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Der Mann humpelte im Intercity an den Sitzreihen vorüber. Wiederholt stützte er sich auf seinen Gehstock. Als er zwei freie, gegenüberliegende Sitzplätze fand, klemmte er den Stock hinter die Lehne und bedeutete seiner Begleiterin, Platz zu nehmen. Er unterdrückte ein Stöhnen und ließ sich auf den Sitz gleiten.

»Schmerzen?«, erkundigte sich Sarah Mutes fürsorglich.

»Danke der Nachfrage – es geht«, erwiderte Peter Holzinger mit leidender Miene und nahm beide Hände zur Hilfe, um sein Bein in den Fußraum zu ziehen.

»Du hast nie erzählt, wie es zu dem Unfall kam.«

»Sarah, ich spreche nicht gerne darüber. – Na schön, wenn du es unbedingt wissen möchtest: Im Jänner war ich am Penkenjoch. Es war ein idealer Tag, um mit dem Gleitschirm zu fliegen. Ich startete mit angeschnallten Skiern, fand schnell den von mir erhofften Aufwind und drehte einige Runden über der Bergstation. Ich flog hinunter zur Mittelstation, wo mir die Gäste aus der Schirmbar zuwinkten. War lustig. – Nach einer Stunde steuerte ich die Wiese vor Mayrhofen an, um zu landen. Wie es der Teufel haben wollte, verkantete ich bei der Landung mit den Schiern im Tiefschnee und das rechte Bein wurde plötzlich festgehalten. Mein Körper verdrehte sich und die Zugkraft des Schirmes ließ mir keine Chance. Ich konnte hören, wie die Kreuzbänder mit einem lauten Schnalzen rissen. Wie sich später herausstellte, fädelte ich unter der obersten Drahtverspannung eines Weidezaunes ein. Im Krankenhaus stellte man die Ruptur sämtlicher Bandstrukturen mit knöchernen Ausriss fest und einen Bruch des Knöchels. Während der mehrstündigen Operation nähten sie den zerfetzten Meniskus wieder zusammen, fixierten das Knie mit fünf Titanschrauben und die restlichen stecken im Fußgelenk.«

Nachdenklich kratzte er an seinem Vollbart.

»Oh Gott! – So detailliert wollte ich das nicht wissen. Wirst du in Zukunft deinen Schirm an den Nagel hängen?«

»Sarah – wo denkst du hin?!« Peter massierte sich das Knie.

»Der Unfall hat mehr mit Skifahren zu tun, als mit dem Gleitschirmfliegen. – Es ist zum aus der Haut fahren.«

Er schaute aus dem Fenster.

»Bald bin ich die Schrauben los, und dann wird alles wieder gut. – Schau, wir sind gleich am Flughafen Schiphol.«

»Von welchem Terminal fliegen wir ab?«

»Vom Pier B starten wir Richtung Heimat.«

Dumpf erklang die Melodie des River-Kwai-Marsches. Peter fingerte sein Mobile aus dem Sakko hervor und warf einen Blick auf das Display, auf dem der Name ›RICHARD‹ blinkte.

»Hallo. Das ist eine Überraschung: der Rentner, Oberst Tomacic. Wie geht es dir?! Angelst du noch immer ohne Köder?«

»Natürlich. Ein Wurm hat auf meinem Haken nichts verloren. Ich verletze doch kein Fischerl. Oder glaubst du, dass Fische schmerzunempfindlich sind, weil sie nicht schreien können? Lassen wir das … ich gratuliere dir zur Beförderung zum Verbindungsoffizier im Rahmen der Europol. Deine Karriere gefällt mir – bin mächtig stolz auf meinen ehemaligen Schützling. – Ich habe gehört, dass ihr ein neues Büro bezieht?«

»Danke, danke. Unsere Abteilung ist ab sofort direkt dem Innenministerium – inklusive Sonderbefugnissen – unterstellt. Zudem haben sie mir zusätzlich die Koordination von Central-South-Europe umgehängt. Wir haben den Antrittsbesuch absolviert und das Briefing für unseren ersten Fall erhalten. – Übrigens, Sarah sitzt mir gegenüber. Ich soll liebe Grüße ausrichten. Wir fahren im Intercity von Den Haag zum Amsterdamer Flughafen. – Ich hoffe, du besuchst uns bald in den neuen Räumlichkeiten.«

»Sicherlich, Herr Oberstleutnant. Hast du schon ein Team zusammengestellt?«

»Meine Crew besteht im Augenblick aus drei Personen. Sarah, Perez und mir … «

»… Perez? Du meinst doch nicht Oberleutnant Lucas Perez, diesen jungen, vielsprachigen Latino-Computer-Fuzzi, der uns seinerzeit geholfen hat?«

»Ja, von dem spreche ich. – Er ist mittlerweile Hauptmann.«

»Der ist nett, aber auch ein wenig eigenartig. Bewarb er sich nicht bei der Europol in Den Haag?! Wieso ist er in deinem Team?«

»Du kennst ihn ja. Was du ihm seinerzeit prophezeit hattest, ist eingetreten. Er wollte nicht mehr länger im Headquarter bleiben, um an einer Verdächtigen-Datei zu Analysezwecken zu arbeiten, die das Prinzip der Unschuldsvermutung umkehrt. Er hat von dieser Stadt die Schnauze voll und nahm – ohne viel nachzudenken – mein Angebot an.«

»Na ja, dann sind die Bärtigen unter sich. Trägt er noch immer Nickelbrille und sein komisches Baseballkapperl?«

»Yepp. Die Kappe noch immer verkehrt herum.«

»Manche ändern sich nie. Er ist zwar ein hervorragender Analytiker, aber ich warne dich: Er verlässt gerne ausgetretene Pfade. Viel früher als du. Daher mein Rat, seid auf der Hut.«

»Danke. Ich kenne ihn nur zu gut. Wir haben gemeinsam die Ausbildung für leitende Beamte an der FH Wiener Neustadt absolviert. – Außerdem: Du weißt, auf deinen Ratschlag höre ich immer …«

»… seit wann?«, fiel ihm Richard amüsiert ins Wort.

»Bitte keine Geschichten aus vergangenen Zeiten aufwärmen. Apropos Lucas: Er sucht eine Absteige in Wien, denn die elterliche Wohnung ist vermietet …«

»… Ach ja, stimmt. Seine Alten übersiedelten zurück nach Barcelona. Ich hätte das Obergeschoss frei – wenn er will, kann er bei mir einziehen. Ich sage es aber gleich: Mit dem Internetanschluss hapert es: Glasfaserkabel gibt es bei mir nicht.«

»Wir treffen ihn am Flughafen. Ich werde dein Angebot weiterleiten. – Richard wir rollen in Kürze in die Station ein. Ich melde mich, wenn wir in Wien sind.«

»Okay. Mach das. Ich wünsche euch viel Erfolg und einen angenehmen Flug.«

»Danke. Ciao.«

Peter steckte sein Telefon weg und stieß dabei an seinen Gehstock. Mit einem lauten Poltern fiel er zu Boden und blockierte den Mittelgang. Eine junge Frau sah das Hindernis zu spät und stolperte darüber.

Im letzten Augenblick stützte sie sich auf der freien Sitzfläche neben Sarah ab. Peter griff instinktiv nach ihrem Unterarm. Das Bettelarmband, das zahlreiche Anhänger zierten, stach ihm ins Auge. Er erkannte den Pariser Eiffelturm, das Wiener Riesenrad mit roten Gondeln und einen Halbmond.

»Entschuldigung«, presste er schuldbewusst hervor, griff nach seinem Stock und zog ihn zu sich.

Die attraktive Frau bedachte ihn mit fuchsteufelswilden Blicken, rappelte sich auf und klemmte entrüstet eine Haarsträhne hinter das Ohr.

»Verdomme! Kann niet voorzichtiger zijn!«

Verdattert starrte Holzinger in ihr makelloses Gesicht, das von einem rotblonden Pony umrahmt wurde. Die Stupsnase, die vollen Lippen und die grünen Augen ließen ihn fragen: »Claudia?«.

»Nee, mijn naam is niet Claudia«, zischte die junge Frau und eilte Richtung Ausgang davon.

In Peters Kopf herrschte heilloses Durcheinander. Erstaunt schaute er ihr nach, bis ihn Sarahs Stimme in die Gegenwart zurückholte.

»Peterle, du siehst aus, als wärst du einem Geist begegnet. Hab´ ich richtig gehört? Du sagtest soeben ›Claudia‹?«

Peter nickte.

»… Du hast geglaubt, deiner Exfreundin zu begegnen?«

»Ja, für einen Moment dachte ich, dass es sie gewesen wäre.«

»Ich erinnere mich. War sie nicht Redakteurin beim ›KURIER‹? Das muss gut zwei Jahre her sein … Weißt du, wie es ihr geht?«

»Nehme an: gut. Sie hat die Leitung des neuen KURIER-TV-Senders übernommen. – Wir sind da. Komm, lass´ uns aussteigen. Beeile dich, wir sind spät dran!«

»Soll ich dir deinen Kofferrolli abnehmen?«, bot ihm Sarah an, während sie zum Ausstieg drängten.

»Nein, geht schon. Möchtest du vorlaufen?«

»Wir bleiben zusammen … «

»Raus hier …«

COLLEGIUM.

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