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Kapitel 11

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Tara kam am anderen Nachmittag etwas später als gewöhnlich nach Hause. Sofort machte sie sich auf die Suche nach Josia, den sie auf der Terrasse hinter dem Haus fand. Er saß mit geschlossenen Augen auf der kleinen grünen Bank und hielt sein Gesicht in die Sonne. Tara stand ein paar Augenblicke reglos vor ihm und betrachtete ihn in aller Ruhe. Es sah fast so aus, als würde er schlafen. Seine Haare, die ihm sonst – zu Maries Ärger - ständig im Gesicht herum hingen, waren zurück gefallen. Sie gaben den Blick auf die dichten dunklen Wimpern, die sich über seine Augen gelegt hatten, frei. Und auf die kleinen lustigen Grübchen in der Wangengegend. Tara entdeckte verwundert auch eine etwa drei Zentimeter lange Narbe auf seiner Stirn, die sonst von den braunen Haarsträhnen verdeckt wurde.

Josia merkte am Schatten, der sich zwischen ihn und das wärmende Licht der Sonne geschoben hatte, dass jemand gekommen war. Er öffnete die Augen einen Spalt weit.

„Hi, Tara. Wo warst du solange?“, fragte er und klappte die Augen wieder zu.

„Bei Mila“, antwortete Tara. „Ich wollte sie fragen, was es mit den vielen Portalen auf sich hat.“

Das schien Josia zu interessieren. Mit einem Mal war er hellwach. „Und? Hat sie es dir erzählt?“

Tara schüttelte den Kopf. „Nein. Hat sie nicht. Ich glaube, dass sie es lieber für sich behalten möchte. Und deshalb habe ich auch nicht weiter nachgefragt.“

Josia schien ein wenig enttäuscht zu sein.

„Ich versteh sie“, meinte Tara, als sie das bemerkte. „Ich meine, würdest du jedem auf die Nase binden, weshalb du hier und nicht in der anderen Welt bist?“ „Nein.“

Josia schüttelte den Kopf. „Nicht unbedingt jedem.“

„Ist man hier eigentlich immer derselbe Mensch, wie in der anderen Welt?“, fragte Tara. Sie wusste noch so wenig von Merveille du monde, obwohl sie ja eigentlich schon sehr lange hier gelebt haben muss. Aber wahrscheinlich hatte sie sich sonst nie so viele Gedanken darüber gemacht, weil ihr das Besondere dieser Welt nicht bewusst gewesen war. Oder Taras hatte während der Zeit, in der sie nicht hier lebte, all das, was Merveille ausmachte, vergessen. Sie hatte sich allerdings in letzter Zeit immer wieder gefragt, weshalb man etwas so schönes einfach so vergessen konnte.

Josia schaute hinunter in den Garten. Er dachte einen kurzen Augenblick lang nach und sein Gesicht verzog sich zu einem leichten Schmunzeln.

„Nein, ich denke nicht immer“, sagte er schließlich. „Yaris zum Beispiel“, Josia fing plötzlich breit an zu grinsen, „war ein Mädchen.“

Taras Augen wurden riesengroß, als sie das hörte. „Ein Mädchen?“

Josia nickte – noch immer grinsend. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie blöd ich geguckt habe, als er mich das erste Mal mit durch sein Portal genommen hat und da draußen auf einmal eine langhaarige Brünette neben mir stand.“

Tara schloss für einen Moment die Augen und versuchte sich den Freund ihres Bruders als Mädchen mit langen braunen Haaren vorzustellen. Immerhin war Yaris blond und hatte kurzes und immer nach allen Seiten abstehendes Haar. Aber je länger sie darüber nachdachte, umso mehr Dinge fielen ihr an ihm auf, die sie eher an ein Mädchen erinnerten, als an den coolen Typen, auf den alle Mädchen in ihrer Klasse standen. Yaris spielte bezaubernd Geige und Klavier. Und er las zum Beispiel statt Horror- oder Kriminalromanen viel lieber harmlose Bücher. Von den Bildern, die er malte, mal ganz zu schweigen. Und schlechte Witze über Mädchen machte er gleich gar nicht. Jetzt ergaben Yaris` Charakterzüge für Tara plötzlich einen Sinn.

„Wo ... wo kommt er denn her? Weißt du das?“, fragte Tara. Josia antwortete nicht sofort, obwohl er ziemlich genau wusste, woher sein bester Freund gekommen war. Es schien so, als wollte er ganz sicher gehen, dass es wirklich so gewesen ist.

„Yaris kommt aus einer ganz anderen Zeit. Also, wie soll ich sagen – er wäre ... schon über ... 400 Jahre alt in seiner anderen Welt“, sagte Josia schließlich doch.

Das war zuviel für Tara. Sie musste sich setzen. Dass sie dabei ziemlich derb auf dem Terrassenboden landete, störte sie in diesem Augenblick nicht wirklich. „Über 400 Jahre alt“ wiederholte sie, während sie sich wieder aufrappelte, doch es klang eher wie ein Hauchen. Josia nickte.

„Wow“, meinte Tara, als sie ihre Fassung zurück erlangt hatte, „da hat er sich aber ganz gut gehalten, meinst du nicht auch?“

„Als Tochter einer verarmten Adelsfamilie sollte er“, Josia konnte sich sein Grinsen noch immer nicht verkneifen, so sehr er es auch versuchte, „sollte er einen stinkreichen Kaufmann heiraten. Das wäre ja eigentlich nicht schlimm gewesen, wenn der reiche Kaufmann jung und hübsch gewesen wäre.“ „War er nicht?“, fragte Tara dazwischen. Josia schüttelte den Kopf. „Nein, war er nicht. Er war mindestens 30 Jahre älter und fett wie ein Schwein am Schlachttag. Und genauso hat er sich auch benommen.“ Tara atmete hörbar aus. „Also, da wäre ich ganz sicher auch abgehauen, wenn ich an ihrer ... ich meine, an seiner Stelle gewesen wäre“, sagte sie. „Aber wieso ist Yaris hier gelandet? Hier in unserer modernen Zeit? Oder besser gesagt, weshalb ist er so viele Jahre zurückgegangen?“ Josia zuckte mit den Schultern. „Das kann Yaris sich auch nicht so genau erklären. Er hat mir erzählt, dass er damals, also in seiner anderen Welt, immer davon geträumt hat, mehr über sich selbst bestimmen können. Und am liebsten wäre es der weiblichen Yaris gewesen, wenn sie als Mann auf die Welt gekommen wäre. Das Leben als Mann ist in der alten Zeit anscheinend viel einfacher gewesen.“ „Und deshalb ist sie hier gelandet, als Junge – aha“, schlussfolgerte Tara. Josia nickte. „Aber wieso ist er dann in die alte Zeit gegangen und ein Mädchen geworden?“, überlegte Tara laut. Es war schwer zu verstehen, weshalb ein Mensch hier her kam. Und vor allem, wie man hierher kam. Oder wieso man in die andere Welt gelangte . Aber vielleicht musste Tara das ja auch gar nicht verstehen. Vielleicht reichte es ja auch einfach nur, es zu glauben.

Sie wollte ins Haus gehen, doch da wurde ihr auf einmal bewusst, was ihr Josia vor ein paar Minuten erzählt hatte. Langsam drehte sie sich um. „Sag mal, du hast mir erzählt, dass Yaris dich mit durch sein Portal genommen hat? Geht das denn?“, fragte sie verwundert. Ihr Bruder biss sich auf die Lippen. Mist!

„Habe ich das?“, bemerkte er. Tara nickte. „Ja, hast du. Du hast mir eben erzählt, dass Yaris in seiner anderen Welt als Mädchen neben dir stand.“ Tara sah ihren Bruder eindringlich an. „Josia?!“, meinte sie mit Nachdruck. Sie war wild entschlossen, ihm das Geheimnis zu entlocken. Josia sprang von der Bank auf, sah verstohlen hinunter in den Garten, wo ihre Mutter hockte und mit dem Unkraut kämpfte, und zog seine Schwester ins Haus. Er legte den Zeigefinger auf seine Lippen. „Pst! Mama und Papa dürfen davon nichts wissen. Sie sind der Meinung, dass es gefährlich ist, jemanden mit durch sein eigenes Portal zu nehmen.“

„Weshalb?“ Tara sah Josia fragend an.

„Der andere kann nur mit dir wieder zurück nach Merveille. Wenn du ihn verlierst, ist er in der anderen Welt gefangen.“ Tara erschrak. „Für immer?“, fragte sie flüsternd, obwohl außer ihr und Josia niemand im Haus war. „Naja, ich glaube, nur solange, bis er sein eigenes oder ein anderes Portal findet, das ihn wieder zurück bringt. Aber das kann oft Jahre dauern. Und ich habe schon von Merveilleanern gehört, die niemals wieder zurück gefunden haben.“ Die Gedanken fuhren in Taras Kopf schon wieder Karussell. „Aber ... aber hast du mir nicht gestern erst erzählt, dass die Zeit in der anderen Welt hier nur einen Tag zählt?“ „Ja, schon, aber wenn du in der anderen Welt stirbst, bevor du dein Portal oder ein Neues gefunden hast, dann bleibst du auch weg, verstehst du?“ Das verstand Tara und sie spürte plötzlich große Erleichterung darüber, dass sie ihr Portal gefunden hatte. Rechtzeitig. Denn wer konnte schon wissen oder ahnen, wann sein Leben zu Ende gehen würde.

Aber ihre Neugier war noch nicht befriedigt: „Und wie funktioniert das? Wie kann man jemanden mitnehmen?“ Josia wuschelte sich durch die halblangen braunen Haare.

„Mensch, Tara! Du fragst mir noch ein Loch in den Bauch. Hör bitte auf damit.“ Er antwortete nicht sofort auf die Frage. Doch weil seine Schwester keinerlei Anstalten machte, sich mit dem bisher Erfahrenen zufrieden zu geben, sagte er schließlich: „Man muss sich fest an den Händen halten. Ganz egal, was passiert. Aber man muss nicht nur mit den Händen verbunden sein, sondern auch mit den Herzen. Verstehst du, was ich damit meine?“

„Ja, ich denke schon“, antwortete Tara, unsicher, ob sie wirklich das richtige dachte.

Eine allerletzte Frage für diesen Nachmittag hatte Tara dann allerdings doch noch. „Kann es ein, dass Mila schon ein paar Mal durch ein anderes Portal gegangen ist und dann ein neues finden musste?“ Josia zuckte mit den Schultern. „Das ist schon möglich“, meinte er und ging dann hinauf in sein Zimmer. Für heute hatte er schon genug preisgegeben. Geheimnisse ihrer Welt, die seine Schwester eigentlich nie hätte erfahren dürfen – und er eigentlich auch nicht.

Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt

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