Читать книгу Merveille du monde - Das Geheimnis der zweiten Welt - Yvonne Tschipke - Страница 11
Kapitel 9
ОглавлениеMarie hatte Recht.
Am anderen Morgen, als Tara erwachte, sah sie zwar gleich zur Portaltür, doch das eigenartige Gefühl, das sie noch am vorhergehenden Abend dabei beschlichen hatte, war verschwunden. Obwohl die Erinnerung an das Leben da draußen noch immer in ihrem Kopf steckte.
Aber sie fühlte sich ausgeruht – so gut wie in der vergangenen Nacht hatte sie schon lange nicht mehr geschlafen. Die friedliche Stille, die sich über das ganze Haus gelegt hatte, bereitete Tara ein angenehmes Gefühl der Geborgenheit, das im Augenblick ihr Herz ganz und gar ausfüllte.
Tara schob sich aus dem Bett. Noch einmal, wie schon so oft am vergangenen Abend, schnupperte sie an der kunterbunten Bettwäsche. Der frische saubere Blütenduft ließ ihr Herz ein Stück höher hüpfen. Kein Traum, so viel stand fest.
Sie ging hinüber zum Kleiderschrank. Langsam öffnete sie die Tür und ließ ihre Augen über die ordentlichen bunten Stapel von frisch gewaschener Wäsche gleiten. Wie lange hatte sie sich genau das gewünscht – oder hatte sie es einfach nur vermisst?
Es dauert einige Zeit, bis Tara sich für ein Outfit entschieden hatte. Immer wieder drehte sie sich vor dem großen Spiegel hin und her, und besah sich von allen Seiten. So viele verschiedene Sachen – die ihr noch dazu wie angegossen passten - hatte sie in ihrem anderen Leben nicht besessen. Ihre Mitschüler da draußen würden staunen, wenn sie sie so sehen könnten, dachte sie lächelnd vor Glück. Schließlich entschied sie sich für eine enge dunkle Jeans und ein lilafarbenes T-Shirt.
Als Tara einige Zeit später vor der Küchentür stand, hörte sie, wie ihre Mutter zu irgendeinem Lied, das gerade im Radio lief, mitsang. Maries klare helle Stimme verzauberte sie auf der Stelle. Und ihr wurde mit einem Mal klar, von wem sie ihr eigenes Gesangstalent eigentlich „geerbt“ hatte.
Tara wagte nicht, die Tür zu öffnen, so schön fand sie das Lied und Maries Gesang. Das tat Josia für sie, der plötzlich hinter ihr stand. „Tara, was ist los, ich habe Hunger“, sagte er, schob Tara zur Seite und stürmte in die Küche. „Morgen, Mama“, meinte er, während er sich schon an den Tisch setzte und sich dabei schon mal ein Brötchen aus dem Korb angelte. Tara kam langsam hinterher. Sie staunte wie ein Kind am Heiligen Abend beim Betreten des Weihnachtszimmers, als sie den liebevoll gedeckten Tisch erblickte. Es gab frische Brötchen und Kakao, Erdbeermarmelade, Apfelgelee und Nougatcreme. In der Mitte brannte eine Kerze. In einer Vase aus buntem Glas leuchteten dunkelrote Rosen und verstreuten ihren süßen Duft in alle Richtungen. Noch immer waren ihre Gedanken von dem anderen Leben da draußen vor der Tür bestimmt. Dort hatte sie so etwas noch nie erlebt – jedenfalls solange sie sich zurück entsinnen konnte. Da hatte sie Glück, wenn überhaupt etwas im Kühlschrank zu finden war, womit sie ihren Hunger stillen konnte. Und wenn genug Platz auf dem Tisch war, um einen Teller darauf abzustellen. Von Blumenduft in der Wohnung ganz zu schweigen.
„Setz dich doch, Tara. Möchtest du Brötchen?“ Marie drückte sie sanft auf einen Stuhl. „Du wirst es lieben, das verspreche ich dir“, meinte sie noch, fast so als hätte sie Taras Gedanken erraten.
Nach dem Frühstück schwangen sich Josia und Tara auf ihre Fahrräder (Tara besaß echt ein Fahrrad!), um zur Schule zu fahren. Tara fuhr voraus, sie kannte den Weg. Und wunderte sich nicht im Geringsten darüber. Als sie um die Kurve fuhren, hinter der sie eigentlich den Wald und die Drachenfelsen vermutete, stellte sie erstaunt fest, dass da Häuser und Gärten waren. Keine Spur von hohen Bäumen und Felsgestein. Tara schüttelte ihren Kopf, fast so, als ob sie alle Gedanken aus ihm heraus schmeißen wollte. Doch mit einem Mal, ohne dass sie es selbst wollte, wurde Taras Herz schwer.
Tara wurde mit einem Mal immer langsamer. Nina, dachte sie, Nina. Wie würde es ihr wohl jetzt gehen. Immerhin hatte sie ihre beste Freundin allein im Wald zurück gelassen.
Ob sie es vielleicht wagen sollte, noch einmal durch das Portal nach draußen zu gehen, um Nina von dem Geheimnis zu erzählen, das die Hütte in sich barg? Oder um sie wenigstens zu beruhigen, dass es ihr gut ging. Sie wusste nicht, ob es eine gute Idee war, Nina von dieser Welt hier zu erzählen. Sicher würde sie Tara für verrückt erklären. Nun gut, wenn Tara es sich so recht überlegte, sie würde der Geschichte über eine Parallelwelt ganz sicher auch keinen Glauben schenken, wenn sie nicht selbst erlebt hätte, dass es sie tatsächlich gibt. Doch noch viel mehr spürte Tara in ihrem Herzen die Angst, das Portal könnte sich für immer verschließen und sie könnte niemals wieder in diese Welt hier zurückkehren, wenn sie noch einmal nach „draußen“ ging.
Als Tara auf dem Schulhof ihr cooles Mountainbike anschloss, hörte sie auf einmal Schritte hinter sich. Langsam drehte sie sich um. Vor ihr standen drei Mädchen in ihrem Alter. „Hi, Tara. Mathehausaufgaben fertig?“
„Ähm, hi“, erwiderte Tara und warf ihren Rucksack über die Schulter. „Ja, klar.“ Hausaufgaben? Ihr Gehirn fuhr offensichtlich Achterbahn. Es schaltete nach wie vor zwischen ihrem Leben hier und ihrem Leben draußen vor der Hütte hin und her. Tara nahm sich vor, in der Klasse schnellstmöglich nachzusehen, ob sie die Hausaufgaben wirklich hatte.
Sie lief mit den drei schwatzenden Mädchen ins Schulhaus. Dort schlugen sie den Weg zum Musikzimmer ein. Tara ging zielsicher zu ihrem Platz – inzwischen wunderte sie sich über gar nichts mehr. Leise seufzend ließ sie sich auf den Stuhl fallen und kramte in ihrem Rucksack. In ihrem Matheheft standen tatsächlich die Hausaufgaben.
Auf dem Platz neben ihr ließ sich Mila nieder. Vor ihnen saßen Tabea und Sophie. Hier in dieser Welt waren die drei Mädchen Taras Freundinnen. Das hatte sie gleich am Anfang gespürt – oder gewusst. Wie auch immer.
Ob ungewohnt oder nicht, Tara gefiel ihr Leben hier in dieser Welt. Und eigentlich hätte sie es für nichts, aber auch wirklich gar nichts jemals wieder aufgegeben.