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Kapitel 8

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Es war alles genau so, wie sie es bei ihrem ersten Besuch vorgefunden hatte. Das Bett, der Schrank, sogar der Monitor des Computers flimmerte wieder.

Tara drehte sich um und sah durch die Glastür nach draußen. Erschrocken fuhr sie einen Schritt zurück. Ihr stockte der Atem. Auf der anderen Seite der Tür stand Nina direkt vor ihr. Konnte sie Tara sehen? Verlegen hob Tara die rechte Hand und winkte Nina zu. Doch die schaute nur mit verwirrtem Gesicht geradeaus.

„Sie kann mich nicht sehen“, flüsterte Tara verwundert und drehte sich ziemlich verstört um, als jemand hinter ihr sagte: „Natürlich nicht. Was auch immer sie sieht – du bist es nicht.“

Tara hatte gar nicht bemerkt, dass jemand durch die Tür an der gegenüberliegenden Seite ins Zimmer gekommen war.

Eine Frau, so um die Vierzig, stand im Raum. Sie hatte halblanges dunkelblondes Haar, trug eine enge Jeans und ein bequemes Shirt und – sie lächelte Tara fröhlich an. Ja, genau. Diese Frau stellte sich anscheinend überhaupt nicht die Frage, woher dieses fremde Mädchen kam, das da völlig verdutzt im Zimmer stand, zerstrubbelt und nass geregnet. Nein, sie lächelte, kam auf Tara zu und umarmte sie herzlich.

Und da war es wieder – das kleine Glück. Tara hatte plötzlich das Gefühl, dass sie diese Frau kannte. Verwirrt schloss sie für eine Sekunde die Augen.

„Tara, wo warst du? Und wie siehst du aus? Geh doch ins Bad und zieh dich um. Wir wollen gleich essen.“ Tara zog die Augenbrauen nach oben. Wie bitte? Geh ins Bad und zieh dich um, wir wollen gleich essen? Doch Tara kam gar nicht dazu, der Frau irgendwelche Fragen zu stellen, denn die schob das Mädchen vor sich her, aus dem Zimmer heraus in den Raum direkt gegenüber – das Bad, wie sich heraus stellte. Zuerst war Tara nicht in der Lage, sich zu rühren. Stocksteif blieb sie auf der Stelle stehen, nachdem sich die Tür hinter ihr wieder geschlossen hatte.

Alles erschien ihr so unwirklich. Sie sah sich um. Hier war alles so ... so sauber. Keine Spur von Dreck und Chaos. Tara ging zum Waschbecken und ließ ihre Finger versonnen über die blitzende Keramik wandern.

Sie besah sich im Spiegel und strich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht. Sie war immer noch Tara, bemerkte sie verwundert. Na sicher, warum denn auch nicht? Tara schüttelte den Kopf und sah sich weiter um.

Auf einem Hocker lag ein Stapel frischer Klamotten, genau in Taras Größe, wie sie später bemerkte. Und ein kuschelig weiches Handtuch. Unter dem Spiegel standen auf einer schmalen Ablage aus Glas vier bunte Becher mit Zahnbürsten. Über den vier Handtuchhaken neben dem Waschbecken klebten kleine bunte Namensschilder – das Mädchen riss die Augen weit auf. In verschnörkelten Buchstaben stand dort neben JOSIA, FELIX und MARIE auch TARA.

Tara kroch eine Gänsehaut über den Rücken. Sie spürte plötzlich, dass die kalte Nässe des Regens in jede Faser ihres Körpers gekrochen war. Doch sicher waren nicht nur ihre feuchten Klamotten schuld daran, dass sie fror. Trotzdem streifte sie schnell ihre Kleidung ab, stellte sich unter die Dusche und ließ sich mit geschlossenen Augen den angenehmen warmen Wasserstrahl auf die Haut prasseln. Ihr wurde nicht nur am ganzen Körper augenblicklich warm, sondern auch ums Herz.

Und auf einmal fühlte es sich für Tara so an, als ob zwei Leben miteinander verschmolzen. Das alte, das sie vor der Hütte lebte und das neue, das sie in der Hütte lebte. Fast so, als wenn jemand das Wachs von zwei verschieden farbigen Kerzen in eine Form goss. Es entstand eine völlig neue Kerze, doch die Farben der beiden alten Kerzen waren noch immer zu erkennen, wenn auch sehr schwach.

Nachdem Tara sich abgetrocknet und die frischen Klamotten über gezogen hatte, verließ sie das Badezimmer und stieg die Treppe in die untere Etage hinunter. Es war ihr, als hätte sie schon ihr ganzes bisheriges Leben nie irgendwo anders gelebt. Und doch fragte sie sich in dem Moment, als sie die Küche betrat, was wohl Nina jetzt tat.

„Da bist du ja. Warst wohl wieder den ganzen Tag drüben bei den Drachenfelsen? Bei dem Wetter!“, meinte die Frau lächelnd und goss Tee in eine Tasse. Tara setzte sich auf den einzigen freien Stuhl. Ihr gegenüber saß ein Junge, er war etwa in ihrem Alter. Seine halblangen braunen Haare, die ihm irgendwie ständig wieder ins Gesicht fielen, verdeckten seine Augen. Doch als er sie mit den Fingern zur Seite strich – was er so ungefähr aller zwei Minuten tat – kamen lustige kastanienbraune Augen zum Vorschein. Er sah hübsch aus, bemerkte Tara und sie beschlich ein eigenartig vertrautes Gefühl, was den Jungen betraf. So, als würde sie ihn schon ihr ganzes Leben lang kennen.

„Möchtest du Tee, Josia?“, fragte die Frau. Der Junge nickte und hielt der Frau seine Tasse entgegen.

„Verbrenn dir nicht den Mund, Bruderherz“, meinte Tara – und wunderte sich schon im nächsten Augenblick darüber. Doch Josia schien ihr wirklich vertraut zu sein. Es war, als würden in Taras Brust zwei Herzen schlagen. Erklären konnte sich das das Mädchen im Moment allerdings nicht.

Auf dem Stuhl neben Tara saß ein Mann. Er war etwa in dem gleichen Alter wie die Frau. Seine kurzen braunen Haare waren an manchen Stellen schon von feinen silbernen Fäden durchzogen. „Wie war es in der Schule?“, fragte er die beiden Kinder, während er sich sein Brot dick mit Käse belegte. Er blickte auf und sah die beiden Kinder abwechselnd mit seinen wunderschönen blauen Augen, die Tara an einen hellen Sommertag am Meer erinnerten. Josia und Tara sahen ihn grinsend an und antworteten gleichzeitig: „Wie immer, Papa!“

Später am Abend, als Tara in dem gemütlichen Zimmer - ihrem Zimmer - war, kam Stück für Stück die Erinnerung an das was vor der Hütte war zurück. Sie saß auf ihrem Bett und starrte auf die gläserne Tür.

Was war eigentlich passiert? Wieso kam es ihr so vor, als würde sie schon ihr ganzes Leben lang hier in diesem Haus, mit diesen Eltern, mit diesem Bruder leben?

Und wieso war sie für ihre Eltern und Josia nur einen einzigen Nachmittag lang weg gewesen, obwohl sie doch anscheinend schon seit 13 Jahren „da draußen“ gelebt hatte - zusammen mit anderen Eltern, zusammen mit anderen Menschen? Und weshalb erinnerte sie sich gerade jetzt hier in ihrem Zimmer an das alte Leben da draußen? Langsam stand sie auf und schlich zur Tür. Ihre Nasenspitze stieß an das kühle Glas, als sie nach draußen in die Dunkelheit starrte und versuchte, etwas zu erkennen. Aber alles, was sie sah, waren die schwarzen Umrisse der Bäume.

„Es ist kein Traum, glaube mir. Alles, was du denkst, fühlst und siehst, ist wirklich. Wichtig ist nur, dass du deinem Herzen folgst.“

Tara hatte nicht bemerkt, dass ihre Mutter ins Zimmer gekommen war. Marie stand hinter ihr und legte ihre Arme um Taras Schultern. „Aber wie ist das möglich?“, fragte das Mädchen.

Marie drehte Tara zu sich herum, legte ihr die rechte Hand auf das Herz und antwortete: „Es ist dein Herz. Und all die Wünsche, die du da drin mit dir herum trägst. Nur deshalb konntest du zurückkehren.“ „Und warum kann ich mich nur hier oben in meinem Zimmer an mein anderes Leben da draußen erinnern?“, wollte Tara wissen. „Ganz einfach. Die Tür ist ein Portal in eine – in deine – andere Welt. Du hast nur einen Ausflug dorthin unternommen“, antwortete Marie. Tara sah sie verwundert an. „Nur einen Ausflug? Es kommt mir so vor, als wäre ich mein ganzes Leben lang weg gewesen.“ Tara schüttelte verwirrt den Kopf. „Oder auch nicht“, fügte sie leise hinzu. Sie wusste im Moment selbst nicht mehr, was Wirklichkeit und was Traum war.

Marie nahm Tara bei der Hand und zog sie mit sich nach draußen auf den Flur. Sie gingen an zwei Türen vorbei. Eine gehörte zum Badezimmer, das wusste Tara. Die daneben war der Eingang zu Josias Zimmer, auch das wusste Tara. Ganz hinten, am Ende des langen Flures, war noch eine Tür. Das Zimmer der Eltern. Marie öffnete sie und schob Tara sanft hinein.

Dieses Zimmer kam Tara genauso bekannt und vertraut vor, wie der Rest des Hauses. Marie ging zielsicher auf die Wand zu, die über die gesamte Breite mit einer roten langen Gardine verhangen war. Mit einem kräftigen Schwung zog sie diese zurück und es kamen zwei gläserne Türen zum Vorschein. Tara ging auf die Türen zu und drückte auch hier ihre Nase gegen das kühle Glas. Doch sie konnte nichts weiter erkennen als schwarze Schatten von irgendetwas, das da draußen stand. „Ihr auch? Ihr habt auch solche Portale?“ Tara sah ihre Mutter mit großen Augen an.

Marie nickte. „Ja, wir auch.“

Sie nahm Tara bei der Hand und führte sie aus dem Zimmer, den Gang entlang bis zu Josias Zimmer. Sie klopfte leise. „Kommt rein“, rief der Junge. Marie öffnete die Tür. Josia saß auf seinem Bett und schmökerte in einem Buch. Verlegen sah Tara sich um. Ja, auch das Zimmer war ihr vertraut. Aber warum eigentlich? Tausend Gedanken wirbelten in ihrem Kopf herum, wie beim Schleudergang in der Waschmaschine. Marie fragte: „Josia, zeigst du Tara deine Tür?“ „Klar, doch“, antwortete der Junge, schob sich vom Bett und lief zur Wand gegenüber. Er zog die Jalousie nach oben und zum Vorschein kam ebenfalls eine gläserne Tür. „Et voilà – ma porte“, meinte er mit einer theatralischen Verbeugung und grinste das Mädchen spitzbübisch an. Tara musste unwillkürlich lächeln. Josia war echt ein Kasper. Aber genau das mochte sie an ihm.

„Okay“, meinte sie trotzdem, „das war alles ein bisschen viel heute. Ich würde jetzt gerne schlafen gehen. Ich bin etwas müde und – verwirrt.“

Marie lächelte. „Schon gut, Tara. Das ging uns allen nicht anders, als wir zum ersten Mal nach einer für uns sehr langen Zeit wieder hier waren. Morgen sieht es schon anders aus, glaube mir.“

Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt

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