichnung der Welt ist aufgestoßen.

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