Читать книгу Die Mathematik im Altertum - Wolfgang Hein - Страница 12
1.4 Astronomie, Astrologie und Kalenderberechnung
ОглавлениеAstronomie spielte (und spielt noch immer) in allen Kulturen eine bedeutende Rolle. Das hängt offenbar damit zusammen, dass Sonne und Mond das menschliche Leben in vielerlei Hinsicht betreffen, sei es tatsächlich oder vermeintlich. Zyklen von Sonne und Mond ordnen sowohl das bürgerliche Leben als auch die religiösen Festzeiten. Ihr Lauf war daher zu allen Zeiten Grundlage für die Zeitmessung und den Kalender.
Die natürlichen Einheiten für die Zeitmessung sind Jahr, Monat und Tag. Der Lauf der Sonne bestimmt die Jahreszeiten, die für landwirtschaftlich geprägte Kulturen vordringlich sind, während der Mondlauf für Hirtenvölker von größerer Bedeutung ist. Schon seit frühesten Zeiten hat man versucht, Sonnen- und Mondkalender in Einklang zu bringen. Alle diesbezüglichen Versuche waren, wie man allerdings erst im Mittelalter erkannte, zum Scheitern verurteilt, da die Umlaufzeiten von Sonne und Mond – das tropische Jahr und der synodische Monat – inkommensurabel sind, das heißt in keinem ganzzahligen Verhältnis zueinander stehen.
Im alten Ägypten hat sich eine Näherungslösung gefunden, die sich in der Praxis trotz einer Reihe anderer Versuche so bewährt hat, dass sie bis zur gregorianischen Kalenderreform im 19. Jahrhundert Bestand hatte: der 19-Jährige Lunisolarzyklus. Hierbei handelt es sich um die Feststellung, dass 19 Sonnenjahre recht genau einer vollen Zahl, nämlich 235 Monate sind. Das tropische Sonnenjahr hat nämlich ungefähr 365,24 Tage, der synodische Monat etwa 29,53 Tage. Demnach haben 19 Sonnenjahre 6939,56 Tage, 235 Monate 6939,55 Tage. Es folgt, dass alle 19 Jahre die Mondphasen (mit geringfügigen Abweichungen) auf das gleiche Datum des Sonnenkalenders fallen. Dies hat vor allem für die Bestimmung des jüdischen Passahfestes und des christlichen Osterfestes hohe Bedeutung erlangt, weil beide Feste vom Datum des ersten Frühlingsvollmondes abhängen.
Die Ägypter hatten einen Kalender mit den Einheiten 12 Monate zu je 30 Tagen. Das war weder ein Sonnen- noch ein Mondkalender, und sowohl die Jahreszeiten als auch die Mondphasen verschoben sich permanent (in 1460 = viermal 365 Jahren durch einen ganzen Jahreszeitenzyklus, den sogenannten Sothis-Zyklus). Dies konnte mit etwas Zählen und elementarem Rechnen unter Kontrolle gehalten werden. Im Übrigen schien der bürgerliche Kalender gar nicht so wichtig gewesen zu sein, da sich die Landwirtschaft weniger nach den Jahreszeiten als nach den Nilüberschwemmungen richten musste.
Das Jahr begann daher ursprünglich mit den Nilüberschwemmungen, wurde aber im Laufe der Zeit auf den Aufgang des Sirius (ägyptisch Sothis) in der Morgendämmerung (heliakischer Aufgang) verlegt. Obwohl dieses Datum vom Breitengrad des Beobachters abhängt und sich im Laufe der Zeit verändert, war es doch ein hinreichend konstantes Ereignis und lag zudem meistens dicht – jedenfalls ab etwa 2000 v. Chr. – beim Beginn der Nilüberschwemmungen; es galt deshalb als „Bringer der Nilflut“, die gegen Juni eintrat.
Vielmehr als die Ägypter haben sowohl Babylonier als auch Inder und Chinesen in systematischen und kontinuierlichen Beobachtungen Ordnung in das Firmament gebracht. In systematischen und langen Beobachtungsreihen haben sie die Bewegungen von Sonne, Mond und den Planeten vor dem Hintergrund des Fixsternhimmels aufgezeichnet und waren damit in der Lage, mithilfe von Berechnungen Voraussagen zu machen; aus Ägypten ist solches nicht überliefert.
Eine wesentliche Erkenntnis – in Mesopotamien wahrscheinlich schon im 3. Jahrtausend v. Chr., in Indien und China wohl nicht vor dem 4. Jahrhundert v. Chr. – bestand in der Entdeckung, dass sich Sonne, Mond und die (sichtbaren) Planeten in einer Ebene bewegen. Damit hatten sie den später sogenannten Tierkreis, die Ekliptik, entdeckt; Tierkreis deswegen, weil diese Ebene durch die Sternbilder mit Tiernamen verläuft. Die Babylonier teilten ihn – was offensichtlich mit ihrem Zahlsystem zusammenhängt – in zwölf „Häuser“ ein und jedes Haus in dreißig Teile, den Jahreskreis damit in 360 Teile. In China wurde vereinbart, dass die Sonne jeden Tag ein Grad zurücklegte. Der Vollkreis (das tropische Jahr) war demzufolge in 365,25 Grad aufgeteilt (dabei ging man von einer gleichmäßigen Bewegung der Sonne aus).
Eine weitere Komponente, die das Interesse an astronomischen Studien gefördert hat, ist die Astrologie. Dass die Himmelskörper in vielfältiger Weise auf das Leben der Menschen einwirken, scheint ja offensichtlich zu sein, zumal wenn die Gestirne, wie in den alten Kulturen üblich, als Götter angesehen und verehrt werden.
Während die Astrologie in Ägypten (der spärlichen Quellenlage nach) eher mäßig entwickelt war, wirkte sie in den anderen frühen Hochkulturen als einflussreiche Triebfeder auf die Entwicklung der Astronomie und in ihrem Gefolge auch auf die Mathematik. Astrologie geht der beobachtenden und rechnenden Astronomie voraus und gründet in uralten Mythen, in Mythen, die den Menschen Erklärungen für Erscheinungen und Einflüsse geben, die ihr Leben in irgendeiner Weise betreffen, für die sie aber keine rationalen Erklärungen finden können. In China waren um die Zeitenwende uralte Vorstellungen von der unlösbaren Einheit zwischen Welt und Mensch allgegenwärtig, denen zufolge alles in engster Wechselwirkung von Himmel, Erde und Mensch abläuft.
So schien es angebracht, die Bewegungen der Gestirne zu studieren um Voraussagen über Ortsbestimmungen, Konjunktionen, Verfinsterungen und ähnliches machen zu können. Beobachtungen allein genügten dafür jedoch nicht, hier wurden Berechnungen notwendig, die teilweise recht komplizierte und aufwendige Ausmaße annahmen. Dabei handelt es sich um wirkliche astronomische Forschung. Wenn daraus allerdings Schlüsse und Voraussagen über das Schicksal von Menschen abgeleitet werden, oder gar die tägliche Arbeit der Menschen oder die politischen und militärischen Entscheidungen des Königs durch ein umfangreiches Regelwerk, das aus der Position der Sterne abgeleitet ist, bestimmt werden, so mündet die Astronomie – und in ihrem Gefolge die Mathematik – schließlich in Aberglauben und esoterische Praktiken.
Am Ausgang der Antike um 400 n. Chr. sah sich der Bischof und Kirchenlehrer Augustinus von Hippo wegen der weiten Verbreitung astrologischen Aberglaubens genötigt, die guten Christen zu warnen
„vor Mathematikern und allen, die in gottloser Weise prophezeien, damit diese nicht, mit den Dämonen vereint, die irregegangene Seele durch einen Gemeinschaftspakt täuschen.“ [De genesis ad literam II, XVII, 37]
Nebenbei sei bemerkt, dass hier mit den „Mathematikern“ natürlich die Astrologen gemeint waren; es ist aber bekannt, dass bis in die Neuzeit hinein die Mathematiker und Astronomen sich ihren Lebensunterhalt ganz oder teilweise durch das Erstellen von Horoskopen verdient haben. Ein bekanntes Beispiel hierfür ist Johannes Kepler (1571–1630), der als „Hofmathematikus“ für die habsburgischen Kaiser Horoskope erstellte, desgleichen für deren Feldherrn Wallenstein (der sich nicht zu schade war, Kepler um sein Honorar zu prellen).
Von der babylonischen Astronomie haben die Griechen – und damit auch wir Heutigen – viel gelernt und übernommen, und unsere heutige Astrologie geht fast vollständig auf den alten Orient zurück. (Die Praxis der Winkeleinteilung in 360 Grad zu je 60 Minuten usw. ist schon jedem Mittelschüler geläufig.)