Читать книгу Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt - Yvonne Tschipke - Страница 14
Kapitel 12
ОглавлениеTaras Gedanken drehten sich im Kreis. Das, was sie vorhin von Josia über Merveille und die Portale erfahren hatte, verwirrte sie doch schon sehr. Warum hatte sie in der anderen Welt nichts von ihrem Leben hier in Merveille du monde gewusst, während ihr dieses andere Leben jetzt allerdings noch in Erinnerung geblieben war. Auch, wenn es nur schwach wie ein Nebelhauch zu sein schien. Und weshalb hatte sie das Portal – also die Hütte – erst vor einiger Zeit entdeckt, obwohl sie dort schon seit fast zwei Jahren sehr viel Zeit verbracht hatte?
Vielleicht konnte ihr Josia diese Frage auch noch beantworten, überlegte sie und sprang von ihrem Bett auf.
Tara klopfte leise an die Tür von Josias Zimmer. Sie bekam keine Antwort, dabei war sie sich ganz sicher, dass er erst vor ein paar Minuten dort hinein verschwunden war. Sie hatte es genau gesehen; er war vor ihr die Treppe hinauf und in sein Zimmer gegangen.
Hatte er ihr Klopfen vielleicht überhört?
Tara klopfte noch einmal. Als sie wieder keine Antwort bekam, drückte sie vorsichtig die Klinke herunter und öffnete die Tür. Das Mädchen sah sich um, doch sie konnte Josia nirgends entdecken. Tara schaute hinter die Tür, ob er sich vielleicht dort versteckt hielt, weil er seiner Schwester einen Streich spielen wollte. Das würde ihm ähnlich sehen. Doch Josia steckte auch nicht hinter der Tür.
Komisch, dachte Tara, sie hätte schwören können, dass er vorhin ganz sicher geradewegs in sein Zimmer gegangen war. Er konnte sich doch unmöglich in Luft aufgelöst haben. Oder war er etwa ...?
Tara hatte diesen Gedanken noch gar nicht zu Ende gedacht, da wusste sie bereits, dass sie mit ihrer vagen Vermutung richtig gelegen hatte. Denn genau in diesem Augenblick öffnete sich Josias Portal und der Junge stand in seinem Zimmer.
Ja, klar – dass das Tara nicht sofort aufgefallen war – die Jalousie war nach oben gezogen.
Josia putzte sich gedankenverloren Staub von den Händen und der Hose, als er plötzlich in seiner Bewegung erstarrte, als hätte ein Eissturm über ihm getobt.
„TARA!“, schrie er. Es klang wie eine Mischung aus Erschrecken und Wut. Genau so sah er seine Schwester auch an. Seine freundlichen Kastanienaugen wirkten plötzlich so kalt wie Eiswürfel aus Cola. Tara kroch ein unangenehmer Schauer über den Rücken. So hatte sie Josia noch nie erlebt.
Er sprang auf Tara zu, packte sie grob am Handgelenk und drängte sie durch die noch immer geöffnete Tür aus seinem Zimmer hinaus auf den Flur.
„Wie oft habe ich dir schon gesagt, du sollst mein Zimmer nicht betreten, wenn ich dich nicht darum bitte oder es dir erlaube!“, zischte er wütend.
„Aber ... ich ... habe ... doch ... geklopft. Zweimal“, stotterte Tara völlig durcheinander. „Ich wusste doch, dass du in dein Zimmer gegangen bist.“
„Aber ich habe dich nicht herein gebeten – ist das so?!“ Josias Stimme klang unverändert hart.
Tara nickte zögernd. „Ich konnte doch nicht ahnen, dass ...“, flüsterte sie, doch dann riss sie sich los, drehte sich um und stürzte in ihr Zimmer. Das heftige Knallen der Tür war höchstwahrscheinlich noch in der übernächsten Stadt deutlich zu hören.
Wutschnaubend stand Josia im Flur, doch als er sich ein paar Minuten später etwas beruhigt hatte, tat es ihm schrecklich leid, dass er seine Schwester so angeschrien hatte. Sicher hatte sie es nicht böse gemeint, überlegte er.
Vorsichtig öffnete Josia die Tür zu Taras Zimmer. Er sah, dass seine Schwester bäuchlings auf ihrem Bett lag. Ihre Schultern zuckten im Rhythmus der leisen gedämpften Schluchzer, die er hören konnte.
Auf Zehenspitzen schlich Josia zum Bett, setzte sich auf die Kante und legte Tara zögerlich die Hand auf den Rücken. Tara zuckte leicht zusammen; sie hatte nicht gehört, dass jemand ins Zimmer gekommen war. Doch sie drehte sich nicht um, sie wusste auch so, dass es nur ihr Bruder sein konnte.
„Alles in Ordnung bei euch da oben?“, schallte Maries Stimme durch das Haus. Sie hatte das Knallen der Tür bis hinunter in den Garten gehört.
„Ja, alles okay, Mama“, erwiderte Josia. Ihre Mutter musste von dem Streit nichts wissen – und von dem Grund dafür erst recht nicht.
„Tara“, flüsterte er. „Tara, es tut mir leid. Bitte hör auf zu weinen.“ Er streichelte ihr über das dichte Haar. „Bitte, bitte Tara. Es tut mir wirklich leid.“
Langsam drehte sich Tara um. Sie schniefte ein wenig und wischte sich mit dem Handrücken über die Augen. „Was ist denn eigentlich los mit dir? Warum bist du so wütend auf mich?“, fragte sie, noch immer ein wenig schluchzend, während sie sich mit dem Haargummi, das sie ums Handgelenk trug, die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen band.
Josia starrte auf den bunten Flickenteppich, der vor Taras Bett lag und sagte leise: „Mama und Papa dürfen nicht wissen, dass ich jeden Tag nach draußen gehe.“ Tara wusste genau, was er mit „nach draußen gehen“ meinte.
„Sie denken, es ist zu gefährlich für mich“, sprach Josia weiter. „Und sie haben Recht damit“, schob er nach einer kurzen Pause hinterher.
„Warum?“, wollte Tara wissen. Wo, um alles in der Welt, kam er her? Welches Geheimnis umgab ihn? „Wo warst du vorhin?“, wisperte sie leise.
Statt einer Antwort nahm Josia Tara an der Hand, zog sie von ihrem Bett hoch und nahm sie mit hinüber in sein Zimmer. „Warte“, sagte er, schaute noch einmal in den Flur hinaus, drückte die Tür dann leise zu und kam zu Tara zurück. Er griff nach ihrer Hand und zog sie bis zur Glastür. Die Jalousie war noch immer oben. Josia sah Tara ernst an. Dann fragte er flüsternd: „Willst du wirklich wissen, wo ich war?“ Tara nickte zögernd. Was hatte ihr Bruder vor?
Josia öffnete die Tür. „Halt mich ganz fest an den Händen. Und lass bloß nicht los“, sagte er. Tara tat, was er sagte. Sie fasste nach seinen Händen. Nach einigen Sekunden war es, als wären die Hände der Kinder miteinander verschmolzen. „Denk daran, egal was passiert, wir müssen zusammen bleiben“, meinte Josia noch einmal mit Nachdruck in der Stimme, dann bewegten sie sich gemeinsam einen Schritt auf das Portal zu. Tara konnte das Rauschen hören, das sie auch vor der Hütte schon gehört hatte. Nur war es hier bei Josias Portal noch viel stärker; es kam Tara eher vor wie ein starker Wind der langsam zum Sturm anschwellen würde.