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Einleitung – Zahlen und Figuren in der Vorgeschichte

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Die Schaffung eines Zahlsystems, in dem Zahlen beliebiger Größe leicht überschaubar und praktisch handhabbar dargestellt werden können, ist eine der großen geistigen und sozialen Leistungen des Menschen. Die ältesten uns bekannten schriftlichen Quellen zur Mathematikgeschichte zeigen, dass die Arithmetik (Aufbau des Zahlensystems und der Grundrechenarten) ebenso wie die Geometrie am Beginn der geschichtlichen Zeit schon ein beträchtliches Niveau erreicht hatte. Es muss demnach in vorgeschichtlicher Zeit eine lange Phase mathematischer Tätigkeit gegeben haben.

Bei der Herausbildung eines Zahlbegriffs kann man zwei Phasen unterscheiden: das Vergleichen von Mengen hinsichtlich der Anzahl ihrer Elemente (heute reden wir von der „Kardinalzahl“) und das „geordnete“ Abzählen (die Ordinalzahl).

Das Bewusstsein eines Kardinalzahlbegriffs als Mächtigkeit endlicher Mengen, zuerst kleiner, dann größerer, wird wohl so alt sein wie die Menschheit selbst. In der Anthropologie ist bekannt, dass es einfache Kulturen gibt, in denen Hirten intuitiv erkennen, ob bei ihrer Herde von einigen hundert Tieren eines oder mehrere fehlen, ohne dass sie die Herde abzählen könnten.

Ein erheblicher Abstraktionsschritt besteht darin, dass man eine gegebene Menge mit einer anderen gleichmächtigen, selbst geschaffenen, leichter überschaubaren Hilfsmenge bewusst in Beziehung setzt.

Eine solche gliedweise Zuordnung (ohne wirklich zu zählen) bietet allerdings nur dann Vorteile, wenn die Hilfsmengen in irgendeiner Weise strukturiert sind oder strukturiert werden. Eine sinnvolle, leicht überschaubare Strukturierung ist ein wichtiger Fortschritt in der Entwicklung des Zahlbegriffs. Sie besteht in einem frühen Stadium in der Regel darin, dass Strichlisten in Form von Kerben auf Hölzern, Knochen oder ähnlichem Material angelegt werden und dabei kleinere, auf einen Blick fassbare Gruppen gebildet und als neue Einheiten aufgereiht werden.

Steinzeitliche Knochenfunde bestätigen diese Praxis des „Bündelns“ und „Reihens“. Auf einem etwa 30.000 (?) Jahre alten Wolfsknochen erkennt man 55 Kerben (vielleicht als Beuteangabe) mit einer größeren Kerbe bei 25, und eine genauerer Untersuchung des Fundstücks hat Hinweise auf eine 5er-Einteilung ergeben.

Weitere Knochenfunde stammen meist aus der ausgehenden Altsteinzeit oder der mittleren Steinzeit (ca. 10.000–5000 v. Chr.). Auch hier finden sich Gruppierungen der Kerben, ein eindeutiges System lässt sich aber nicht erkennen.

Bemerkenswert ist, dass die meisten Völker Bündelungen bei 10 (Zehnerpotenzen) vorgenommen, also ein Zehnersystem eingeführt haben. Dies mag wohl auf die natürlich vorgegebene Struktur des Fingerzählens zurückzuführen sein. Untersuchungen von 387 Zahlensystemen bei primitiven amerikanischen Gesellschaften haben 146 Zehnersysteme, 106 Fünfersysteme, 81 Zweiersysteme, 35 Zwanzigersysteme, 15 Vierersysteme, 3 Dreiersysteme und 1 Achtersystem ergeben.

Auf dem bisher skizzierten Niveau der Herausbildung eines Zahlbegriffes benötigt man weder sprachliche Ausdrucksformen, also Zahlwörter, noch braucht man überhaupt zählen zu können; auch Zahlzeichen werden nicht benötigt.

Anders verhält es sich mit der „Ordinalzahl“. Das Zählen (genauer: Abzählen) setzt das Vorhandensein von Zahlwörtern voraus, ist also an die Sprache gebunden.

Das von gezählten Gegenständen unabhängige Zahlwort ist eine vergleichsweise späte Entwicklungsstufe. Zuerst wurden Ausdrücke für Viel und Wenig, für Ein-Zahl und Mehr-Zahl durch Abwandlung des Substantivs geschaffen (wie das heute noch als Singular und Plural existiert). Für alle frühen Entwicklungsstufen ist charakteristisch, dass an einer bestimmten Stelle N das Weiterzählen abgebrochen wird und die folgenden Zahlen einheitlich durch einen Wert im Sinne von „viele“ bezeichnet werden. Beispiele für N = 2 gibt uns das Ägyptische am Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. (Abb. 1).

Ein weiterer Fortschritt besteht darin, aus Zahlwörtern für eins und zwei durch einfaches Nebeneinanderstellen neue Zahlwörter zu bilden. Eine Gesellschaft in Ozeanien hat die Zahlwörter urapun = 1 sowie okasa = 2 und bildet daraus neue in der Form okasa urapun = 3 (= 2 + 1), okasa okasa = 4 (= 2 + 2), okasa okasa urapun = 5 (= 2 + 2 + 1).

Dass ein perfektes Zahlsystem nicht an die Schrift gebunden ist, belegt eindrucksvoll das folgende Beispiel. Im peruanischen Hochland haben die Inka eine technisch und ökonomisch hochentwickelte, aber dennoch schriftlose Kultur begründet. Für Zwecke der Kommunikation und des wirtschaftlichen Austausches hat man als Ersatz eine Notation erfunden, die darauf beruhte, auf Schnüren Knoten anzubringen. Diese sogenannten „Quipus“ waren ein brauchbares Hilfsmittel zur Darstellung – und zur Übermittlung – von Zahlen (Abb. 2).


Abb. 1: Bilderschrift im alten Ägypten (4. Jahrtausend v. Chr.). Links: Drei Wellen = Wasser, Mitte: Himmel mit drei Wasserkrügen = Wasserflut, rechts: Auge mit drei Tränen = weinen (nach [Menninger Bd. I., S. 28]).


Abb. 2: Peruanischer Quipu. Rechts: Prinzip der Zahldarstellung. Die Hunderter sind oben, darunter die Zehner, darunter die Einer geknotet. Die Schnüre (von rechts nach links) tragen die Zahlen 231, 42, 150, die „Kopfschnur“ K trägt die Summe 423 [Menninger Bd. II, S. 60f.].

Zum wirklichen, zum bewussten Rechnen, das heißt zum Rechnen nach einem festen Schema, einem „Algorithmus“, ist gewiss ein weiter Weg. Da die Hochkulturen beim Eintritt in die geschichtliche Zeit diese „algorithmische Phase“ bereits erreicht haben, muss dem eine lange, „präalgorithmische Phase“ vorausgegangen sein.

Die Darstellung von Zahlen durch Kerben, Steinhäufchen oder ähnlichem führt in natürlicher Weise zu den Grundoperationen des Addierens und Subtrahierens, was ja nichts anderes bedeutet als „hinzufügen“ und „wegnehmen“.

Wenn Zahlwörter für höhere Zahlen additiv gebildet werden, zum Beispiel 3 als 2 + 1 statt 1 + 1 + 1 (wie in obigem Beispiel einer ozeanischen Kultur), so liegt hier ein eindeutiger Hinweis auf einen gezielten Umgang mit der Addition vor. Zur Subtraktion ist es nur ein kleiner Schritt, wenn 14 als 15 – 1 oder 30 als 40 – 10 gebildet wird. Ähnliches finden wir für die Multiplikation, beispielsweise bei 20 = 2 · 10 oder 50 = 2 · 20 + 10.

Schwieriger und vielfältiger in der Ausführung sind Divisionen. Wir werden das in den betreffenden Kapiteln im Einzelnen behandeln, einschließlich der Bruchrechnung, die im Allgemeinen eine eigene Entwicklung gemacht hat.

Von den bis hierher gestreiften Entwicklungsstufen hin zu einem abstrakten Zahlsystem, in dem beliebig große Zahlen dargestellt werden können, und das für ein algorithmisches Rechnen geeignet ist, bleibt noch ein weiter Weg zurückzulegen, und die Quellen aus der folgenden Zeit zeigen, dass man beim Eintritt in die geschichtliche Zeit noch keineswegs am Ziel angelangt war.

Wie verhält es sich mit der anderen Säule der Mathematik, der Geometrie? Ihre Anfänge wurden von den Griechen den alten Ägyptern zugeschrieben, von Herodot den Landvermessern, von Aristoteles der Muße der Priester. Beide haben zweifellos das Alter der Geometrie unterschätzt. Die Menschen der Steinzeit hatten sicher keinen Bedarf an Grundstücksvermessungen und vermutlich wenig Grund zur Langeweile. Dennoch finden wir einen ausgeprägten Sinn für geometrische Figuren, der eine Voraussetzung jeder geometrischen Wissenschaft ist.

Die reichen Ornamente auf keramischen Erzeugnissen und auf Web- und Flechtwaren einfacher Kulturen geben ein beredtes Zeugnis vom Bestreben der Menschen, ihre Werke nicht nur nach zufälligen Eingebungen zu gestalten, sondern nach Gesetzen der Regelmäßigkeit, Symmetrie und Kongruenz – alles wichtige Merkmale der Geometrie. Gleichseitiges Dreieck, Quadrat, Kreis und aus diesen regelmäßig zusammengesetzte Figuren machen manche geometrischen Sachverhalte unmittelbar einsichtig.

Sowohl ästhetische Aspekte als auch praktische Erwägungen der Haltbarkeit und des Materialverbrauchs, des Konstruierens und Messens können als Vorbereitung auf geometrische Studien angesehen werden. Es soll hier nicht behauptet werden, dass steinzeitliche Menschen sich solche oder ähnliche Sachverhalte bewusst gemacht hätten, aber ein allmähliches Bewusstwerden von geometrischen Gesetzmäßigkeiten durch geometrische Betätigung darf man auf Grund der Fundstücke und der Hinweise auf die Lebensumstände ihrer Schöpfer wohl annehmen.


Abb. 3: Prähistorische indianische Webware (links) und neolithische Keramik aus Ungarn (rechts), Beispiele geometrischer Intuition.

Die Mathematik im Altertum

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