Читать книгу Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt - Yvonne Tschipke - Страница 4
Kapitel 2
ОглавлениеIn der kleinen Wohnung, die Taras Zuhause war, hatte sich Stille ausgebreitet.
Alles schien zu schlafen. Dabei war es noch nicht einmal acht Uhr und in den Häusern ringsherum zog gerade das Familienleben ein.
Aber es war nicht die Art Stille, die einen ruhig stimmte. Nicht die Art Stille, die man suchte nach einem langen, hektischen Tag. Es war keine gemütliche Stille, die zum Entspannen und Verweilen einlud. Sie glich eher der Ruhe vor dem Sturm – einem Moment, in dem man mit bangem Herzen das erwartete, was bald darauf folgen könnte.
Tara ging auf direktem Weg in die Küche. Ihr war die ganze Zeit über noch nicht aufgefallen, dass sie Hunger hatte, doch jetzt machte sich ihr Bauch mit einem lauten Knurren bemerkbar.
Die kleine gelbe Lampe beleuchtete matt die übersichtliche Leere, die im Inneren des Kühlschrankes herrschte. Tara seufzte und schmierte sich ein Butterbrot – mehr war nicht da, abgesehen von der halb vollen Flasche Wodka, die auf einem der Gitter lag.
Kauend ging sie hinüber ins Wohnzimmer.
Der Fernseher lief. Tara riskierte einen kurzen Blick auf den flimmernden Bildschirm. Es kam eine von diesen Serien. Lauter schöne, reiche Menschen, die den ganzen Tag anscheinend nichts Besseres zu tun hatten, als sich gegenseitig ihre Probleme und Liebesgeschichten um die Ohren zu werfen. Die mussten nicht zur Schule, nicht zur Arbeit und höchstwahrscheinlich noch nicht einmal auf`s Klo. Es nervte Tara gewaltig, wenn die Mädchen in ihrer Klasse an jedem Morgen in kleinen Grüppchen zusammen standen und die Episode des Vorabends auswerteten – wer mit wem, wieso, weshalb, warum und so weiter. Das war nicht Taras Ding. So war das Leben einfach nicht – nirgends. Das Leben war ganz anders.
Tara blickte sich um.
Das war das Leben – oder besser gesagt: d a s war i h r Leben.
Vor dem Bildschirm – in einem schäbigen Sessel - schnarchte ein Mann. Der Kopf hing ihm auf dem Brustkorb. Taras Vater war mal wieder im Sitzen eingepennt. Jedes Mal dasselbe.
Sie musterte ihn mit einem angewiderten Blick. Ganz besonders sein Feinripp – Unterhemd. Das war vor Urzeiten mal weiß – vermutlich.
Taras braune Augen wanderten durch das unaufgeräumte Zimmer mit den abgewrackten Möbeln und blieben auf der krümeligen Tischplatte hängen, wo sich Zeitungen neben leeren klebrigen Gläsern und dem übervollen Aschenbecher stapelten.
Ja, so war das Leben – ihr Leben – und sie hasste es.
Leise seufzend drehte sich Tara um und verschwand in ihrem Zimmer.
Hier war ihr kleines Reich – ihre Insel mitten im Chaos.
Bis vor drei Monaten hatte sie das Zimmer mit ihrer älteren Schwester teilen müssen. Irgendwie war es immer viel zu eng. Zwei Teenager brauchten eben Platz – ganz besonders Lena, die ihre Klamotten ständig über das ganze Zimmer verteilte. Aber wenigstens war immer jemand da – ganz egal ob zum Reden oder zum Streiten.
Jetzt wohnte Lena bei Ricky, ihrem brandneuen Freund, und um Tara herum war es still. Zu still, fand sie, denn nichts fürchtete das Mädchen mehr, als die Ruhe der Einsamkeit. Sie fühlte sich klein und bedeutungslos. Und in ihrem Herzen wohnte Angst. Dabei wusste sie selbst nicht, weshalb das so war. Draußen im Wald – da liebte sie die Einsamkeit. Aber gleichzeitig sehnte sie sich auch nach jemandem, der hier in der Wohnung auf sie wartete und dem sie davon erzählen konnte, was sie den Tag über erlebt hatte. Sie sehnte sich nach jemandem, dem sie von ihren Ängsten erzählen konnte. Tara sehnte sich nach jemandem, der stolz auf sie war, wenn sie was Tolles erreicht hatte. Und auf den sie stolz sein konnte. Ja, Tara sehnte sich so sehr danach, dass es in ihr drin richtig schmerzte. Und es tat auch weh, wenn die anderen in der Klasse sie mieden. Wenn sie einen Bogen um sie machten und heimlich – oder auch nicht ganz so heimlich – hinter ihrem Rücken tuschelten und lachten.
Endlich beachtet, endlich wahrgenommen werden, endlich dazu gehören – Tara konnte sich schon nicht mehr entsinnen, seit wann sich dieser Wunsch in ihrem Herzen festgesetzt hatte. Interessant für andere zu sein, nicht durch das, was sie hatte, sondern einfach dadurch, w e r sie war – dieser Gedanke erfüllte ihren Körper mit einem prickelnden warmen Gefühl. Nachts, wenn sie mal wieder nicht einschlafen konnte, dann stellte sie sich vor, jemand ganz anderes zu sein. In ihren Gedanken bastelte sie sich ein Leben, in dem sie glücklich sein konnte. In dem sie beliebt war. Ein Leben, in dem sie als Regisseur bestimmen konnte, was als nächstes passieren würde.
Doch leider war es ganz anders. Scheinbar war nach wie vor Nina der einzige Mensch in ihrer Nähe, der sich wirklich für sie interessierte. Jemand, der die Frage „Wie geht es dir?“ nicht einfach so dahin sagte, sondern ernst meinte. Jemand, der auch wirklich eine ehrliche Antwort darauf erwartete.
Menschen stellen diese kleine Frage tagtäglich viele Male. Oft mit einem Lächeln im Gesicht – ob aufrichtig oder aufgesetzt, wer weiß das schon. Doch wenn ihr Gegenüber zur Antwort ansetzt, sind sie mit ihren Gedanken schon längst weiter gezogen.
Keiner will wirklich hören, wie es dem anderen geht. Keiner will etwas von Schmerzen, ganz gleich ob körperlich oder seelisch, erfahren. Niemand will seinen Kopf und schon gar nicht sein Herz mit Problemen des Anderen belasten. Anscheinend genügte ein „Danke, gut“ als Antwort in den allermeisten Fällen, um das Gewissen des Fragestellers zu beruhigen.
Tara hatte das gelernt, schon sehr früh. Selbst, wenn einer der Lehrer in der Schule das ständig müde wirkende Mädchen fragte, ob denn mit ihr alles in Ordnung sei, vermied sie es, die Wahrheit zu sagen und beließ es im Normalfall bei einem „Ja, es geht schon. Alles okay.“
Dass zu Hause, was auch immer das in ihrem Fall bedeutete, sich keiner so recht dafür interessierte, wie es ihr ging, auch daran hatte sich Tara inzwischen gewöhnt. Ihre Eltern wollten nichts mit Tara zu tun haben. Und sie eigentlich auch nichts mit ihnen. Das war ungefähr seit der Zeit so, als Tara es gewagt hatte, die Art, wie ihre Eltern die Tage verbrachten, zu hinterfragen. Es war zwar nicht leicht in der viel zu engen Wohnung, doch Tara versuchte, so gut es eben ging, ihren Eltern aus dem Weg zu gehen. Dieses unausgesprochene Arrangement fanden wohl beide Seiten äußerst zufriedenstellend.
Trotzdem wünschte sie sich viel mehr Normalität in ihrem Leben. Oder vielmehr das, was sie bei anderen Familien in ihrem Umfeld für Normalität hielt. Denn wer konnte schon durch die vorgezogenen Gardinen und bunt gestrichenen Fassaden sehen und erkennen, wie es dahinter wirklich war.
Tara schloss die Tür ab, angelte auf dem kleinen Wandregal nach den Streichhölzern und zündete die kleine orangefarbene Kerze auf dem Tisch an. Das warme flackernde Licht breitete sich in Windeseile im ganzen Zimmer aus, es kroch in alle Ecken und verlieh dem Raum mit den alten schäbigen Möbeln so etwas wie Gemütlichkeit. Dann öffnete das Mädchen den alten Schrank, griff tief in eines der Fächer und zog unter den zerknitterten Klamotten schließlich ein kleines gelbes Büchlein heraus. Taras Tagebuch. Dem konnte sie anvertrauen, was sie erlebt hatte. Ihm konnte sie ihre Wünsche und Sehnsüchte verraten. Ihm konnte sie ihre Tränen zeigen. Es konnte zwar nicht antworten, dafür aber hervorragend zuhören. Doch Tara musste das kleine gelbe Buch gut verstecken. Man konnte nie wissen, wer am Tag hier herein schneite. Das Zimmer ließ sich nur von innen verschließen.
„Heute ist mir etwas Komisches passiert“, schrieb Tara auf die nächste freie Seite, als sie es sich auf ihrem Bett bequem gemacht hatte. „Bei den Felsen stand plötzlich eine Hütte. Ich bin mir sicher, dass sie da noch nie war. Oder habe ich sie bisher übersehen, weil sie gut versteckt im Gebüsch steht? Und dann das Rauschen – ich weiß nicht, woher das kam. Aber irgendwie hatte ich das komische Gefühl, dass ich ganz glücklich war da draußen an der Hütte. Dass ich genau dort hingehöre. Dass das mein Platz in dieser Welt ist.“