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Strassendeutsch und Bücherbus
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Oft erlaubt erst die Rückschau die Bedeutung mancher Lebensereignisse für die eigene Biographie einsichtig und anschaulich zu machen und zu verstehen.
Diese Geschichte erzähle ich, um zu verdeutlichen, wie wichtig es für Menschen ist, die Sprache des Landes zu beherrschen, in dem sie leben.
Wer die Sprache beherrscht, ist in der Lage, Sachverhalte darzustellen, Interessen zu vertreten und wenn es notwendig wird, sich zu wehren und sein Recht einzufordern.
Diese Geschichte ist aber auch eng verbunden mit meiner damaligen Hanauer Grundschullehrerin, Frau Kaier, die sich in meine Lage einfühlen konnte, mir mit viel Verständnis, Geduld und Zuspruch über vier Jahre hinweg den Rücken stärkte und mir half, das wichtigste Mittel – die Sprache – zu erlernen.
Mein erster Schultag verlief sehr aufregend für mich. Ich hatte meine rote Schultüte auf dem Arm und lief an der Hand meines Vaters in meinem besten, ebenfalls roten Kleid, stolz wie eine Prinzessin zur Schule. Es wurde auch ein Foto an diesem Tag zusammen mit all meinen neuen Schulkameraden und Schulkameradinnen gemacht. Ich glaube, wir waren 25 Kinder, die eingeschult wurden, weiß aber genau, dass ich und ein anderes Kind die einzigen Türken waren.
Da ich keinen Kindergarten besucht hatte und auch nicht in der Vorschule war, sprach ich das „Straßendeutsch“, d.h. das Deutsch der Kinderspielplätze, der Rollschuhbahn und Bolzplätze. Aufgeschnappte Wörter, Redewendungen, das eine oder andere Schimpfwort, kurz, die Umgangssprache meiner deutschen Freunde war mein Sprachvorbild.
Das stellte meine Grundschullehrerin vor die große Aufgabe mir die deutsche Sprache beizubringen. Als sie bemerkte, dass ich mit den Artikeln nichts anfangen konnte, schenkte sie mir ein kleines Wörterbuch. Die Wörter darin waren groß geschrieben und jedes Namenwort hatte einen Artikel. Dieses Buch begleitete mich bis zum vierten Schuljahr. Es war für mich ein sehr bedeutsames Buch, erstens weil ich dies von meiner Lehrerin geschenkt bekommen hatte und es mir zweitens immer Hilfe bot, den gesuchten Artikel nachzuschlagen. Leider habe ich es heute nicht mehr.
Mit diesem Wörterbuch hatte mir meine Lehrerin ein Mittel an die Hand gegeben, das mir ganz offensichtlich gefehlt hatte, denn es gab damals noch keine Deutschförderkurse.
Frau Kaier brachte mir nachmittags geduldig bei, wie ich Satz für Satz eine Geschichte schreiben musste, damit sie von anderen auch verstanden wurde.
Sie motivierte mich, Bücher zu lesen, und schlug mir auch vor, zum Bücherbus zu gehen, um dort Bücher auszuleihen. Dank Ihres Hinweises und Ihrer Beharrlichkeit ging ich mit meinem Vater zum Bücherbus. Ich brauchte seine Erlaubnis und seine Unterschrift, damit ich Bücher aus dem Bücherbus ausleihen durfte. So begann für mich die Entdeckung neuer, anderer Welten. Jeden Donnerstag ging ich zum Bücherbus und lieh mir fünf oder sechs Bücher und las sie zu Hause auf dem Bett meiner Eltern.
Ich habe sehr früh erfahren, was es heißt, missverstanden, nicht verstanden oder sich nicht in einer gemeinsamen
Sprache verständigen zu können.
Meine Grundschullehrerin lehrte mich, mit diesen Situationen umzugehen, und gab mir immer wieder Möglichkeiten die deutsche Sprache anzuwenden und zu üben. Dies konnte die Übernahme einer Rolle in einem Theaterstück sein oder vor der Klasse zu stehen und ein Gedicht auswendig aufzusagen.
Aber auch in Alltagssituationen ermunterte sie mich oft die Sprache bei jeder Gelegenheit anzuwenden. Diese „Sprachanlässe“ nahm ich vielfältig wahr und übte mich im Gebrauch der deutschen Sprache.
So war ich z. B. für meine Mutter „ihre Zunge“. Ich sprach für sie, wenn sie Schmerzen hatte, mit dem Arzt. Ich dolmetschte, wenn sie sich mit einer deutschen Nachbarin über die Hausflurreinigung verständigen musste oder sie einem deutschen Kind ein Bonbon schenkte, weil wir Ramazan hatten. Vieles musste ich für meine Mutter fragen, beschreiben und erklären. Dies alles konnte ich nur, da ich von meiner Grundschullehrerin beständig ermutigt wurde, die deutsche Sprache zu verwenden, wo immer sich die Möglichkeit dazu anbot.
So erweiterte ich kontinuierlich meinen Wortschatz, lernte die deutsche Grammatik und eroberte mir in dieser Weise Stück für Stück größere Freiheit und Selbstbestimmtheit.
Oft führt das Fehlen der Sprache dazu, dass Vermeidungsstrategien aufgebaut werden, um nicht aufzufallen und um Demütigungssituationen zu vermeiden.
Meiner Grundschullehrerin habe ich es zu verdanken mit Sprachen umzugehen, sie zu lernen und anzuwenden. Sie hat mich verstanden, hat meine Hilflosigkeit erkannt und mir aus pädagogischer Intuition heraus das Mittel in die Hand gegeben oder besser gesagt in den „Mund gelegt“, das mir für ein selbstbestimmtes Leben so fehlte. Dank ihr konzentrierte ich mich auch in meiner weiteren Schullaufbahn auf die Sprachen und studierte sogar eine Fremdsprache – französisch.
Nurgül Altuntas
Rektorin als Ausbildungsleiterin, Wiesbaden