Читать книгу Jahrhundertwende - Wolfgang Fritz Haug - Страница 170

22. März 1991, Gramsci-Colloquium im Haus am Köllnischen Park

Оглавление

Schwäche und Stärke meiner Kommunikationsweise sind zwei Seiten einer Medaille: esoterisch mit einer Fassade, die überaus zugänglich ist. Hält einen Schock bereit.

Bemerke die Tendenz, die Struktur der gramscischen Reflexionen dem Gefängnisdasein zuzuschreiben. Die so reden, haben vermutlich nie geforscht, sonst wüssten sie, dass das, was sie als haftbedingt schildern, zum normalen Prozess wirklicher Forschung, die eine fortgesetzte Anomie ist, gehört. Das ständige Umarbeiten, Umwerfen der Anordnung, die Unordnung, das Sich-Sperren des Materials, das Darüber-Krankwerden, die Schlaflosigkeit, das unabstellbare Zwangsdenken usw.

Joe Buttigieg hat recht, wenn er annimmt, dass die meisten, die Gramsci im Munde führen, einfach zu faul sind, um sich sein Denken wirklich anzueignen. Der Mangel an kritischer Strenge, sagt er, hat die intellektuellen Milieus der Linken erreicht. Lorianismus bedeutet billiges Denken, das die Schleusen öffnet. Gramsci spürte darin eine der Vorbedingungen des Faschismus.

Gramscis Methode ist arbeitsaufwendig.

Frank Deppe befürchtet jetzt vor allem, dass Begriffe wie »Zivilgesellschaft« als eine black box fungieren, in die alles aus den theoretischen Traditionen der Arbeiterbewegung Mitzunehmende hineinprojiziert wird. Man müsse viele Linien nebeneinander berücksichtigen. Er hat recht und unrecht, denn er gewichtet noch zu wenig die Beispiellosigkeit der Arbeitsweise der Gefängnishefte und neigt dazu, deren Besonderheit in Gramsci als solchem aufzulösen.

Nach einer ärztlichen Visite bei Gramsci verlangte der Arzt, man möge ihn einen Blick auf die Hefte werfen lassen. Die Folge von anscheinend unverbundenen Paragraphen mit wechselnden Themen durchblätternd kam er zur Diagnose, dieser Gefangene müsse ein Psychotiker sein.

Gramscis Verteidigung vor Gericht basierte darauf, seine Parteiführerschaft zu bestreiten. Da schrieb Grieco einen hymnischen Brief, worin er Gramsci zum größten Parteiführer hochlobte. Das machte Gramsci zum Märtyrer, was dieser nie sein wollte. Eine Falle.

Kuno Füssel sprach vom Hilflosen Atheismus der alten DDR, die den Atheismus zur Staatsreligion erhob und zum Erziehungsziel machte und die Zivilgesellschaft ins Privatleben einsperrte. Im Anschluss daran parallelisierte Jan Rehmann Gramscis Ökonomismuskritik und Marx’ Religionskritik. Der Vergleich knirscht.

*

Zivilgesellschaft. – Eine marxistische Sozialistin widmete 1901 ihre römische Antrittsvorlesung der Zivilgesellschaft: Teresa Labriola, Tochter Antonios, sprach sich dagegen aus, die Bildung der Zivilgesellschaft in die Zukunft zu verlegen. Geregelte Solidargemeinschaft.

Zweidrittelgesellschaft. – Gewohnt, fürs untere Drittel zu sprechen, vergisst die Linke leicht, dass es darauf ankommt, einen Block zusammenzubringen, der die besser situierten Zweidrittel spaltet und einen erheblichen Teil davon mit dem unteren Drittel zusammenschließt.

Peter Glotz: von der Nomenklatura zur Prokura.

Jahrhundertwende

Подняться наверх