Читать книгу Jahrhundertwende - Wolfgang Fritz Haug - Страница 165

17. März 1991

Оглавление

Im heute zur Abstimmung gestellten Entwurf zu einem neuen Unionsgesetz besagt der 4. Punkt: »Die Republiken betrachten den Aufbau und die Entwicklung einer zivilen Gesellschaft als die wichtigste Voraussetzung für Freiheit und Wohlstand«. – Ja, aber wie verstanden? Lauert unter der zivilen der Wechselbalg der bourgeoisen Gesellschaft?

Erkenntnis, kapitalistisch: »Wir erkennen Sie« heißt in der Bankensprache dasselbe wie »we credit you«, nämlich »wir schreiben Ihnen gut«.

Transnationaler Kapitalismus. – Als globale Produktionsweise schafft er sich eine globale Sprache, weltweit und branchenübergreifend, eigens genormt für Electronic Data Interchange (EDI). Unter Leitung der UNKommission für Europa wurde gemeinsam mit den Normeninstituten von 60 Ländern der Sprachstandard EDIFACT entwickelt (Electronic Data Interchange for Administration, Commerce & Transport).

Hochtechnologische Produktionsweise. – Mikromechanik als neues Forschungsgebiet. Hier geht es um »Mems« (mikro-elektro-mechanische Systeme), Chips, die nicht nur speichern können, sondern auch »spüren« (Sensoren) und »reagieren« (Mikromaschinen). Oder mechanische Informationsspeicherung mittels mikromechanischer Speicherzellen, bei denen die Wölbung von winzigen Stegen – dünner als ein Haar und tausendfach auf einem Chip angeordnet – die Information darstellt: nach oben = 1, nach unten = 0. Mit elektronischen Komponenten gekoppelt, ergibt das ein Mems. Der Begriff »Maschine« (und die Disziplin des Maschinenbaus) erfährt hier eine Ausdehnung ins Mikroskopische und dadurch einen Verallgemeinerungs- und Abstraktionsschub im Vergleich zur für Marx noch dominanten Werkzeugmaschine. Entwickelt werden »Mikroaktoren« – Zahnräder, Getriebe, Mikromotoren und -turbinen –, deren Funktionieren sich nur unterm Mikroskop beobachten lässt. Die Methoden der Fertigung aus dünnen Materialschichten ähneln z.T. denen der Chip-Produktion. Die Anwendung wird dadurch gekennzeichnet sein, dass sich ungeheure Mengen solcher Mikromaschinen auf engem Raum unterbringen lassen: Hunderte pro Chip, von denen wiederum hundert auf einem Silizium-Wafer Platz finden. Werkstoffe und ihre mechanischen Eigenschaften sind in diesem Bereich noch zu erforschen. Man kennt noch keine metallurgischen Rezepte für Werkstoffhärtung in Mikrodimensionen. Wiederum erfordert das eine Revolutionierung der Messtechnik, zugleich der Klimatisierung von Räumen. – In Berlin arbeitet das Fraunhofer Institut für Mikroelektronik an solchen Technologien. (E. Arzt: »Motor und Chip in einem. Neue Horizonte für High-Tech-Materialien in der Mikromechanik«, FAZ, 12.3.)

*

Kathrin A. schreibt aus Leipzig von der Angst der vielfachen Ungewissheit, Angst der Chancenlosigkeit, aber auch Angst der hinterrücks verändernden Macht der Chancen. In ihrer Umgebung hektische Suche nach Möglichkeiten, Geld zu verdienen, mit der Vorstellung, sich dann die jetzigen Ideale weiter leisten zu können. Ihr Freund hat sein Studium nach vier Jahren abgebrochen, um sich in Herford bei der Commerzbank zum Geschäftsstellenleiter ausbilden zu lassen. Nach acht Wochen wird sie ihn zu Ostern erstmals wiedersehen, und sie fragt sich, ob sie ihn dann wiedererkennt. Er hat ein kritisches Bewusstsein, aber wird er nicht seine Zweifel verdrängen müssen, um voranzukommen? Und in drei Jahren wäre er Filialleiter einer Bank und seine Frau marxistische Pädagogikdoktorin. »Ich weiß nicht, ob wir das können.«

In Tönen der inneren Vergewisserung, die merkwürdig abstechen von dieser Existenzangst, spricht Kathrin, wo sie von ihren Fortschritten im Russischstudium schreibt, das sie in ein paar Monaten abzuschließen hofft: »Nach 10 Jahren Russischunterricht und einigen Reisen in die SU ist es ein schönes Gefühl, die Sprache nun richtig zu lernen. Ich fühle mich wie zuhause, auch wenn die gefühlsmäßige Bindung an dieses Land verschwommen ist. Sich für diese Sprache, diese Menschen, die Geschichte dieses Landes zu interessieren und sich damit nun intensiv zu beschäftigen, ist wie die Erfüllung eines Vermächtnisses. Das Beste und Schönste meines bisherigen Lebens nehme ich mit in die neue Zeit. Ein Teil meines Inneren festigt sich und wird mir immer erhalten bleiben. Wenn das Studium auch hart ist, beruhigt es mich, es gibt mir innere Festigkeit.« Dieser innere Halt jetzt von größter Bedeutung.

Kathrin ist es gelungen, das Thema ihrer Diplomarbeit bei den Pädagogen unterzubringen: »Massenkultur, Massenmedien und Kommunikation in den gesellschaftstheoretischen Auffassungen W. F. Haugs«. Freilich ist unsicher, ob der Antrag auf »Forschungsstudium« genehmigt wird, ob der Betreuer dann noch arbeiten darf und ob die Hochschule in den nächsten Jahren überhaupt noch existiert. Deshalb hat sich K. parallel bei der Lufthansa um eine Ausbildungsstelle als Stewardess beworben, ja sogar als Pilotin. »Also wenn nicht alles schiefgeht, vergrabe ich mich ab Oktober in Büchern oder gehe in die Luft. Den Sommer will ich in den USA verbringen«. – Hoffnungen zwischen Stewardess und marxistischer Pädagogikdoktorin! So werden wohl jetzt zwei Generationen in eine ungeheuerliche Mobilität in jeder Hinsicht geschleudert, weil ja auch Ehen und Kinder mit auf dem Spiel stehen. Eine fast ekstatische Wiedergewinnung von Zukunft nach der nostalgischen Zukunftslosigkeit vom vergangenen Oktober schildert Kathrin in Gestalt einer Parisreise zu Sylvester: »Ich habe mich (obwohl ich kein Französisch kann) sofort heimisch gefühlt. Als ich im Musée d’Orsay vor ›meinem‹ Cézanne und vor ›meinem‹ van Gogh, nun allerdings vor den Originalen, stand und als ich ›meine‹ Montmartretreppen runter- und wieder raufstieg, wusste ich nicht, ob ich schwebte oder fiel und fiel. Ich hab’ getanzt, gelacht und geheult zugleich. Zum ersten Mal habe ich gefühlt, dass MIR nun die Welt offensteht. Es war wie eine Befreiung.«

Die Rezension meines »Perestrojka-Journals« im ND hat K. übrigens so verstanden, dass das Buch »jetzt auch hier erscheint«. Da spricht noch die alte DDR.

Jahrhundertwende

Подняться наверх