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1.5 Mathematik in Philosophie, Theologie und Kunst
ОглавлениеWenn, wie wir wiederholt festgestellt haben und im Folgenden noch häufig sehen werden, Ursprünge, wesentliche Motivationen und Entwicklungsschübe der Mathematik in den praktischen Erfordernissen des Alltags der Menschen liegen, so ist es auf den ersten Blick nicht leicht vorstellbar, dass eine so praktische und erdverbundene Wissenschaft mit Philosophie, Religion, Kunst und vielleicht weiteren Geisteswissenschaften zu tun haben könnte.
Nun ist es aber so, dass seit ältesten Zeiten in den meisten Kulturen Zahlen nicht nur zum Zählen von Gegenständen des praktischen Lebens verwandt wurden, sondern auch zur Erklärung von Erscheinungen, Vorgängen und Ähnlichem, welchen ein indirekter, spekulativer oder mystischer Einfluss auf Leben und Sterben zugesprochen wurde. Von da aus war es nur ein kurzer Weg, bis solche Wirkungen auf die Zahlen selbst übertragen wurden.
Wann sich die Zahl, von den gezählten Gegenständen abgelöst, zu einem „abstrakten“ Begriff entwickelt hat, wird man nicht feststellen können, weil es sich dabei um einen Prozess und nicht um ein einmaliges Ereignis gehandelt hat. Die griechischen Philosophen jedenfalls haben die Praxis des Zählens und Rechnens von der „wissenschaftlichen“ Mathematik getrennt und in einen eigenen Bereich verschoben, den sie Logistik nannten (vgl. Abschnitt 4.5). Dort gehörte die Arithmetik zum Feld der Kaufleute und Techniker, hier, wo es um den Begriff der Zahl ging, zum Feld der Philosophen. Dort wurde die Praxis des Rechnens ausgeübt, hier wurde nach den „ewigen“ unveränderlichen Gesetzmäßigkeiten der Zahlen gesucht.
Wo dieser einschneidende Schritt in der Mathematik getan wurde, hat die Zahl eine eigenartige mystische Wirkung ausgeübt. So schwärmte Philolaos, Pythagoreer des 5. Jahrhunderts v. Chr.:
„Denn sie ist groß, allvollendend und allwirkend und Urgrund und Führer des göttlichen und himmlischen Lebens wie auch des menschlichen … Ohne diese ist alles grenzenlos und undeutlich und dunkel; denn die Natur der Zahl ist Erkenntnis spendend und führend und lehrend für jeden bei jedem Dinge, das ihm rätselhaft und unbekannt ist … Täuschung dringt unter keinen Umständen in die Zahl ein; denn Täuschung ist ihrer Natur feindlich und verhasst; die Wahrheit aber ist dem Geschlecht der Zahl eigen und angeboren.“ [Capelle, S. 477f.]
Der Neupythagoreer Nikomachos von Gerasa schloss sich im 1. Jahrhundert n. Chr. dieser Auffassung von der „Natur der Zahl“ und ihrem „wahren und ewigen Wesen“ an, und so galt es durch das gesamte Mittelalter und die Renaissance hindurch:
„Alles, was von der Natur im Universum nach einem bestimmten System angeordnet ist, scheint sowohl in seinen Teilen als auch im Ganzen in Übereinstimmung mit gewissen Zahlen festgelegt und geordnet zu sein … Die Zahl ist nur ein Begriff, aber im Übrigen absolut immateriell, und dennoch ist sie das wahre und ewige Wesen, so dass mit Bezug auf sie wie auf einen künstlerischen Plan alle diese Dinge geschaffen werden mussten, nämlich die Zeit, die Bewegung, die Himmel, die Gestirne und die Kreisläufe.“ [Nikomachos von Gerasa, S. 189]
So schwer es uns heute auch fällt, diese Gedanken nachzuvollziehen, darf doch nicht übersehen werden, dass diese Begeisterung für „die Zahl an sich“ am Beginn abendländischer Arithmetik steht.
Als „Führer des göttlichen und himmlischen Lebens“ haben auch die anderen alten Kulturen die Zahl angesehen. Besonders deutlich war das in Babylon, wo jedem Gott eine Zahl derart zugeordnet wurde, dass die Beziehungen der Zahlen zueinander die Verhältnisse in der Götterwelt und der Götter untereinander reflektierten. So ist es nur folgerichtig, dass die wichtigste Zahl im Zahlsystem der Babylonier, die 60 als dessen Basis, dem obersten Gott Anu zukommt, während sich die vielen kleinen Untergötter und Dämonen mit Bruchzahlen zufrieden geben mussten (vgl. [Pichot, S. 93]).
Eine ausgiebige metaphorische Verwendung der Zahlen finden wir (wohl nicht ganz unabhängig von babylonischem Vorbild) auch in der Bibel. Die ins fantastische gehenden Übertreibungen von Altersangaben herausragender Persönlichkeiten, von Angaben über Gefangene oder Erschlagene nach siegreichen Feldzügen zeigen, dass die Zahl hier ihre ursprüngliche Funktion eingebüßt hat zugunsten einer Erzählweise, die wir nicht mehr verstehen. Der Kirchenlehrer Augustinus hat um 400 n. Chr. Wege zu ihrer Entschlüsselung gewiesen; die von den Autoren tatsächlich intendierten Absichten bleiben uns Heutigen dennoch verschlossen. Überdeutlich wird dies am Beispiel der Zahl 666, von der das letzte Buch des Neuen Testamentes sagt:
„Hier ist Weisheit erforderlich. Wer Verstand hat, der berechne die Zahl des Tieres; denn es ist eines Menschen Zahl, und seine Zahl ist sechshundertsechsundsechzig.“ [Offb. Joh. 13, 18]
Die hilflosen und absolut sinnlosen Versuche verschiedener Autoren der Renaissance – allen voran Michael Stifel (1487–1567) – haben nichts zur Aufklärung, dafür aber zu einer Menge Konfessionsstreitigkeiten beigetragen.
Für die Geometrie kann man Vergleichbares nicht feststellen. Das dürfte vor allem daran liegen, dass die geometrischen Figuren und Konstruktionen vom Grunde her konkret sind, wogegen die Zahlen, von den gezählten Gegenständen abgelöst, nicht verschwunden waren, sondern als abstrakte Begriffe eine eigene Existenz behielten.
Aber eine metaphorische Verwendung der Zahl muss nicht ins Okkulte abgleiten. Positiv ist immerhin zu vermerken, dass die Tendenz zur Zahlenmystik (von Ägypten einmal abgesehen) die Arithmetik, genauer das Studium der Gesetzmäßigkeiten der Zahlenreihe, sogar befördert hat.
Wichtiger noch als die Zahl war in der „philosophischen“ Mathematik der Begriff des Verhältnisses von Zahlen und der der Proportion (Verhältnisgleichheit). Die Proportion war ein allgegenwärtiges Hilfsmittel, natürliche, aber auch „übernatürliche“ Dinge dem Verstand zugänglich zu machen, die sich sonst der vernunftgemäßen Behandlung verweigern. Das war schon aus den obigen Zitaten herauszuhören, wo von der kosmischen Harmonie die Rede war, die sich in vielfältiger Weise in Zahlenverhältnissen ausdrückt. Zahl und Proportion waren stets ein einflussreiches Mittel, die göttliche Ordnung ins Irdische zu übertragen. Ordnung aber war wesenhaft Zahlhaftigkeit; sie gab darüber hinaus die Sicherheit, die man benötigte. Am Ausgang der Antike hat Augustinus dies drastisch so ausgedrückt, zwei und zwei sei gleich vier, auch wenn das ganze Menschengeschlecht schnarche.