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Der Morgen begann mit Sonnenschein, als wollte der Sommer noch einmal zurückkehren, sich mit Wärme gegen den erwarteten Wetterumschwung stemmen. Die Luft war klar und rein. Ich sprang von meinem Sofa und machte meine morgendlichen Streckübungen, um mich geschmeidig zu halten. Das war für einen Trüffelsucher unerlässlich, auch wenn er überwiegend mit der Nase arbeitete. In meinen Schüsseln fand ich Brunnenwasser. Und zerkleinerte Rüben. Roh! Nicht leicht gedämpft, mit einer Prise Dill, wie sie mir Matteo immer kredenzt hatte. Paolo war heute schon in aller Frühe da gewesen, und was hatte er mir zu essen gebracht? Wasser und Rüben. Nun habe ich nichts gegen Rohkost, im Gegenteil, der Geschmack ist intensiver als beim Kochen oder Braten. Schlangengurken beispielsweise sind roh ein Gedicht. Fenchel verliert beim Blanchieren erheblich an Würze. Äpfel, Kirschen, Birnen, Aprikosen – frisch am besten. Aber gewöhnliche Feldrüben! Man sollte Paolo mit diesen rohen Dingern stopfen wie eine Gans, dann würde er es nicht mehr wagen, mir so etwas vorzusetzen. Meine Laune bekam einen Knacks. Ich ging durch die Schwingtür in den Stall, erledigte in der üblichen Ecke, bei den Boxen mit den Kühen, meine Morgentoilette. Die Viecher drehten die Köpfe zu mir, glotzten mich wie üblich verständnislos an und kauten weiter an ihrem Heu. Ich reinigte meine Füße in einem Wasserbottich, rieb sie im Stroh trocken. Ich weiß, man sagt uns Schweinen nach, wir seien schmutzig. Wälzten uns gern im Dreck. Alles Unsinn. Natürlich wird man schmutzig, wenn man sich viel im Freien aufhält. Hat sich schon mal jemand Forstarbeiter oder Maurer angesehen? Der Punkt ist doch nur, sich hinterher wieder gründlich zu reinigen. Das ist für Schweine selbstverständlich. Nur Artgenossen, die als Hausschweine in enge Verschläge gepfercht werden und keine Möglichkeit zum Waschen haben, suhlen sich in ihrer Verzweiflung im Mist, um sich dadurch wenigstens provisorisch vor Hautkrankheiten zu schützen.

Ich machte mich draußen auf die Suche nach Caruso, unserem Tartufo-Lehrling. Das war ein Mangaliza-Jungschwein mit weichem, braun getöntem Fell. Matteo hatte ihm im hinteren Teil des Stalls ein Abteil mit Stroh ausgelegt. Aber da steckte er nicht. Im Hof vor dem Hauptgebäude auch nicht. Ich lief einmal um das Anwesen herum. Wieder nichts. Da erklang aus dem Teil des Stalls, wo die Fahrzeuge untergebracht waren, eine Melodie:

»Va’, pensiero, sull’ali dorate.

Va’, ti posa sui clivi, sui colli ...«

»Flieg, Gedanke, getragen von Sehnsucht ...« Ich überlegte, woher ich das Stück kannte. Verdi. Es war der Gefangenenchor aus »Nabucco«. Ich folgte der Stimme – da fand ich Caruso, unter dem Traktor hockend und sein Liedchen grunzend. Der Verdi-Kenner. Talent hatte er, musste ich sagen. »Was treibst du hier? Warum bist du nicht in deiner Box?«

Der Kleine blinzelte mich an. »Da ist Motoröl runtergetropft. Ich untersuche gerade, wie das schmeckt.«

»Solltest du nicht lieber deine Übungen machen, damit du das Graben lernst, statt dich hier zu vergiften? Oder setzen wir unseren Schnupperkurs fort? Es ist ideales Wetter, um auf dem Feld ein paar Trainingseinheiten einzulegen.«

»Nur wenn wir danach zu der Stelle gehen, wo Matteo verunglückt ist.«

»Da hast du nichts verloren. Außerdem wirst du dort nichts mehr entdecken. Mittlerweile sind alle Spuren verwischt.«

»Aber ... aber ich war noch nie an einem Tatort.« Carusos Stimme klang aufgeregt.

»Das ist kein Tatort. Sondern ein Unfallort.«

»Aber da war doch ein richtiger Commissario ...«

»Woher hast du das schon wieder?«

»Spricht sich rum.«

»So, so. Du jedenfalls wirst deine Nase da nicht reinstecken.«

»Du warst ja auch dort.« Der Trotz war nicht zu überhören.

»Bei mir ist das was anderes. Ich war Matteos Partner. Doch in der besagten Nacht war ich leider nicht an seiner Seite. Vielleicht wäre dann alles anders gekommen.« Vielleicht. Wer wusste das schon? Ich hätte meinen Freund in seinem Zustand nie allein in die Nähe des Hangs gehen lassen sollen.

»Ich habe Matteo in jener Nacht nicht gesehen«, sagte Caruso.

»Wie solltest du auch, so tief, wie du immer rüsselst.«

»Sag das nicht, in der Nacht bin ich im Stall auf und ab gelaufen. Ich konnte nicht schlafen. Eine von den Kühen rülpste ununterbrochen. Von Matteo habe ich nichts mitgekriegt – aber etwas anderes war komisch.«

»Was denn?«

»Ich meine ... ich bin nicht sicher. Aber ich glaube, ich habe jemand im Hof gesehen. Das muss ungefähr um die Zeit gewesen sein, als Matteo unterwegs war.«

»Da hast du jemand gesehen?« Meine Neugierde war geweckt.

»Nun ja, nicht richtig gesehen. Dafür war es zu dunkel und zu regnerisch. Aber jemand war in der Nähe. Ist ins Haus von Paolo gegangen.«

»Wer könnte das gewesen sein, hast du was gewittert?«

»Nee, war zu weit weg. Bin der Sache auch nicht nachgegangen. Aber wenn ich überlege, es könnte Maria gewesen sein, so langsam und schleppend, wie die Person gegangen ist.«

»Vielleicht wollte sie nur mal kurz ins Freie. Ihr Zimmer ist in Paolos Haus. Da ist es normal, wenn du sie an der Tür gesehen hast. Alte Leute stehen schon mal nachts auf und schnappen frische Luft.«

»Sie hatte etwas in der Hand.«

»Du siehst Gespenster. Vielleicht hat sie sich auf ihren Besen gestützt, weil sie sich schwach fühlte. So könnte es gewesen sein.«

Caruso trat ins Freie. »Warum schauen wir nicht einfach nach – so wie es ein Commissario tun würde?«

Meine Reaktion auf diesen Vorschlag war nicht begeistert. Aber Caruso meinte: »Es kann nicht schaden, wenn wir einen Spaziergang machen und zufällig bei Marias Zimmer vorbeikommen.«

»Zufällig.« Meine Skepsis begann zu wachsen.

»Jetzt sei nicht so feige. Passiert schon nichts. Wir sehen uns nur ein bisschen um. Schließlich sind wir hier zu Hause. Wenn wir nichts entdecken, will ich auch gern wieder das Trüffelgraben üben.«

Ich wusste nicht, warum ich mich breitschlagen ließ. Aber am Ende gewann meine Neugierde doch die Oberhand. Unser Plan sah so aus: Zuerst die Lage auskundschaften und dann schnell in Marias Zimmer huschen, wenn die Luft rein war. Paolos Auto war nicht zu sehen. Gutes Zeichen. Er war sicherlich mit seiner Frau unterwegs, um einzukaufen.

»Wo steckt Maria?« Ich lief bis zum Ende der Mauer, blickte vorsichtig um die Ecke. Keine Maria. Ich lief weiter bis zur Rückwand des Stalls, zog tief die Luft ein. Nichts. Von fern drang ein Scharren an mein Ohr. Ich bewegte mich darauf zu. Maria arbeitete auf dem Gemüsebeet bei der Weide. Sie lockerte die Erde mit einer Hacke. »Keine Gefahr, Maria ist beschäftigt«, sagte ich zu Caruso, der sich zu mir gesellt hatte, »lass uns gehen – subito!«

Im Schnellschritt überquerten wir den Hof vor dem Haupthaus, immer nervös den Kopf nach links und rechts wendend, um herannahende Menschen rechtzeitig zu erschnüffeln. Vor der Eingangstür zu Paolos Haus blieben wir stehen. »Was jetzt?« Caruso war etwas außer Atem.

»Was jetzt, was jetzt? Wir gehen rein, was sonst? Das war doch deine Idee. Oder besser, ich gehe rein.« Ich sah Caruso fest in die Augen. »Du hältst hier Wache – rühr dich nicht vom Fleck und warn mich, wenn jemand kommt.«

»Warum darf ich nicht mit? Ich will auch was entdecken. Es war meine Idee. Ganz allein meine.« Caruso hatte seine Schnauze herausfordernd vorgeschoben.

Es kostete noch drei Minuten intensiver Überredungskünste, bis der renitente Frischling eingesehen hatte, dass in dem Zimmer nur Platz für einen war. Und dass der eine Leonardo hieß. »Dann eben nicht.« Mit einer beleidigten Miene setzte sich Caruso. »Aber du rufst mich, wenn du was findest.«

Der Eingang war nicht versperrt. Ich betrat den Vorraum und ließ die Tür hinter mir zufallen. Vor mir war eine Tür, die zu den Wohnräumen von Paolo und Eleonora führte. Rechts zog sich eine Treppe nach oben. Die schmale Tür links gehörte zu Marias Zimmer. Ein schwacher Geruch von Brokkoliauflauf lag in der Luft. Dazu das beißende Aroma kalter Zigarettenasche. Irgendwo tickte eine Uhr. Ein Balken knarrte. Fliegengesumme. Sonst war es ruhig. Ich drückte gegen den Griff von Marias Tür – mit einem Quietschen schwang sie auf. Unwillkürlich zuckte ich zusammen. Das war nichts für meine Nerven. Es war das erste Mal, dass ich heimlich in Paolos Haus eindrang. Früher hatte ich vielleicht mal meine Nase in die Tür gesteckt oder unter einem offenen Fenster gelauscht. Aber so weit hatte ich mich noch nie vorgewagt, wissend, dass Paolo mit Matteo wegen unserer Wohngemeinschaft schon mehrmals Streit gehabt hatte. »Wie kann man nur Wand an Wand mit einem Schwein leben«, hatte Paolo gesagt. »Schweine gehören in den Stall.« Aber Matteo hatte den Einwand seines Sohnes ignoriert und darauf hingewiesen, wie wichtig ich für den Wohlstand der Familie war. Das hatte Paolo zum Schweigen gebracht.

Marias Raum wirkte wie eine Mönchsklause: wenige Möbelstücke, alles peinlich genau aufgeräumt und mit Essigwasser geputzt. Links unterm Fenster ein Holztisch mit einem Stuhl. Einzige Dekoration war eine bestickte Decke, auf der eine Keramikschale mit Äpfeln und ein Holzrahmen standen, bespannt mit einem Leinentuch. Eine unfertige Stickerei, ein Blumenmotiv, zierte den Stoff- Marias Zeitvertreib. Rechts an der Wand befand sich ein zweiflügeliger Kleiderschrank mit gedrechselten Füßen und einem Wurzelholzfurnier. Ich versuchte den Schrank zu öffnen, er war zugesperrt, ein Schlüssel nirgends zu sehen. Ich schnupperte, aber die Gerüche aus dem Innern ließen sich kaum identifizieren, Mottenpulver überdeckte alle anderen Buketts. Auf einer Kommode mit drei Schubladen standen ein Radio, ein Kreuz und ein Schwarz-Weiß-Foto in einem patinierten Silberrahmen. Es zeigte eine Frau, die ihre Arme um die Hüften zweier jüngerer Männer gelegt hatte, die rechts und links von ihr standen. Die Frau lachte in die Kamera. Ich studierte die Personen. Die junge Frau musste Maria sein, die Gesichtszüge, die Nase waren gleich, ihrem Aussehen nach war das Foto vor zwei Schweineleben aufgenommen worden. Wer waren die beiden Männer? Und warum hatte sie gerade dieses Bild aufgehoben? Ich hatte gehört, Maria sei nie verheiratet gewesen, auch nicht verlobt.

Die Tagesdecke ihres Bettes lag akkurat über dem Kissen. Auf dem Nachtkästchen stand eine Lampe. Daneben, halb von einem Groschenroman verdeckt, eine aufgeschlagene Bibel. Ein Vers aus den Petrus-Briefen war markiert: »Sie sind Schandflecken, schwelgen in ihren Betrügereien, wenn sie mit euch prassen, haben Augen voll Ehebruch, nimmer satt der Sünde, locken an sich leichtfertige Menschen, haben ein Herz getrieben von Habsucht – verfluchte Leute!«

Warum befasste sich Maria gerade mit diesem Thema? Ehebruch war es doch sicher nicht gewesen, der sie mitten in der Nacht vor die Tür getrieben hatte. Und die anderen Bewohner? Von Skandalen bei Paolo und Eleonora hatte ich noch keine Silbe gehört, auch wenn sie sich oft stritten. Nein, das Ganze brachte mich nicht weiter.

Was machte ich überhaupt hier? Nun durchstöberte ich schon den Privatraum einer alten Frau, schnüffelte in fremden Sachen herum. Ich schämte mich, dort einfach so eingedrungen zu sein. Was hatten wir erwartet? Plötzlich erschien mir die ganze Aktion lächerlich. Das grenzte an Paranoia. Eine Greisin zu verdächtigen, die niemandem etwas zuleide tun konnte. Ich ließ meinen Blick ein letztes Mal über Tisch, Kommode, Bett und Schrank schweifen. Die lobenswerte Ordnung einer Frau, die weiß, was Sauberkeit für das Wohlbefinden bedeutet. Bloß der dunkle Schatten unterm Bett störte die Harmonie. Ich dukkte mich, um besser unter das Gestell sehen zu können. Das war kein Fleck, sondern ein längliches Ding, ganz hinten an der Wand. Aber mit dem Kopf direkt vor dem Möbel konnte ich nichts entdecken, der Gegenstand war ganz dem Gesichtsfeld entzogen. Nur vom Eingang aus hatte man einen Blick auf das Ende des Teils dort unter dem Bett. Ich legte mich flach auf den Boden. Jetzt hatte ich den Gegenstand direkt vor der Nase. Es war ein Stock. Ich erkannte ihn sofort: Matteos Wanderstock. Der leichte Geruch von Matteo haftete dem Holz immer noch an. Der gedrehte Schaft, durch natürlichen Wuchs entstanden. Das verdickte Ende, das als Griff diente.

Mit dem Rüssel angelte ich nach dem Stock, bekam ihn zu fassen und holte ihn unterm Bett hervor. Kein Zweifel. Es war Matteos Stock, den er fast immer bei sich gehabt hatte, wenn er im Wald umherwanderte. Wie kam der hierher? Er war offensichtlich in aller Eile versteckt worden. Von Maria? Wenn ja, woher hatte sie den Stock? Sie wusste, dass er Matteo gehörte. Hatte sie ihn aus Matteos Wohnung mitgenommen? Gefunden? Oder war sie in jener Nacht ...? Nicht auszudenken. Unmöglich. Unvorstellbar.

Ein Klappern schreckte mich auf. Schritte. Jemand ging über den Hof. Kam direkt auf Paolos Hauseingang zu. Dem unregelmäßigen Rhythmus des Gehens nach zu urteilen, war es Maria. Vermutlich stützte sie sich mit der Hacke ab. Caruso! Wo war der Kerl? Warum hatte er mich nicht gewarnt? Maria war nur noch wenige Meter vom Haus entfernt. Ihr typisches Schnaufen war bereits ganz nah zu hören. Ich musste hier verschwinden. So schnell ich konnte, schob ich mich hinaus in den Gang. Maria war jetzt direkt vor dem Haus. Die Klinke bewegte sich. In der Falle! Ertappt. Dumm wie ein Anfänger, der Detektiv spielen will. Doch die Klinke bewegte sich wieder nach oben, ohne dass sich die Tür öffnete. Von draußen drang Marias gedämpftes Gemurmel herein. Nach den Geräuschen zu urteilen, zog sie ihre von der Gartenarbeit verdreckten Schuhe aus.

Ich sah mich um. Wohin? Viel Zeit blieb nicht, bis Maria endgültig ins Haus treten würde. Die Treppe hinauf – das dauerte viel zu lange und war auch ganz schön anstrengend. In den Keller – dasselbe Hindernis. Paolos Küche. Das war die Lösung. Kaum war ich in der Küche verschwunden, hörte ich, wie Maria hereinstapfte. Mein Herz hämmerte, mein Atem ging schneller. Ich versuchte, mich vollkommen ruhig zu verhalten. Maria schlurfte in ihr Zimmer, das Quietschen des Kleiderschranks und das kratzende Geräusch, als sie den Stuhl rückte, drangen zu mir. Wahrscheinlich zog sie sich um. Das verschaffte mir die nötige Zeit, um mich umzusehen, bevor ich mich durch die Vordertür verdrücken konnte. Die gesamte Wand war mit einer dieser modernen Einbauküchen zugepflastert, die alle italienischen Küchen zu zieren scheinen. Auf der Arbeitsplatte stand ein Teller mit den duftenden Resten eines Rosinenkuchens. Daneben ein halb ausgetrunkenes Glas Limonade. Dem Topf auf dem Herd entströmte der Geruch von Brokkoli und warmer Gemüsebrühe. Aus Marias Zimmer drangen neue Geräusche. Klang das nicht, als stellte jemand einen Holzstock in den Schrank? War das ein unterdrücktes Schimpfwort? Plötzlich erneut Schlurfschritte. Doch diesmal bewegten sie sich auf die Küche zu. Verdammt. Mir blieb nur ein Satz nach rechts, eine Bewegung mit der Schnauze, die Tür sprang auf, ich huschte durch.

Maria betrat die Küche, öffnete den Kühlschrank, klirrte mit einem Glas, ein gluckerndes Geräusch, eine Flüssigkeit wurde eingeschenkt. Nach ein paar Sekunden verschwand Maria. Ruhe. Die zugezogenen Vorhänge ließen nur gedämpftes Licht durch die Fenster. Ich befand mich in einem Schlafzimmer. Die eine Seite nahm ein Kleiderschrank ein, ihm gegenüber stand eine Frisierkommode mit einem ovalen Spiegel. Darauf ohne erkennbare Ordnung Parfumfläschchen, mehrere Bürsten und Kämme, Dosen undefinierbaren Inhalts, Cremetuben, Lippenstifte. Fast die ganze Stirnseite des Raums beherrschte das Doppelbett aus gewachstem Nussbaum. Auf der einen Seite war das Kissen zerwühlt und die Decke zurückgeschlagen. Dem Geruch nach hatte Eleonora dort gelegen. Die andere Seite war unbenutzt.

»Hoppla, wen haben wir denn da? Ich wusste doch, dass ich etwas gehört hatte.« Eleonoras Stimme. Für einen Moment glaubte ich, mein Herz bliebe stehen. Ich fuhr herum. Eleonora stand unter dem Rahmen einer Tür, die ich vorher nicht bemerkt hatte. Dampf umhüllte Paolos Frau. Hinter ihr konnte ich einen Duschvorhang erkennen. Das Badezimmer. Ich benötigte die Dauer eines Wimpernschlags, um das Ganze zu registrieren. Dann nahm ich Eleonora bewusst wahr. Sie rieb sich mit einem Handtuch ihr feuchtes Haar. Lächelte. Doch das war es nicht, was mich irritierte und meine Denkfähigkeit lähmte. Auch nicht ihre aufreizend langsamen Bewegungen, als störte es sie nicht im Geringsten, ein Schwein in ihrem Schlafzimmer vorzufinden. Wer weiß, wie lange sie mich schon beobachtet hatte. Warum war sie denn nicht mit Paolo zum Einkaufen gefahren? Nein, was mich irritierte, mich schockierte, aus der Fassung brachte, war die Tatsache, dass sie keinen Zentimeter Textil an ihrem Körper hatte, nur das Handtuch in der Hand, mit anderen Worten: Sie war nackt. Splitternackt.

So hatte ich sie noch nie gesehen. Zwar hatte ich eine Ahnung von ihrem Körper, der sich unter den Kleidern abzeichnete, wenn ich sie im Hof oder bei Matteo antraf. Aber völlig hüllenlos?

Ich muss zugeben, dass ich bis dahin überhaupt noch keinen erwachsenen Menschen unbekleidet in natura gesehen hatte. Kinder, ja, die zu Besuch kamen, im Sommer draußen herumliefen und sich gegenseitig mit dem Wasserschlauch bespritzten. Auch im Fernsehen hatte ich gelegentlich Gesundheitssendungen angeschaut, die Menschenkörper präsentierten. Matteo kannte ich nur bekleidet, er war immer in den ersten Stock gegangen, wenn er badete und sich umzog. Er kam im Pyjama herunter, wenn er ins Bett ging. Wir Schweine sind von Natur aus nackt, für uns gibt es keine lächerlichen Verkleidungen mit bunten Stoffen, wie die Menschen sie tragen. Keine andere Gattung betreibt diesen Kult, sich in Hemden, Blusen, Hosen, Röcke und Schuhe zu zwängen und dafür auch noch viel Geld auszugeben. Keine andere Gattung betreibt einen solchen Aufwand, sich dieser teuren Sachen wieder zu entledigen, wenn ein paarungswilliger Partner in der Nähe ist. Schon seltsam, aber eigentlich auch ganz hübsch. Manchmal jedenfalls. Uns Schweinen genügt es, so zu sein, wie wir sind. Ohne Dekorationsartikel. Ohne Scham. Schön, wie die Natur uns schuf. Um die Paarung machen wir übrigens auch kein solches Theater.

Eleonora bewegte sich auf mich zu. »Keinem anderen würde ich das gestatten, mich so anzustarren – außer Paolo.« Ihr Handtuch warf sie aufs Bett. »Aber du kannst niemandem etwas verraten. Wie bist du bloß hier reingekommen? Hast du dich verlaufen oder warst du neugierig, wie’s hier aussieht?« Sie kicherte. Anscheinend fand sie die Situation komisch. Das feuchte Haar floss um ihre Schultern und verbreitete das Aroma von Mandelkleie und Himbeersamenöl. Ihre Brüste sahen aus wie zwei halbe Pampelmusen, die im Takt ihres Atemholens leicht vibrierten. Der Nabel verschwand in einer kleinen Höhle, an den Beinen glitzerten Wassertröpfchen. Ich konnte meinen Blick nicht von ihr wenden. Wie von einem Magneten angezogen, trat ich nahe an sie heran. Was mich betörte, die neue Erfahrung, ein Erlebnis, ein Rausch für meine Sensoren, eine Droge fürs Gehirn, war das Potpourri aus Düften, das von Eleonora ausging, als steckte in ihr eine geheime Kraftquelle. Es war die delikateste Mixtur an menschlichen Wohlgerüchen, die mir bisher unter die Nase gekommen war. Das verwirrte meine Sinne, fuhr durch mein Blut, mein Herz, meine Eingeweide, schoss bis in die Spitzen meiner Hufe.

Zuerst konnte ich nicht zuordnen, was so außergewöhnlich war. Eleonora fehlten zum einen alle künstlichen Substanzen, mit denen sich Menschen normalerweise einsprühten, als sei die Haut ein Testgelände für eine chemische Fabrik. Nur weil ein Spritzer Limette oder Amber beigemischt war, glaubten sie, ihr Eau de Toilette oder ihre Körperlotion wäre eine himmlische Offenbarung.

Zum andern war Eleonora eine Duftlandschaft eigener Vollkommenheit. Ihrem Mund entströmte ein Bukett reifer Sommerfrüchte, das sofort verlockte zuzuschnappen und die flüchtige Illusion von Obst und Süße aufzufangen und hinunterzuschlucken, als könne man sie so für ewig aufbewahren. Ihre Brüste weckten die Erinnerung an Äpfel und Brötchen, in Milch eingelegt, Desserts, wie sie Matteo manchmal gezaubert hatte, wenn auch nicht in dieser Perfektion. Und dieses Dreieck in der Mitte barg die Essenz von Seerosen, Schachtelhalmen und Dotterblumen, umspült von der Frische eines Gebirgsbaches. In der Region ihrer Schenkel vermählten sich ihre zarten Ausdünstungen mit den Wassertröpfchen zu einem Profumo naturale. Ich weiß nicht, was mich überkam, aber diesen Naturduft wollte ich unbedingt kosten, und wenn es das Letzte war, was ich in diesem Leben tat. Ich konnte nicht anders. Diesen Geschmack auf der Zunge zu spüren, war mehr wert als jede Trüffel, jeder Barolo. Jetzt oder nie. Ohne zu überlegen, rein gesteuert vom Begehren, schob ich meine Nase zwischen Eleonoras Schenkel, ließ meine Zunge herausfahren und leckte die Wassertröpfchen von der Innenseite ihres Schenkels.

Eleonora zuckte zurück. »Das geht aber wirklich zu weit, mein Lieber. Wer hat dir das erlaubt?« Ihre Worte waren ohne Schärfe. Sie nahm meinen Rüssel in beide Hände und schob meinen Kopf sachte von sich weg. Willenlos ließ ich es mit mir geschehen. Ich war betört von dem Aufruhr in meinen Geschmackspapillen. Dem Widerstreit der Aromen, die um Aufmerksamkeit und Vorherrschaft kämpften. Mit geschlossenen Augen genoss ich das Spektakel. So sollte Mensch schmecken. Eine Idee. Ein Ideal. Ich bekam erstmals eine Ahnung, warum Menschen lieben. Warum sie Eifersucht empfinden.

»Komm, ich bring dich raus, mein starker Verehrer.« Eleonora unterbrach meinen Traum und schob mich zu einer Seitentür. Ein Lächeln verzauberte ihr Gesicht. Ohne die Umgebung wahrzunehmen, trottete ich ihr nach. Meine Zunge labte sich an den Aromen. Wie intensiv und herrlich es schmeckte! Eine weitere Tür öffnete sich. Helligkeit empfing mich. Es war ein Ausgang an der Rückseite des Hauses. Eleonora gab mir einen Klaps auf den Hintern. »Jetzt verschwinde aber, mein Schweinchen, mein Porcellino.« Der Ton war wie Honig. Ich trat hinaus ins Licht. Ich war glücklich.

Tartufo

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