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MEIN BRUDERHERZ

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Während ich mit Bestleistungen um Aufmerksamkeit bettelte, versuchte sich mein Bruder Daniel in Rebellion. Seine Widerspenstigkeit war ebenso erfolgreich wie beeindruckend. Er war ein Enfant terrible und erschwerte es jedem, ihn um seiner selbst willen zu lieben. „Ich bin dagegen“ wurde zu seinem Lebensmotto und verdeutlichte seinen Widerstand gegen die Trennung unserer Eltern.

Die Trennung.

Der Verlust der Vaterfigur.

Die fehlende Nähe zu ihm.

Den Wunsch meines Vaters, seinen Sohn mitzunehmen, verweigerte meine Mutter. Die Kinder sollten beisammenbleiben. Wir blieben es. Unvorstellbar für mich, auch noch von meinem Bruder getrennt worden zu sein. Möglicherweise wäre sein Leben anders, leichter, einfacher verlaufen an der Seite unseres Vaters, möglicherweise nicht. Wer weiß das schon. Natürlich habe ich meinen Bruder oft zum Teufel gewünscht, aber es bleibt fraglich, ob sich meine Kindheitsjahre ohne ihn entspannter gestaltet hätten. Auf jeden Fall ist es ein erschreckender Gedanke, die wertvollen Erfahrungen unserer intensiven Geschwisterbeziehung mit all ihren Schauplätzen wären mir verwehrt geblieben.

Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Es hat auch Zeiten gegeben, in denen sich unser gemeinsames Leid verdoppelte. In Momenten der Zurückweisung und Ablehnung durch unseren Vater. Wir antworteten gleichlautend, illusionierend:

„Du kennst ihn doch!“

„Er hat sich nur falsch ausgedrückt.“

„Wir haben ihn missverstanden.“

„Er liebt uns trotzdem.“

Letztere war die perfideste, aber wichtigste Illusion. Wir glaubten daran und klammerten uns an sie. Zumal unsere Mutter viele Jahre den Respekt für ihn aufrechterhielt, ihn verteidigte und unsere Enttäuschungen beschwichtigte. Eines Tages aber wurde sie müde davon, war verbittert wegen all seiner nicht erfüllten Versprechungen. Sie war es leid, den Verletzungen ihrer Kinder nichts Heilendes entgegensetzen zu können. Die väterlichen Pfeilspitzen der Interessenlosigkeit drangen direkt in unser Herz, und wir spannten unseren Abschirmpanzer auf. Ignoranz und Gleichgültigkeit sind harte Kaliber. Die hässliche Form der Vaterliebe verunsicherte uns zutiefst, und unser kindliches Spekulieren über die möglichen Ursachen blieb erfolglos. Uns verband der gemeinsame Schmerz. Sein Geschwister verletzt und verwundet zu erleben war qualvoll. Eine Bewältigungsstrategie musste her, und zwar schnell.

Für mich war es eine Selbstverständlichkeit, als die „Größere“ den Laden mit zu schmeißen. Das hat mich geprägt: Heute noch scheue ich Verantwortung und gehe ihr weiträumig aus dem Weg. Das Los der großen Schwester war unausweichlich. Meine Position selbsterklärend. „Nimm deinen kleinen Bruder mit. Pass auf ihn auf. Sei doch vernünftig, du bist die Große.“ Bei vielen Freundschaftsbesuchen hatte ich meinen Bruder im Schlepptau.

Ich fand es nervig.

Er spürte es.

Wie traurig muss sich mein Bruder dabei gefühlt haben? Die Ablehnung seiner geliebten Schwester kam für ihn noch obendrauf. Einsame Zeit. Getrennte Zeit. Er wollte immer mit dabei sein, einfach bei mir sein, und ich empfand ihn oft als eine Last. Die Verantwortung drückte mich und ich wollte auch lieber die „Kleine“ sein, die umsorgt wird, um die sich jemand „Großes“ kümmert. Dieser Wunsch wurde über die vielen Jahre immer schwächer, sodass es heute eine besondere Schwierigkeit für mich darstellt, mich umsorgen und verwöhnen zu lassen, mich einfach fallen zu lassen in der Gunst eines anderen.

Annehmen. Eine Unmöglichkeit.

Mein Bruder hingegen wurde von zwei starken Frauen getragen und beschützt, meiner Mama und mir. Dadurch entstand ein Ausgleichskonflikt und ich fühlte mich oft vernachlässigt und weniger wertvoll. Mir durchaus angebotene Hilfe konnte ich nicht annehmen. Lehnte sie schon prinzipiell ab. Lehnte mich selbst ab – als bedürftiges Kind. Stattdessen verdrehte ich meine Selbstdarstellung: die Starke. Der Baum. Der Fels. Die Unfehlbare. Äußerlich standhaft und aufrecht, krümmte ich mich innerlich. Ich durchschaute die Dynamik nicht. Wie auch. Ich litt unter Einsamkeit und sehnte mich danach, auch einmal klein und schwach sein zu dürfen.

Wonach sehnte sich mein Bruder? Daniels Antworten auf diese Frage waren an Einfallsreichtum und Präsenz kaum zu überbieten. Es verging selten ein Tag, an dem er nicht für Aufregung sorgte. Wutausbrüche, Regelwidrigkeiten und die Auflehnung gegen Autoritäten waren seine beliebtesten Aktivitäten. Emotionale Werkzeuge wie Verweigerung, Ungehorsam und Aufsässigkeit lagen ihm dabei gut in der Hand. Seine „Neins“ waren ausschließlich Reflexe seines Widerstands.

Aufmerksamkeit wollten wir beide.

Das hatten wir gemeinsam.

Ich war dafür. Er dagegen. Wir beide waren wie Schoko und Vanille. Hier folgsam, dort aufbegehrend. Ich ein blonder Engel, einnehmend und freundlich. Er ein kleiner Teufel, provokant und maßlos. Das machte nur bedingt einen Unterschied, denn mit dem Prädikat „Trennungskinder“ war man uns beiden gleichermaßen freundlich gesinnt. Etappenweise lehnte ich mich erfolgreich an Daniels Konzept des Ungehorsams an. Ich beneidete ihn für seinen offenen Widerstreit, hatte doch auch ich eine geballte Wut in meinem Bauch. Auch ich wollte gern den Märtyrer spielen. Im Gegensatz zu Daniel wurde mein Abwehrverhalten jedoch als sehr unangemessen empfunden, was mich zuerst noch wütender machte. Nach zahlreichen Erziehungsmaßnahmen und stetigen Hinweisen, dass sich so ein Verhalten für ein Mädchen nicht gehöre, wechselte ich schließlich die Taktik und schulte mich in anderen aufmerksamkeitshaschenden Methoden: Leistung. Anpassung. Heiteres Naturell.

Heute liegen unsere Wohnorte 350 Kilometer auseinander – beide etwa 400 Kilometer von unserem Vater entfernt. Wie Daniels Seele sich gegenwärtig positioniert, kann ich nur vermuten. Mein Bruder war beim Auseinanderdriften unserer Eltern drei Jahre alt.

Drei Lenze.

Wie würdest du dich fühlen?

Wie ist jetzt der Vergleichsmoment zu formulieren zu meinen sieben Jahren? Ich habe einschlägige Studien danach durchwühlt, mit dem Ergebnis, dass es keine Verallgemeinerung gibt. Nur die konkrete Konstitution, die individuelle Ausstattung – Identität und Resilienz – können Hinweise geben zum Grad der seelischen Verletzung. Wir stehen nicht im Wettbewerb um die prächtigere Narbe. Aber wir erinnern uns gegenseitig daran, dass wir sie haben – ganz automatisch. Betroffenengruppe zu zweit.

Zigarette.

Wein.

Zum Glück haben die Götter diesen Nektar erfunden – und das Destillieren. Schmeichelnde Seelsorger. Promille. Höchstes Ablenkungspotenzial. Traubenhafte Runterschluckmechanismen. Noch heute sind mein Bruder und ich sehr trinkfest, vielleicht aus einer unbewussten Idee heraus, unserem Vater damit nah zu sein.

Vor fünf Jahren ist Daniel selbst Vater geworden.

Ein ganz wundervoller Vater.

Seine ersten Worte nach Lailas Geburt waren: „Ich werde meine Tochter niemals verlassen!“

Die Rolle des Daddys steht ihm gut, sehr gut sogar. Ein Vergnügen, ihn zusammen mit seiner Tochter zu erleben. Sie haben ein sehr inniges Verhältnis zueinander. Für Daniel das pure Glück. Er bezeichnet Laila als „das Beste“ in seinem Leben. Vielleicht hat unser Vater Ähnliches gesagt, als wir zum ersten Mal in seinen Armen lagen. Sein Kind jemals zu verlassen schließt mein Bruder aus – ich möchte ihm gerne glauben. Unserem Vater hat er die frohe Botschaft nicht überbracht. Kein „Laila ist geboren“! Das stinkt ihm zu sehr nach Heuchelei, und die kann er nicht ausstehen.

Da hat er Prinzipien.

Wie sein Vater.

Es überrascht mich nicht, dass er ihm mit den Jahren immer ähnlicher wird. Hören will er davon nichts. Er lehnt ihn ab, unseren biologischen Vater. Alles an ihm.

An manchen Tagen weiß ich nicht wohin mit meinem prallen Stolz auf meinen kleinen großen Bruder. Der Junge hat sich gut gemacht! Verdammt gut!

Überwindungsstratege.

Aufschrei

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