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Der Demosthenes des Plutarch

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Unter den 50 Lebensbeschreibungen, die Plutarch, der große Biograph aus der Kleinstadt Chaironeia, im 2. Jahrhundert n. Chr. der Nachwelt hinterließ, findet sich auch diejenige seines griechischen Landsmannes Demosthenes. Ohne das Material, das eine antike Vita bietet, lässt sich eine moderne nicht schreiben. In den antiken Biographien dominiert freilich die Lücke. Sie sind bruchstückhaft wie die Überlieferung, auf der sie wiederum basieren. Im Falle des Demosthenes helfen allerdings Selbstzeugnisse weiter. Das Corpus Demosthenicum versammelt rund 60 authentische und unechte Reden, die Leben und Politik des Demosthenes besser verstehen lassen.

Die politischen Reden sind aber – abgesehen von der Symmorien- und der Kranzrede – auf gerade ein Dezennium von 351 bis 341 beschränkt, und sie vermitteln allein die Sicht des Autors. Auch in ihrer Beschränktheit zeigt Plutarchs Biographie demgegenüber, wie Demosthenes als Person und Politiker in der Antike gesehen wurde. Zudem wurde Plutarchs Bild auch für die Neuzeit konstituierend, seitdem die Biographie im 15. Jahrhundert von Byzanz in den Westen gelangte und dort zuerst ins Lateinische und dann in die Nationalsprachen übersetzt wurde. Das Mittelalter kannte Demosthenes nur aus der Alexandergeschichte und spärlichen Anekdoten lateinischer Autoren.

Die Probleme beginnen also bei Plutarch und den bruchstückhaften Informationen, die ihm vorlagen. Im Hellenismus und im republikanischen Rom wurde die Erinnerung an Demosthenes vor allem von den Rhetoren bewahrt. Sie kommentierten die Reden ihres Vorgängers und stellten ihnen manchmal biographische Abrisse voran. Plutarch bezieht hieraus reiches anekdotisches Material und kleine Erläuterungen zu den Reden. Er selbst hat diejenigen des Demosthenes ausführlich studiert, was ihn an diesen interessierte und beeindruckte, scheint freilich vor allem der Stil gewesen zu sein. Er entnahm ihnen nur wenige biographische Details und kaum politische. Das Geschehen um die Eroberung der Stadt Olynth, dem drei der sieben Philippiken gelten, fehlt zum Beispiel gänzlich. Auch Reden der athenischen Gegner des Demosthenes hat Plutarch herangezogen. Er weiß, dass er sie nur mit Vorsicht als Quelle benutzen kann und wägt genau ab, was aus den Äußerungen eines Aischines oder Hypereides an Fakten zu gewinnen ist. Gegebenenfalls überlässt er es dem Leser, was dieser für glaubhaft halten will und was nicht.

Die wichtigste, teilweise alleinige historische Quelle für Plutarch war die „Philippische Geschichte“ (Philippiká) des Theopomp, eines Mannes, der lange am Hofe Philipps gelebt hatte, dessen Privatleben mit wüsten Schmähungen bedachte, aber ansonsten sicherlich ein Vertreter makedonischer Politik und Interessen war und der sich später auch als Agent Alexanders weit über Griechenland hinaus unbeliebt machte. Als Mensch mit konservativ-aristokratischen Idealen war Theopomp kein Freund der athenischen Demokratie und noch weniger ihrer Repräsentanten.

In einem Werk, in dem der makedonische Sieg gefeiert wurde, mussten die Ziele des Demosthenes als abseitig erscheinen, und Plutarch, der die griechische Sache für die gerechte hielt, war gezwungen, es gleichsam gegen den Strich lesen. Er nimmt Demosthenes in Schutz gegen politische Angriffe Theopomps, doch das Versagen des Redners als Soldat und seine offenkundige Unfähigkeit, einen hohen militärischen Rang zu bekleiden, will er nicht übergehen. Das bleibt in den Augen Plutarchs ein großes Manko und veranlasst ihn, seinen Helden gleichsam herabzustufen: „Was aber, wie man sagt und glaubt, am besten den Charakter eines Mannes erweist und erprobt, ein hohes Amt und eine Machtvollkommenheit, die jede Leidenschaft weckt und jedes verborgene Laster enthüllt, das ist dem Demosthenes nicht zuteil geworden, und er hat in dieser Hinsicht keine Probe seines Charakters abgelegt, da er keins der hohen Ämter verwaltet und auch über die von ihm zusammengebrachte Kriegsmacht nicht die Führung gegen Philipp gehabt hat … Hätte darum seinem edlen Streben in seiner Zielsetzung und seiner hohen Redegewalt militärische Tüchtigkeit und Uneigennützigkeit in allem Handeln zur Seite gestanden, so wäre er nicht in die Reihe der Redner vom Schlage eines Hypereides einzuordnen, sondern verdiente es, höher hinauf, neben Kimon, Thukydides und Perikles gestellt zu werden.“1

Plutarch sieht in seinen Helden zumeist Vorbilder, sein pädagogisch-ethischer Impetus ist unverkennbar. Er ordnet sein Material aber keineswegs diesem Zweck unter; er betrachtet seine Quellen kritisch, aber akzeptiert auch Kritik dieser Quellen an seinen Helden. Wo er sich ein eigenes Urteil anmaßt, versteht er, es auch zu begründen. Zum Problem wurde Plutarch dabei, dass sich die rhetorische Überlieferung in Anekdoten erschöpfte und die historiographische den Makedonenkönig Philipp als Mittelpunkt sah. So weist seine Biographie die genannten Lücken auf und leidet dennoch an Längen. Fast die Hälfte der Vita machen Anekdoten aus. Dazu kommen Reflexionen über politische und menschliche Größe oder über Charakter und Tugend. Das an Fakten spärliche oder wenig geeignete Material war nur schwer zu einer geschlossenen Vita zu formen. Erst im zwölften Kapitel von 31 (moderner Zählung) kommt Plutarch zur politischen Karriere des Helden, die er im Jahre 352 beginnen lässt. Nach drei Kapiteln, die sich allgemein mit den Reden und dem politischen Kurs des Demosthenes befassen, befindet sich der Biograph bereits im Jahre 346, ein Kapitel später im Jahre 341. Die Geschehnisse von Chaironeia (339/38) werden umfassender behandelt, da Plutarch hier auf seine Heimatstadt zu sprechen kommt. Es folgen als kurze Intermezzi der Tod Philipps, das Verhalten des Demosthenes zu Beginn der Alexander-Ära, der Aufstand des Agis und die berühmte Kranzrede. Lediglich die letzten zwei Jahre (324–322), Harpalos-Prozess, Verbannung, Freitod und Nachleben, sind ausführlicher gestaltet, denn hier hatte sich eine umfangreiche Überlieferung gebildet.


Abb. 1: Demosthenes-Statue aus Kopenhagen, Detail

In zweierlei Weise hat Plutarch die spätere Sicht des Demosthenes bestimmt. Zum einen ist das die Unterschätzung der Mechanismen der Demokratie. Plutarch war ein kaiserloyaler römischer Bürger und stand daher der demokratischen Regierungsform teils mit Skepsis, teils mit Unverständnis gegenüber. Oft wird dem Willen Einzelner zugesprochen, was doch am Ende ein Beschluss der Volksversammlung war. Demosthenes ist Plutarch dort am liebsten, wo er sich – der Autor ist hier stark vom Periklesbild des Thukydides beeinflusst – am wenigsten den Launen des Volkes unterwarf. So findet er besonderes Lob für ihn, als dieser eine Entscheidung der Volksversammlung nicht akzeptiert, die verhandelte Sache dem Areiopag, dem Adelsrat, übergibt und mit dessen Hilfe gleichsam die Volksmehrheit überstimmt. Für Plutarch ist solche Politik aristokratisch und es gilt ihm als Auszeichnung, wenn er Demosthenes’ Handlungsweise mit diesem Adjektiv schmücken kann.2

Für den fundamentalen Irrtum in der Demosthenes-Vita zeichnet der Biograph nicht verantwortlich, doch er hat ihn kanonisch gemacht. Das Bild vom Freiheitskämpfer gegen die makedonische Fremdherrschaft nahm seinen Ursprung schon kurz nach Demosthenes’ Tod, als sich Athen dem Sieger Antipater beugen und eine makedonische Besatzung aufnehmen musste. Gegen dieses Diktat sträubten sich die Athener, und der Mann, der Philipp (nicht aber Alexander) getrotzt hatte, wurde zum Symbol für den Widerstand gegen die makedonische Herrschaft. Für die Athener der hellenistischen Zeit war das tatsächlich ein Kampf um die Freiheit, was für Demosthenes ein Kampf um die Hegemonie gewesen war. Dennoch machten sie den Redner zu ihresgleichen und den Kampf, der für Demosthenes gerade eineinhalb Jahrzehnte dauerte, zu einem lebenslangen.

Die Rhetorenschulen verbreiteten dieses Bild, und Plutarch machte es sich mit beredten Worten zu eigen. Von ihm aus ging es nach der Wiederentdeckung seiner Werke in die Moderne ein und bestimmte deren Sichtweise bis ins 21. Jahrhundert. Plutarch übertrieb – als Reaktion auf die Angriffe des Theopomp – das Lob und zollte Demosthenes Anerkennung in einer Sache, die nicht nur als Festigkeit und Charakterstärke gesehen werden kann, sondern auch als Sturheit und mangelnde Einsicht.

So lange der Kampf gegen Makedonien auch in der Neuzeit als derjenige für die gute Sache verstanden wurde, blieb damit das höchste Lob für Demosthenes verbunden. Erst als Alexanders Siegeszug als Fortschritt der Menschheit deklariert wurde, sank auch das Ansehen derer, die sich ihm in den Weg stellten.3 Das war eine Entwicklung vor allem in der von Hegel beeinflussten deutschen Historie des 19. Jahrhunderts,4 das 20. und 21. kehrte wieder zu Plutarch zurück.

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