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Nach dem Peloponnesischen Krieg
ОглавлениеAls Demosthenes im Jahr 384 v. Chr. geboren wurde, lag der Tiefpunkt der athenischen Geschichte genau zwei Dekaden zurück. Im April des Jahres 404 war die spartanische Flotte unter dem Kommando des Admirals Lysander in den Piräus eingefahren und hatte das Zeitalter des imperialen Athen, das mit dem Sieg über die Perser in der Seeschlacht von Salamis 480 eröffnet worden war, abrupt beendet. Athen hatte den siebenundzwanzigjährigen Krieg um die Vorherrschaft in Griechenland verloren. Die Verbannten kehrten zurück, und unter den Klängen von Schalmeien wurden die Mauern der Stadt niedergerissen. Der Sieger Sparta verkündete, dass nun der Tag der Freiheit für alle Griechen gekommen sei.
Athen musste seine auswärtigen Besitzungen räumen, alle Schiffe bis auf zwölf abliefern.1 Der erzwungene Eintritt in den Peloponnesischen Bund bedeutete die Aufgabe eigener Außenpolitik. Im Innern installierte Lysander eine provisorische Regierung von 30 Männern, die sich bald den Titel „Dreißig Tyrannen“ verdienten. Auf der Akropolis zog eine spartanische Besatzung ein, es folgten willkürliche Hinrichtungen politisch missliebiger oder einfach nur denunzierter Athener, Morde an Bürgern wie Metoiken, die durch ihren Reichtum den Dreißig und ihrem Anhang auffielen. 1500, nach einer anderen Quelle sogar 2500 Athener wurden exekutiert.
Interne Streitigkeiten und finanzielle Schwierigkeiten, verursacht durch den kostspieligen spartanischen Schutz, schwächten das Regime. Es wurde schon bald von außen gestürzt, im Jahre 403 etablierte sich erneut die Demokratie, zurück blieb die Erinnerung an eine oligarchische Schreckensherrschaft, und diese festigte die wiedergewonnene Demokratie besser, als es alle Gesetze tun konnten. Oligarchen und Aristokraten waren für Jahrzehnte diskreditiert.
Im übrigen Griechenland schützte Sparta die neue Ordnung, indem es namentlich im früheren attischen Reich Zehnerherrschaften, sogenannte Dekadarchien einführte. Spartanische Besatzungen und spartanische Harmosten (Militärbefehlshaber) wurden zu rigorosen Wächtern der versprochenen Freiheit.
Auf dem Höhepunkt ihrer Geschichte begann freilich auch schon der Zerfall der spartanischen Macht. Sparta hatte sich mit der selbstgestellten Aufgabe, Nachfolger Athens als Herr der Ägäis zu werden, übernommen. Die persischen Subsidien, die geholfen hatten, den Krieg zu gewinnen, flossen jetzt in andere Städte, um in Griechenland ein Gleichgewicht der Schwachen zu schaffen. Auch Athen gehörte plötzlich zu den Empfängern, und das persische Geld, das im Ionischen Krieg zur Bekämpfung der Stadt ausgegeben wurde, diente nun zum Neubau von Hafenanlagen, Mauern und Schiffen. Nach nur zehn Jahren zerbrach die spartanische Seeherrschaft am Widerstand der einstigen Verbündeten, der Perser. Viele der von Athen abgefallenen Inseln schlossen sich wieder der Stadt an, die Ägäis wurde wieder zu ihrem Handlungsfeld.
Noch ein letztes Mal konnte Sparta seine Kräfte bündeln. Unter Preisgabe der kleinasiatischen Griechen, denen sie einst die Freiheit versprochen hatten, sicherten die Spartaner im sogenannten Königsfrieden von 387/86 ihre Herrschaft im Mutterland. Als „Bewahrer“ eines umfassenden Friedens garantierte der Großkönig die neue Ordnung, welche die einzelnen Städte formal für autonom erklärte, Sparta aber die Hegemonie im Peloponnesischen Bund beließ.2 Gegen die allgemeine Ohnmacht trat der Publizist Isokrates als Ideologe eines neuen Imperialismus hervor und rief in seinem Panegyrikos von 380 zu einem panhellenischen Feldzug gegen Persien unter der Führung Athens und Spartas auf.3 Später wechselte er freilich die Ansichten und wurde zu einem der Wegbereiter zunächst für die Expansion Philipps II. und dann für Alexanders Asienfeldzug.
Demosthenes war sieben Jahre alt, als Athen wieder an seine alte Macht im 5. Jahrhundert anzuknüpfen versuchte. Fast exakt 100 Jahre nach dem Ersten Attischen Seebund, der die Basis für das athenische Reich der Perikleischen Zeit gebildet hatte, gründete Athen eine neue maritime Allianz, in der die Bündner nun aber gleichberechtigt sein sollten. Neu waren nur die guten Vorsätze und die Termini. Die (potentiellen) sýmmachoi mussten nicht mehr die verhassten Tribute (phóroi) zahlen, nun wurde von Beiträgen (syntáxeis) gesprochen. Überhaupt verdrängte man die Erinnerung an das Athen der späten Pentekontaetie und an Perikles. Die Verbündeten sollten auf der Basis des Königsfriedens frei und autonom sein und auf ihrem Gebiet keine Besatzungen stationiert werden.
Auf dem Höhepunkt umfasste der Bund etwa 70 Städte und Inseln, nicht einmal ein Viertel dessen, was einst die athenische Herrschaft (arché) ausgemacht hatte.4 Dennoch beflügelte er die Hoffnung auf die Rückkehr zu einer beherrschenden Stellung in der Ägäis. 371 in der Schlacht von Leuktra wurde auch das spartanische Landheer geschlagen, die Stadt Theben, verkörpert in der Person des Epameinondas, stieg kurz zur Hegemonialmacht auf.
Ihre Rolle ist jedoch nicht vergleichbar mit derjenigen Spartas nach 404 und schon gar nicht mit derjenigen Athens davor. Die Thebaner suchten im Norden in Thessalien und im Süden auf der Peloponnes ihre Position auszubauen. Das einst so mächtige Sparta trudelte immer schneller in die politische und militärische Ohnmacht. 370 gründeten die Arkader auf der Peloponnes einen Bundesstaat, 369 fielen die Messenier von Sparta ab, mit Hilfe Thebens gelang es ihnen auch endlich, einen eigenen Staat zu gründen.
In Athen lavierte man zwischen dem alten Feind, den Spartanern, und dem neuen, den Thebanern, um sich schließlich 362 in der Schlacht von Mantineia auf die Seite der ersteren zu stellen. Es war der insgesamt vierte Feldzug, den die Thebaner seit Leuktra gegen die Spartaner unternahmen. Sie behielten zunächst die Oberhand, doch als mit Epameinondas der entscheidende Mann auf ihrer Seite fiel, ging der Sieg verloren. Der sinnlose, von ständig wechselnden Bündnissen kleiner Städte und ethnischer Verbünde begleitete Streit der Griechen gegen Griechen, geführt um kleiner territorialer und ebensolcher materieller Gewinne willen oder um ephemere Vorherrschaften, war für diejenigen, die in die Kriege zogen und diejenigen, die sie finanzieren mussten, so unerquicklich wie teuer, ohne dass freilich irgendjemand daraus Konsequenzen zu ziehen vermocht hätte. Der Kampf um die Hegemonie endete damit, dass sie niemand erringen konnte.
Der Historiker Xenophon schließt mit Mantineia und dem Jahre 362 seine große griechische Geschichte, die er als Nachfolger und Fortsetzer des Thukydides mit den Ereignissen des Jahres 411 begonnen hatte: „Mit dem Abschluss der Kämpfe war das Gegenteil von dem erfolgt, was alle Welt erwartet hatte. Denn da fast ganz Griechenland zusammengekommen und gegeneinander angetreten war, gab es keinen, der nicht geglaubt hätte, wenn eine Schlacht stattfinde, würden hernach die Sieger zur Herrschaft gelangen und die Besiegten ihnen untertan sein. Aber der Gott ließ es geschehen, dass beide Parteien wie Sieger ein Siegeszeichen errichteten und keine von beiden die andere am Aufrichten desselben hinderte, die Toten gaben beide Parteien wie Sieger unter dem Schutze eines Vertrages heraus und beide nahmen die Ihrigen wie Besiegte unter dem Schutze des Vertrages in Empfang; und indem jede von beiden behauptete, gesiegt zu haben, besaß doch offenkundig keine von beiden weder an Land noch an Städten noch an Macht auch nur das Geringste mehr als vor der Schlacht; aber Unordnung und Verwirrung wurden nach der Schlacht in Hellas noch größer als sie vorher waren.“5
Es waren „Mäusekriege“, die im Griechenland des 4. Jahrhunderts geführt wurden. Der Ausdruck, den Alexander der Große später über den vergeblichen Aufstand der Spartaner prägte, besitzt Geltung über den Anlass hinaus.6