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Von Macht, Mäusen und Frau Merkel

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1955


In meiner Grundschulzeit in Regensburg gab es an der Schule sehr wenige Elefanten, das waren die evangelischen Kinder und sehr viele Kartoffeln, das waren die katholischen Kinder. Ich gehörte zu den Elefanten und das war nicht ganz einfach, denn einem Elefanten war es z.B. nicht erlaubt das Fahrrad im Bereich der Kartoffeln abzustellen. Auch der beliebte Tausch eines Pausenbrotes fand nicht statt, da Kartoffeln keineswegs das Brot mit einem Elefanten tauschten. Ich habe mich dennoch in der Schule wohl gefühlt, denn es gab meine Klassenlehrerin, Frau Merkel! Ob sie die Kartoffel – Elefantenmachtverhältnisse kannte weiß ich nicht, aber sie hat mir nie das Gefühl gegeben als evangelisches Kind in der katholischen Grundschule abgelehnt zu sein. Dann passierte in der 2. Klasse der Einbruch und ich spüre heute noch die Angst, die mich beschlich, dass sie mich vielleicht nicht mehr akzeptieren würde.

Mein Bruder, vier lange Jahre älter als ich, hatte seinen neuen Pullover gegen einen Käfig mit zwei weißen Mäusen getauscht. Nach langen Auseinandersetzungen mit unserem Hausmädchen durfte er die Mäuse behalten und unser Vater erfuhr zunächst auch nichts von dem Tausch. Ich wurde nicht gefragt, wusste aber sehr genau, dass ich natürlich nichts sagen durfte.

Nach einigen Wochen entdeckte das Hausmädchen, dass aus den zwei Mäusen 36 Mäuse geworden waren. Das hatte Folgen. Ich wusste längst von der Vermehrung, denn ich hatte täglich in den Käfig geschaut und mich über die winzigen Fleischklümpchen gewundert, die da immer mehr wurden. Ich mochte die Mäuse auch nicht, da sie fürchterlich stanken. Mein Bruder fand das gar nicht und ich machte, zumindest damals, das, was er mir sagte und muckte nicht auf.

Die Mäuse wurden zum Problem, das Hausmädchen informierte den Vater und damit waren umgehend Anweisungen auf dem Tisch, die der Logik eines Juristen entsprachen: Die Mäuse haben sofort zu verschwinden, wohin war dem Vater egal, und der Bruder ließ anklingen, dass er sie ertränken wollte. Das war für mich ein Horrorszenario. Ich sah die Mäuse schon in der Donau schwimmen – mit oder ohne Käfig – und stellte mir vor, wie es mir ginge, wenn man mich auf diese Art loswerden wollte. Also was tun? Mir kam die Idee, die Mäuse in meiner Klasse zu verkaufen. Mein Bruder fand die Idee gut und damit war für ihn klar, dass er die Mäuse los war. Ich hatte noch etwas Bedenken, denn ich liebte meine Lehrerin und wollte keineswegs Ärger bekommen. Der Verkauf der Mäuse konnte möglicherweise dazu führen, dass sie mich nicht mehr mochte und das machte mir richtig Angst. Aus Sicht meines Bruders war klar, dass ich den Käfig in die Schule zu schleppen hatte, denn schließlich hatte ich die Idee! Spätestens am Wochenende würde der Vater nach der Erledigung der lästigen Sache mit den Mäusen fragen, also nichts wie ran an die Lösung des Problems.

Meine Lieblingslehrerin, Frau Merkel, hatte auch noch ahnungslos zugestimmt, dass die Mäuse im Käfig in den Nachmittagsunterricht zur Anschauung mitgebracht werden durften, aber dann passierte es noch bevor sie in die Klasse kam.

Den Käfig hatte ich auf dem Pult abgestellt und ging schnell auf die Toilette. Dabei hatte ich ganz vergessen, kurz allen zu sagen, was es mit den Mäusen auf sich hatte. Als ich von der Elefantentoilette wiederkam, die im nächsten Stockwerk war – die Kartoffeltoilette wäre viel näher gewesen – empfing mich ein Riesengeschrei und Gekreische. Irgendwer, ich vermutete sofort eine Kartoffel hinter der Aktion, hatte in der Zwischenzeit gehandelt:

Der Käfig stand offen auf dem Boden und überall liefen weiße Mäuse rum, dazwischen meine fassungslose Lieblingslehrerin. Zuerst sorgte sie für lautstark für Ruhe, dann schickte sie ein Kind ins Lehrerzimmer um unsere Heimatkundelehrerin zu holen. Alle anderen Kinder blieben im Klassenzimmer. Die Klassenzimmertür wurde geschlossen und keiner durfte sich mehr bewegen.

Ich war davon überzeugt, dass sie nie wieder mit mir reden würde, aber oh, Wunder! Trotz des Chaos durfte ich Frau Merkel erklären, was passiert war. Sie schaute mich an, hörte mir erst genau zu, fragte auch nach und dann gab sie sehr ruhig und bestimmt klare Anweisungen. Ich sollte mich auf die Fensterbank setzen. Sie hatte wohl gespürt, dass ich panische Angst hatte, ich könne eines der Mäuschen zertreten. Die Kinder der sehr großen Klasse mussten still stehen, oder auf den Tischen sitzen und letztlich bedurfte es zweier Lehrerinnen mit sehr viel Stimmvolumen, um dem immer wieder aufflammenden Chaos Herr zu werden.

Wie die Mäuse wieder eingefangen wurden weiß ich nicht mehr, aber… sie wurden wieder eingefangen – alle 36!

Frau Merkel ließ uns an der entstandenen Situation arbeiten. So bekam ich die Aufgabe, die eingefangenen Mäuse zu zählen, was mir überhaupt nicht behagte! Wir mussten alle auch einen Aufsatz schreiben über den Besuch von 36 Mäuschen in unserem Klassenzimmer, aber… wir Kinder kamen gut damit zurecht. Es wurde nicht nach Schuldigen gesucht, sondern Elefanten und Kartoffeln arbeiteten gemeinsam an der Lösung. Entscheidend war, dass wir alle durch das Handeln unserer Frau Merkel gespürt haben, dass sie uns mochte, dass sie wieder für Ordnung sorgte, uns Angst nahm und Sicherheit gab. Dafür haben wir sie respektiert und geliebt – ich ganz besonders.


Regine Berger

Seniorpartnerin, Institut für angewandtes Schulmanagement, Stuttgart

Lehrer Loben

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