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7. März 1991

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»Von der SED gestohlenes Grundvermögen« nennt die FAZ-Leitglosse den aus Enteignungen hervorgegangenen genossenschaftlich genutzten Boden der DDR. Hybris der Sieger. Aber im Osten reift ein zweiter Aufstand heran, und die Klügeren aus den bürgerlichen Parteien haben begriffen, dass Ökonomie vor dem Prinzip Privateigentum rangiert. Zumindest verbal macht man jetzt Zugeständnisse: »Sanieren, um verkaufsreif zu machen«, soll der neue Auftrag an die »Treuhand« lauten, die bisher privatisiert hat um der Privatisierung willen und zu diesem Zweck die Unternehmen zuerst vollends ruinierte: Ausrottungskreuzzug gegen nichtkapitalistische Eigentumsformen.

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Mit Barbara, meiner ›illegitimen‹ Halbschwester, traf ich mich auf dem Parkplatz des pforzheimer Krankenhauses Siloa. Sie führte mich auf den Trümmerberg. Als die Stadt am 22. Februar 1945 ohne jeden militärischen Sinn vernichtet wurde und mit ihr 17 000 Menschen untergingen, da war B. noch im Mutterleib. Es war wie ein Gleichnis: der Boden, auf dem wir zusammenkamen, waren die Trümmer einer großen Liebe, einer unheilbaren Verstrickung dreier Menschen. Mein Vater war beinahe vierzig, das Mädchen Else knapp halb so alt (sie ist am 4. August 1924 geboren).

Zu denken, dass diese Else, die nie einen anderen Mann hatte, noch lebte, als ich vor drei Jahren in Pforzheim über Antifaschismus sprach, während Barbara mit ihrem Mann inkognito im Publikum saß, um mich zu beobachten. Ihre Mutter lehnte damals den Gedanken, mich kennenzulernen, noch strikt ab. Jetzt versuchen wir, die fragmentarischen Hinweise, die wir von unseren Müttern haben, zusammenzusetzen und unsere jeweilige Verstrickung zu erkunden. Es ist ein Puzzle, aber kein Spiel, allzu viel Dunkles hängt an dieser Familiensaga.

Barbara hat blaugraue Augen. Sie ist Lehrerin in einer Grundschule, auf dem Trümmerberg befürchtet sie einen Moment lang, in einem Kind den Schüler wiederzuerkennen, mit dem sie am Morgen »zusammengerasselt« ist. Sie ist mit allerlei Selbstetikettierungen zur Hand, als wollte sie möglicher Kritik zuvorkommen: »unfähig zur Spontaneität«, »konfliktscheu« usw.

Ihre Mutter hat das Unglück ihrer großen und »schuldigen« Liebe auf eine Weise verallgemeinert, dass sie alles Unglück aus der Umgebung auf sich nahm; sie war »der Jesus von Pforzheim«. Als Arzthelferin die Klagen der Patienten nicht nur anhörend, sondern das geklagte Leid mitduldend. In jenem Schicksalsjahr 1945 war Elses Mutter der Schwangeren nicht beigestanden, sondern hatte sie zu einer Tante geschickt. Standardsatz der Mutter: »was sollen da die Leute sagen«. »Diesen Satz haben meine Kinder nicht ein einziges Mal von mir gehört«, sagt Barbara. Sie schildert ihre Ältere (Brita, 15) als verschlossen und hausgebunden, die jüngere (Berit, 10) als »Außenministerin« der Familie, nicht zu Hause zu halten. Als mein Brief kam, sagte Berit sofort: »kriege ich jetzt einen Onkel?«

Namenszauber: Barbara (genannt Bara), Bernd; Brita, Berit.

Als wir uns verabschieden, zögert B. einen Moment lang, ob sie mich nach Hause einladen soll. Meine Schwester zu sein, lehnt sie ab; wir haben nicht denselben Vater, sondern nur denselben Erzeuger, sagt sie, und Geschwister haben eine gemeinsame Geschichte, während wir nur eine dunkle Geschichte unter uns haben, wie den Schutt von Altpforzheim, als ein Unbewusstes unserer Kindheit.

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