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Natürlich war es ein Unfall. Jedenfalls überwiegend. Kein Schwein wäre so einfältig, die Sache auf diese Weise zu erledigen. Wenn sich allerdings die Gelegenheit so offensichtlich bot ... Das Laub. Die Feuchtigkeit, weil es in der Nacht geregnet hatte. Sicher auch der Rotwein vom Vorabend. Matteo war noch betrunken, als es passierte. Zwei Flaschen Barolo, Jahrgang 01. Kein Wunder also. Nein, nein, es war schon eher ein Unfall. Der Hang. Die Wurzel. Gewiss hat sich mein Freund selbst ... Jeder hätte die Sache so gesehen und sie abgehakt. Als Unfall. Aber so schnell wollte der Commissario aus Turin seine Dienstreise aufs Land nicht beenden. Hat den Toten gesehen und sofort umgeschaltet. Seine Stimme dröhnte durch den Wald, einzelne Wörter wie »Ermittlungen«, »Verhöre«, »Untersuchung« drangen zu mir durch.

Noch immer konnte ich kaum glauben, was geschehen war. Es kam mir vor, als ob jemand meinen Kopf unter Wasser drückte. Mein Bewusstsein war wie in Fetzen gerissen. Matteo tot. Mein Freund. Mein Partner und Wohltäter. Der einzige Mensch, der mich je verstanden hatte. Der mehr in mir sah als alle anderen. Noch am gestrigen Abend hatte ich neben ihm ein Fläschchen geleert. Alles war wie immer gewesen. Er war ins Bett getorkelt, ich auf meine Couch geplumpst. Zuerst dachte ich mir nicht viel, als er mir heute mein Frühstück nicht brachte. Sollte er doch schlafen so lange er Lust hatte. Doch dann die Schreie von draußen. Der Nachbar schlug mit der Faust an die Haustür und weckte alle mit seinen Rufen: »Matteo ... Matteo Gobetti ... Er liegt am Birkenwäldchen ... am Bach ... Ich habe ihn ... er ... er rührt sich nicht mehr.«

Ich war sofort losgerannt, und nun stand ich am Fuße des Hangs, etwas abseits vom Geschehen, von einem Hartriegelstrauch verborgen. Zwei Stunden waren seit der Unglücksmeldung vergangen. In das Schiefergrau des Morgenhimmels versuchten sich hellere Wolken zu drängen, bislang vergebens. Noch immer prasselten die Tropfen ungleichmäßig wie aus einem kaputten Rasensprenger auf das Gelände nieder, als könnte sich das Wasser nicht entscheiden, als Sprühnebel oder als Regen auf die Erde zu fallen. Am Boden roch es nach Vergorenem, Verwesendem, nach modernden Pflanzen, nach fauligen Beeren und Pilzen. Der Wind zerzauste die Wipfel der Birken, trieb die Temperatur nach unten, viel zu kalt für einen Oktober im Piemont. Blätter torkelten über der Stelle, wo Matteo lag, und bedeckten den Körper.

Die Polizei hatte die Gegend mit Plastikband abgesperrt. Ein Mann in Nylonblouson, Anglerhut und Jeans fotografierte die Fundstelle von allen Seiten. Ein Kollege, vielleicht vierzig Jahre alt, mit sorgfältig gestutzten Haaren, dirigierte die Polizisten. Er trug einen offenen Stoffmantel, darunter einen Anzug und ein weißes Hemd mit Krawatte. Schlammspritzer sprenkelten das Leder seiner Schnürschuhe. Der Aufzug wirkte, als habe sich der Mann von einem Opernball in den Wald verirrt. Aus den Gesprächen der Beamten war zu entnehmen, dass der Capo auf den Namen Grifone hörte, Commissario Grifone natürlich. Einmal fiel auch sein Vorname, Taddeo.

Bevor er in die Knie ging, hob Grifone seinen Mantel an, um den Saum nicht zu beschmutzen – er hatte offenbar eine gute Kinderstube. Vorsichtig, die Hände mit Gummihandschuhen geschützt, untersuchte der Commissario die Leiche. Matteo Gobetti lag auf dem Bauch, die Arme weggestreckt, als habe er in letzter Sekunde den Aufprall abfedern wollen. Die Füße waren seltsam verdreht, ein Schuh fehlte, ein Hosenbein war hochgerutscht und gab den Blick auf die Socke und einen weißen Unterschenkel frei. An der rechten Schulter zog sich ein Riss durch die Jacke. Der Kopf war zur Seite gedreht, die Augen halb geöffnet, mit einem Blick, der Erstaunen und Schrecken gleichzeitig ausdrückte. Das Haar klebte am Hinterkopf. Aus der Entfernung sah ich, dass eine Mischung aus Blut und Schmutz wie ein Rinnsal quer über Matteos Wange lief. Der Wind wehte den Geruch zu mir herüber: Blut. Getrocknetes Blut, aufgeweicht vom Regen, das feine Aroma war unverkennbar. Süßlich und würzig. Matteo musste beim Sturz mit dem Kopf auf eine Kante, einen Stein aufgeschlagen sein. Der Tod war gewiss nur eine Sache von Sekunden gewesen.

Grifone tastete die Taschen des Leichnams ab, untersuchte den Inhalt. »Ein Taschentuch, Centmünzen, ein Stück beschriebenes Papier, ein Schlüsselbund mit vier Schlüsseln«, zählte der Commissario auf und stopfte alles in eine Cellophantüte. »Viel hatte er nicht gerade dabei.« Er streifte die Handschuhe ab und wandte sich zu seinem Assistenten. »Fabris, haben Sie noch was gefunden?« Der Angesprochene schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe alles in der Umgebung abgesucht. Nichts zu entdecken.«

Der Körper lag auf einer offenen Fläche von etwa zehn Meter Länge und sechs Meter Breite. Rechts verlief ein Feldweg, der nach einem Kilometer in die Landstraße mündete. Links ein Hügel, auf dem Birken und einige verkümmerte Buchen wuchsen. Vor langer Zeit war ein Teil des Hangs ins Rutschen gekommen, das Erdreich war wie eine Lawine nach unten gesackt und hatte eine acht Meter hohe, senkrecht abfallende Wunde in der Erde hinterlassen, aus der Steine, Kies und Sand herausquollen. Von dieser Steilwand war Matteo offenbar hinabgestürzt. Auf dem Weg, der oben am Rand entlangführte, genügte ein falscher Schritt, und man fiel unweigerlich in die Tiefe. Matteo kannte diese Stelle bestens, er war schon Dutzende Male dort spazieren gegangen – auch nachts, wenn er nach seinen Gelagen frische Luft brauchte. Er musste wohl sehr benebelt gewesen sein. Sonst hätte er den Pfad nicht verfehlt.

Ich kümmerte mich nicht um das Absperrband und ging auf den Toten zu, um Abschied zu nehmen von meinem väterlichen Freund. Ciao Matteo! Arrivederci in einem anderen Leben. Du wirst mir fehlen. Ein Glas, nein, eine Flasche auf dein Wohl! Versprochen. Wehmut und Trauer überschwemmten mein Herz.

Ich weiß nicht, wie lange ich da schon gestanden hatte und erfolglos versuchte, aus dem Anblick der leblosen Gestalt am Boden und den ungewohnten Gerüchen, die von ihr ausgingen, das geliebte Bild Matteos in meinem Kopf zusammenzusetzen. Vielleicht nur Sekunden. Ein Aufschrei riss mich aus meinen Gedanken. »Dieses Vieh! Was ... was ist das für ein Vieh?« Die Stimme des Commissario überschlug sich vor Hysterie. Er hob beide Arme und drehte mir die Handflächen entgegen, als wollte er mich wie eine böse Erscheinung durch die Macht seiner Geste abwehren. Ich roch den Angstschweiß, der mittlerweile die Körperlotion des Kriminalbeamten überdeckte, eine unselige Mischung aus Nelkenöl und Sandelholzessenzen mit etwas Bergamotte und Moschus. Eigentlich gehörte jemand mit solchen Ausdünstungen sofort verhaftet. Aus Erfahrung wusste ich, dass Menschen in unerwarteten Situationen schnell nervös wurden. Deshalb machte ich lediglich zwei weite Ausfallschritte auf den Commissario zu und ließ aus meinem Hals ein Warngrunzen in meiner tiefsten Basstonlage ertönen. Grifone stolperte rückwärts, als hätte er einen Magenschwinger erhalten. Seine Reaktion war jedoch anders als erwartet: Er wich zurück, schob Mantel und Sakko beiseite und tastete nach etwas an seinem Rücken. In einer ruckartigen Bewegung zog der Beamte eine Pistole hervor, offenbar trug er einen Halfter überm Hintern. Der Mann hatte sich wohl Fernsehhelden der Achtzigerjahre zum Vorbild genommen. Er versuchte, auf mich zu zielen und gleichzeitig den Schlitten der Waffe zurückzuziehen, um durchzuladen. Doch dafür zitterten seine Hände zu stark.

»Ich knalle dieses Monstrum ab. Das ist ja gemeingefährlich.« Noch immer nestelte der Commissario an seiner Pistole. »Hier mitten im Wald laufen tollwütige Schweine herum! Schweine! Vorsicht – die sind bösartig und aggressiv!«

»Keine Sorge, Dottore, ich kenne das Tier, bleiben Sie ganz ruhig!«, rief ein schlaksiger Jüngling, hochgewachsen, der das Geschehen am Rande der Absperrung beobachtet hatte. Erst als er näher kam, sah ich die eingefallenen Wangen und die flackernden Augen, und erst jetzt erkannte ich ihn. Es war Vito Scarazzo, der Sohn des Nachbarn. »Das ist das Trüffelschwein von Matteo Gobetti. Schauen Sie, sehen Sie sich das Fell an, sehen Sie es? Es ist rund um die Brust weiß. Jeder in der Gegend kennt das Tier. Der Keiler läuft immer frei herum. Völlig harmlos. Sie können Ihre Waffe wieder wegstecken.« Vito legte die Hand beschwichtigend auf Grifones Oberarm. »Außerdem ist das Tier äußerst wertvoll. Eines der letzten Trüffelsucherschweine. Matteo hat damit ’ne Menge Geld gemacht. Wäre doch schade, die Goldader zu Schinken zu verarbeiten.«

»Schaffen Sie mir diese ... diese Sau aus den Augen.« Grifone schlug seinen Mantel zurück und verstaute die Pistole wieder im Halfter. »Trüffelschwein hin oder her – diese Ausgeburt an Hässlichkeit zertrampelt alle Spuren am Tatort. Das kann ich nicht dulden. Wir haben hier wichtige Ermittlungen.«

Mir blieb die Luft weg. Dieser Schnösel aus Turin. Kommt her und spielt den großen Zampano. Wer ist denn hier hässlich? Ich kehrte ihm den Rücken zu, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, und trabte in die Büsche.

Tartufo

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