Читать книгу Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt - Yvonne Tschipke - Страница 15
Kapitel 13
ОглавлениеTara konnte kaum atmen, so stark schien das Rauschen zu werden. Sie und Josia bewegten sich, während sie sich fest an den Händen hielten, durch die Tür, den hellen Tunnel entlang, der mit jedem ihrer Schritte dunkler und dunkler wurde. Dann standen sie plötzlich im Freien.
Es war auch hier dunkel. Und kalt. Tara sah sich fröstelnd um.
„Wo sind wir?“, fragte sie.
„In meiner anderen Welt“, antwortete Josia tonlos.
So nach und nach gewöhnten sich Taras Augen an die dunkle Umgebung und sie erkannte, wo genau sie sich befanden. „Ein Friedhof? Warum sind wir auf einem Friedhof gelandet?“, fragte sie.
„Portale nach Merveille befinden sich am Lieblingsort des jeweiligen Menschen“, erklärte Josia geduldig. Er wusste, dass er seiner Schwester sicher noch so einiges mehr erklären müsste.
Tara dachte nach. „Ist das der Grund, weshalb sich mein Portal bei den Drachenfelsen befindet?“ „Wenn das dein Lieblingsplatz in der anderen Welt war, dann schon“, antwortete Josia. Das leuchtete Tara ein. „Aber warum sind wir durch dein Portal auf einem Friedhof gelandet? Das kann doch nicht im Ernst dein Lieblingsort gewesen sein“, meinte sie zweifelnd und zeichnete mit der Hand einen weiten Bogen.
„Meine Mutter aus dieser Welt ist hier begraben. Sie starb als ich acht war“, erzählte Josia leise und Tara spürte die Traurigkeit, die seine Worte begleitete.
Langsam gingen sie nebeneinander her über den Friedhof. Josia schien ein bestimmtes Ziel zu haben, Tara folgte ihm. Vor einem Grab mit einem weißen Marmorkreuz blieben sie stehen. Der Mond, der in dieser Nacht voll und rund am Himmel stand, hatte sich mühsam durch die Wolkendecke gekämpft und ließ sein silbernes Licht genau dorthin fallen, wo die beiden Kinder standen. Tara las, was in schlichten schwarzen Buchstaben auf dem Kreuz geschrieben stand: „Seraphine“.
„Sie war eine gute Mutter. Ich weiß, sie hat mich sehr geliebt.“ Josia schluckte. Tara wusste nicht, was sie sagen sollte. Deshalb schwieg sie lieber. Vor dem Kreuz stand eine kleine Glasvase. Taras Blick blieb daran hängen. Jemand hatte frische rote Rosen hinein gestellt. Sie sah Josia fragend an. „Hier warst du vorhin?“ Ihr Bruder nickte. „Ich komme jeden Tag her. Sie hat sich hier in dieser Welt immer gut um mich gekümmert. Das ist das einzige, was ich jetzt noch für sie tun kann“, sagte er leise.
Schweigend standen die beiden Kinder noch eine Weile am Grab. Doch nach ein paar Minuten fasste Josia Taras Hand und meinte: „Wir müssen zurück. Komm.“
Sie sprachen nicht viel auf dem Weg zu Josias Portal, einem kleinen Schuppen, in dem Gießkannen und Eimer für die Friedhofbesucher aufbewahrt wurden.
Doch kurz bevor sie dort angekommen waren, machte Josia urplötzlich kehrt und zog Tara in die andere Richtung zurück. „Wo willst du hin? Josia, ich denke, wir wollen nach Hause“, fragte Tara ziemlich perplex.
„Komm mit, ich will dir was zeigen“, antwortete der Junge. „Mein anderes Leben“, fügte er nach einer etwas längeren Pause hinzu.
Ja, er wollte seiner Schwester zeigen, was ihm hier wichtig gewesen war. Das kleine Haus mitten in dem großen Park, der die Stadt mit frischer Luft versorgte wie eine grüne Lunge. Den kleinen Teich, an dem er stundenlang gesessen und den Fröschen zugesehen hatte und Seraphines duftenden bunten Blumengarten.
Es kam Tara seltsam vor, mitten durch die Dunkelheit über einen Friedhof zu spazieren. Wie spät war es eigentlich in Josias anderer Welt? War es die gleiche Welt, in der auch Tara bis vor einigen Wochen gelebt hatte? Verstohlen sah sie sich um. Im silbernen Mondlicht warfen die großen Steinfiguren, die als Zierde an einigen der Gräber standen, komische Schatten auf den breiten Sandweg. Sie sahen wirklich unheimlich aus. Wie große grau – schwarze Ungeheuer, die sich schon im nächsten Moment auf die Kinder stürzen wollten.
Josia schien Taras Furcht zu spüren. „Du musst keine Angst haben. Es sind Engel. Große, kleine, dicke, lustige. Aber Engel sind nichts Furchterregendes. Im Gegenteil – sie beschützen uns. Das haben sie schon immer getan. Glaube mir, ich kenne sie und sie kennen mich“, sagte er und zog Tara weiter.
Etwas weiter vorn, am Ende des Weges, konnten sie schon das alte eiserne Friedhofstor sehen. Es stand offen. Draußen auf der breiten Straße fuhren ab und zu Autos entlang. Die Lichtkegel ihrer Scheinwerfer schossen vorbei und zauberten die unterschiedlichsten Schatten in die Gegend.
Plötzlich durchzuckte ein fieser Schmerz Taras Kopf. Jemand hatte nach ihrem Zopf gegriffen und hielt sie ruckartig zurück. Tara entfuhr ein Schrei. Ihre und Josias Hände rissen auseinander.
Josia drehte sich blitzschnell um und rief: „Lass sie los! Sofort!“ Doch als er erkannte, wer Tara festhielt, verstummte er von einem zum anderen Augenblick.