Читать книгу Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt - Yvonne Tschipke - Страница 6
Kapitel 4
ОглавлениеDer feine Nieselregen kroch durch den dünnen Stoff von Taras Jacke. Ein kalter Schauer wanderte über ihren Rücken. Schweigend stapfte sie vor Nina den schmalen Waldweg entlang. „Nina hat es gut“, dachte sie und sah sich kurz nach der Freundin um. In der tollen neuen Regenjacke wurde sie ganz sicher nicht halb so nass. Tara hätte auch gern so eine gehabt. Aber die kostete einen Haufen Geld – Geld das ihre Eltern nicht hatten. Und selbst wenn sie es hätten, sie gaben es für andere Dinge aus. Ordentliche Klamotten für ihr Kind standen da ganz hinten an. Nach wie vor trug Tara die Sachen, die Lena inzwischen zu klein geworden waren. Und selbst die sahen nicht toll aus, waren immer ein Stück zu groß. Tara hasste es, wenn sie über den Schulhof oder durch die Klasse lief und die Anderen tuschelnd ihre Köpfe zusammen steckten oder hinter ihrem Rücken über sie kicherten.
„Lass sie doch“, meinte Nina dann oft tröstend. „Ist doch nicht wichtig, wie man außen ausschaut. Wichtig ist doch, wie es in einem innendrin aussieht.“ Tara seufzte. Nina hatte gut Reden – in ihren teuren Markenklamotten fiel es ihr sicher nicht schwer, so zu denken. Tara jedenfalls tat die offenkundige Ablehnung der Anderen sehr weh. Sie brannte sich in ihr Herz und hinterließ auf ihrer Seele einen tiefen schmerzenden Riss.
Nach etwa einer halben Stunde waren die beiden Mädchen an den Drachenfelsen angekommen. Taras Herz machte vor Aufregung Bocksprünge. Hatte sie sich das alles nur eingebildet oder würden sie die Hütte tatsächlich finden? Sie schoben sich durch das stachlige Gebüsch, wobei Nina ständig jammerte: „Hoffentlich bleibe ich nicht hängen! Meine Mutter wird verrückt, wenn die neue Jacke kaputt geht!“
Wenigstens hatte Tara d i e s e Probleme nicht.
Es war nicht leicht gewesen, Nina zu überreden, mit ihr in den Wald zu kommen. Immerhin hatte die dafür ein Date mit ihrem heiß geliebten Titus verschieben müssen. Früher waren die beiden Mädchen jede freie Minute zusammen gewesen. Sie hatten gemeinsam gelernt, Hausaufgaben gemacht, waren auf den Spielplatz gegangen, um den ganzen Nachmittag die Tischtennisplatte zu blockieren und hatten Musik gehört. Eben all das, was beste Freundinnen so tun. Aber seit Nina Geschmack am anderen Geschlecht gefunden hatte, waren die gemeinsamen Nachmittage immer seltener geworden. Ninas neue Freizeitbeschäftigungen hießen Paul, Chris, Kevin – und im Moment eben Titus. Das tat Tara ziemlich weh, denn Nina war wirklich ihre einzige Freundin.
Tara glaubte zwar den Grund zu kennen, doch sie verstand nicht wirklich, weshalb die anderen Mädchen und Jungen ihrer Klasse nichts mit ihr zu tun haben wollten. Immerhin waren es ja ihre Eltern, die den ganzen Tag nichts anderes taten als saufen – und nicht Tara selbst. Sie unternahm so ziemlich alles, um zu beweisen, dass sie anders war. Sie arbeitete hart für die Schule. Sie sang im Schulchor – sogar solo. Sie meldete sich zu allen möglichen freiwilligen Aufgaben – doch all das nutzte anscheinend nichts. Die anderen mieden sie wie eine schlimme Krankheit, die man sich um keinen Preis holen will.
Schließlich hatten Tara und Nina es geschafft, durch das Gebüsch zu kriechen. Tara kam es heute besonders dicht vor. Aber sie stand noch immer da – die kleine windschiefe Hütte.
„Tataaa!“, schmetterte Tara, als wollte sie sagen: „Siehste.“
Nina sah mit ziemlich verdutztem Gesicht auf die Hütte. „Wo kommt die denn her? Ich könnte schwören, dass sie da noch nie gestanden hat.“ Tara nickte. „Hm, ich auch. Aber sie ist eben da, seit gestern. Oder vielleicht doch schon immer, ich weiß es nicht.“ Die beiden Mädchen gingen um die Hütte herum bis sie an der Tür angelangt waren. Aber noch immer war sie verschlossen. Etwas anderes hatte Tara ehrlich gesagt auch nicht erwartet.
Tara blieb stehen und lauschte in sich hinein. Und wirklich, es war wieder da – das Rauschen. Leise zwar, aber sie konnte es genau hören. Und in ihrem Herzen spürte sie, wie schon am Vortag, dieses ungewohnte Gefühl der Geborgenheit.
„Hörst du das auch?“, fragte Tara Nina, die mit verwundertem Gesicht neben ihr stand und auf die Hütte starrte. „Nee, was denn?“, fragte sie. „Na, das Rauschen“, flüsterte Tara. Nina stand da und lauschte, dann schüttelte sie den Kopf: „Nee, ich hör nichts. Bist du sicher, dass du was hörst?“ Tara nickte. „Vielleicht solltest du mal zu meinem Vater in die Praxis gehen. Das könnte eine schlimme Krankheit an den Ohren sein“, bemerkte Nina - ebenfalls flüsternd.
Ein Klingelton zerschnitt unbarmherzig die angenehme Stille. Es war Ninas Handy. Zum vielleicht hundertsten Mal an diesem Nachmittag. Tara verdrehte die Augen. Nina zuckte entschuldigend die Schultern. „Sorry, das ist Titus. Er will sicher wissen, wann ich endlich komme. Wir wollen noch ins Kino.“ Sie lief auf die andere Seite der Hütte und Tara konnte sie minutenlang ins Telefon schmachten hören.
Während sie so vor der Hütte stand und darauf wartete, dass Nina zurückkam, erinnerte sich Tara seltsamerweise an ihren Traum der vergangenen Nacht. Wie war das doch gleich? Da hatte sich die Tür gerade in dem Augenblick geöffnet, als sie gestolpert war. Ob sie mal ...? Tara kam es ziemlich bescheuert vor, sich vor der Hütte auf die Knie zu schmeißen. Aber falls Nina dann mal irgendwann fertig war mit ihrem verliebten Gequatsche und zurück kam, konnte sie ihr ja sagen, dass sie nur gestolpert war. Denn die würde das sicher auch ziemlich verrückt finden.
Langsam ließ sich Tara vor der Tür auf die Knie gleiten. Sie musste unwillkürlich schmunzeln bei dem Gedanken, wie das wohl aussehen mochte – sie, auf allen Vieren, mitten im Wald.
Doch auf einmal hörte sie ein leises Knarren. Tara blieb wie versteinert am Boden hocken und sah sich unsicher um. Auf der anderen Seite der Hütte hörte sie Nina sprechen. Das Rauschen, das ihr schon die ganze Zeit über in den Ohren geklungen hatte, wurde mit einem Mal stärker und stärker. Es schien fast so, als würde ein Sturm aufziehen, dabei bewegten sich die Äste und Blätter der Bäume kaum.
Dann wurde es mit einem Mal hell. Ein gleißender Lichtstrahl schoss Tara entgegen.
Sie war offen, die Tür war tatsächlich offen. Vorsichtig kroch Tara, noch immer auf allen Vieren, auf die Hütte zu. Sie erreichte den Eingang und richtete sich vorsichtig auf. Denn die Tür war nun so groß, dass das Mädchen bequem hindurch gehen konnte.
„Sorry, Tara, aber Titus ... Tara? Tara! Wo bist du denn? Sei doch nicht gleich beleidigt, nur weil ich mal kurz telefoniert habe. Taaaraaa!“