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KEIN REZEPT

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Der ursprüngliche Beweggrund, meine Gedanken, Gefühle und Erfahrungen in diesem Buch herauszuschreien, wächst während des Schreibprozesses weit über jede Idee einer Selbsttherapie hinaus. Im Hinblick auf die Dringlichkeit und Aktualität dieses Themas scheint mein eigener Frieden zusehends eine fast untergeordnete Rolle zu spielen. Ein innerer Zwang, eine energische Aufforderung drängt mich dazu, dir meine Geschichte ganz zu erzählen, um dem einfallsreichen Schicksal einen Auftritt zu geben.

Seit sieben Jahren sammle ich fleißig die Flicken meiner Kindheit in wilden Textdokumenten – ein erzählerisches Konvolut von Wut, Angst, Verurteilungen und Selbstzerstörungssequenzen.

Kein Zuckerschmaus.

Verständnis ist nicht das Ziel meiner Geschichte. Verstehen findet im Kopf statt. Dein Verstand, mein lieber Leser, meine liebe Leserin, interessiert mich nicht. Wenn du mich fühlen kannst, wenn du dich fühlen kannst, kommen wir dem eigentlichen Anliegen gemeinsam näher. Weder habe ich den Anspruch an Vollständigkeit, noch ist es in meinem Sinne, die Sichtweisen aller an einem Patchworkprozess Involvierten einzunehmen. Ich lasse kurze Sequenzen der Empfindung anderer zu, zu mehr bin ich nicht bereit. Ja, auch ich habe egoistische Motive. Ich bin durchdrungen von der Idee, die Stimme der Trennungskinder zu sein oder wenigstens ihr unterdrückter Husten. Ich ermächtige mich selbst, ihre traurigen und gekränkten Seelen zu Wort zu bringen.

Freiheit erzeugt Trennung.

Jede Medaille hat zwei Seiten.

Ich konzentriere mich auf die, die im Schatten liegt.

In Anbetracht der Komplexität, individuellen Herausforderung und jeweiligen Ausformung der persönlichen Identität in verschiedenen Lebensphasen kann es gar keine allgemeingültige Aussage über die Empfindungen von Trennungskindern geben. Genauso wie es auch kein universelles Rezept für gesunde Ernährung, Glücklichsein oder den Umgang mit Schicksalen gibt. Kein Lebenslauf gleicht dem anderen. Jeder Mensch ist ein einzigartiger und unverwechselbarer Kosmos. Es gibt Unterschiede in den Ausgangssituationen, den Familienkonstrukten und den eigenen Wahrnehmungen.

Und doch: In meinem privaten Austausch mit Trennungskindern mache ich oft die Erfahrung, dass ihre Geschichten und Erlebnisse in verblüffender Weise meinen eigenen Empfindungen von Schmerz und Getrenntsein ähneln. Nach dem ersten Widerstand, sich zu offenbaren, folgen traurige Enthüllungen. Lange ging es den meisten von ihnen „gut“, sie waren „in Ordnung“, oder der getrennte Elternteil war ihnen „egal“ und der Umgang mit ihm „nicht wichtig“. Ein Blick in die Augen. Dumpf, traurig und erschöpft.

Man erkennt sich.

Eine empathische Tür zur Wahrheit öffnet sich. Zaghaft fallen die Masken und verdrängte Gefühle stürmen ins Bewusstsein. Trotz meiner Erfahrungen bin ich überrascht, wie groß die Verletzungen anderer Trennungskinder sind, jenseits meiner eigenen Geschichte. Die Resonanz ist umwerfend. Einer einfühlsamen Seite in mir und meinem Gespür für das Unbewusste offenbaren sich jedoch gegensätzliche Regungen in den noch nicht Ausgesöhnten. Traurigkeit und Verzweiflung kommen zwar zum Ausdruck, aber die Körpersprache zeigt mir auch, dass die kommunizierten Inhalte immer noch beschönigt werden. Dieses Versteckspiel der Verletzlichkeit ist mir vertraut. Erst wenn dann auch die letzten Flunkereien ihre Berechtigung verlieren, entstehen intensive Momente des Vertrautseins, basierend auf einem gegenseitigen Verständnis.

Tränenreich.

Ohnmächtig.

Gleichzeitig auch erfüllend, denn der mühsam versteckte Schmerz darf sich endlich doch zeigen und man ist mit seinen Empfindungen nicht mehr allein. Die Isolation entpuppt sich als fixe Idee und ist schnell durchbrochen. Es entsteht ein befreiender und befruchtender Austausch. Besonders die Ablenkungen, welche bis dahin die innere Leere ersetzen sollten, werden in ihrer Vielzahl und in ihrem Mechanismus sichtbar. Stummes Nicken. Erkenntnis. Hoffnungsschimmer.

Erkennst du dich?

Das Ende der Illusion, der Anfang von Heilung.

Kein Rezept.

Aufschrei

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