Читать книгу Aufschrei - Zela Sol - Страница 22

PLÖTZLICH PATCHWORK

Оглавление

Diffuse Erinnerungen. Haltloses Sein.

Nicht Fisch. Nicht Fleisch.

Entwurzelt.

Mama gab sich die größte Mühe. Michael gab sich Mühe. Alle waren mühevoll. Gereicht hat es nicht. Ich habe die Schotten dicht gemacht und mir ein Leben voller Illusionen aufgebaut. Musterschülerin. Klassenbeste. Athletin. Immer oben, auf dem ersten Platz. Goldmarie. Je höher ich sozial strebte, desto weniger fühlte ich. Erfolg statt Trauer. Aufmerksamkeit statt Verlust. Für mich ging die Rechnung auf. Es war ganz einfach. Ich habe meine ganze Konzentration auf Leistung gebündelt, meinen Blick auf die Wirkung gerichtet. Kausalität – das Gesetz von Ursache und Wirkung – ist komplex, aber eigentlich schlicht. Ein einfaches Werkzeug in Kinderhänden. Die Intuition ist noch stark ausgeprägt und die Vorstellungskraft ist enorm. Der Wille dazu lag in meiner Löwe-Natur. Ich hatte alle Zutaten beisammen und backte daraus eine dreistöckige Bedürfnistorte: Leistung – Lob – Liebe.

Deal.

Ich lieferte Bestleistungen in Schule und Sport. Dafür bekam ich anerkennend Urkunden und Medaillen. Es gab wenige Bereiche, in denen ich nicht mit „Ausgezeichnet“ brillierte. Und wieder – dafür – wurde ich geliebt. Von meiner Mama. Und in meiner Hoffnung auch von meinem Papa. Ich stellte mir vor, wie meine Erfolge ihn erreichten und er stolz auf seine Prinzessin wäre. Ganz fest glaubte ich daran, dass er mich aus der Ferne für meine Siege liebte.

Es muss so gewesen sein.

Mama war stets stolz auf mich. Es gab genug Gelegenheiten. Immerzu. Kaum erfolglose Atempausen. Ich habe mich geliebt gefühlt. Ja. Auch wenn der größte Teil ihrer Aufmerksamkeit von meinem Bruder Daniel beansprucht wurde. Ich bin mir sicher, sie hat bemerkt, was für eine tolle Tochter ich bin.

Es muss so gewesen sein.

Daniel war superanstrengend. Auf Widerstand gedrillt. Er verfolgte eine andere Strategie. Eine ehrlichere. Sein Dagegen war deutlich und unmissverständlich. Ungehorsam, Wutausbrüche und tägliche Aggressionen richtete er gegen alle. Sein Wesen übernahm die Verhaltensauffälligkeiten. Er war dreieinhalb, als der Vater ging, das passte nicht in seine magische Kleinkindvorstellung. Ich glaube, seine Überspanntheit war ein Ausdruck seiner Angst. Angst, Mama könnte ihn auch verlassen. Ich könnte ihn auch verlassen. Diese Verlustangst hat womöglich ein Ventil gesucht und gefunden. Überspanntheit. Eine permanente Hyperaktivität. Kein großer Unterschied zu mir, ich habe die Energien nur zielgerichteter auf Leistung gelenkt.

Berechenbarer.

Bewusster.

Daniel war dafür noch zu klein, zu zart, zu rein. Er hat Rebellion gewählt. Ich die Verdrängung. Heute ist er gelassener und ich innerlich permanent überspannt. Er hat frühzeitig Frust abgelassen. Ich habe angestaut. Die Methode spielt unterm Strich keine Rolle, gefrustet oder entfrustet – die Lücke bleibt. Und auch der Widerstand.

Auch heute gibt es in meinem alltäglichen Leben Dinge, die ich einfach nicht akzeptieren kann. Die ich ablehne als einen Teil von mir. Es gibt gegenwärtig Momente, denen ich ihre Berechtigung verweigere. Ein Beispiel, eine Begebenheit aus meinem kategorischen Abendmahl. Du erinnerst dich an mein Mahlzeiten-Dogma. Nun, ich bereite mit größtmöglicher Freude die Zutaten für ein gemeinsames Essen mit meinem Mann zu. Eine zuversichtliche Grundstimmung wiegt mich in der Annahme, mein Gatte erscheine pünktlich neunzehn Uhr, wie vereinbart. Punkt sieben sitze ich vor der gedeckten Tafel, alles ist hübsch angerichtet. Noch atme ich ruhig. Das akademische Viertel. Von mir aus, aber eine schwachsinnige Erfindung. Ich hätte Zeit zu googeln, wer diese gesellschaftlich akzeptierte Anstandslosigkeit entworfen und legitimiert hat. Das wäre noch blödsinniger als der Blödsinn selbst. Neunzehn-Vierzehn. In einer Minute ist der akademische Zauber vorbei. Die Wut steht schon in den Startblöcken. Wärmt sich auf. Neunzehn-Fünfzehn. Sie bricht erzürnt über mich herein. Ich greife an. Meinen Mann. Egal, wo er sich aufhält, er wird sie spüren. Der Raum ist erfüllt mit schändlichen Beleidigungen und übler Nachrede. Meine Aura dehnt sich über unser Grundstück aus. Sie leuchtet rot. Ich spucke Feuer. Der Adressat ist mir inzwischen völlig egal. Die Ordnung meines Kosmos ist gestört und ich kippe aus dem Gleichgewicht. Überspanntheit. Aggressive Schübe.

Das ist unakzeptabel. Widrig.

Neunzehn-Achtundzwanzig. Mein Dämon ist aktiviert. Was zum Teufel kann wichtiger sein als unser gemeinsames Abendessen und die natürliche Ordnung? Was? Mir will nichts einfallen. Niente. Nada. Ich verzweifle und zweifle an allem. Ist das wirklich der richtige Mann für mich, wenn ihm ничего wichtiger ist als ich? Meine innere Argumentationskette ist wirklich kindisch. Angefixt. Angedockt an alle traumatischen Prägungen. Das macht mich noch wütender. Das Narbentier grüßt täglich. Der Ablauf – immer derselbe. Und doch. Ich bleibe dabei und akzeptiere es nicht. Weil es mich zerstört. Weil ich zulasse, dass es meine heile Welt zerstört. Ich habe es einmal zugelassen. Das werde ich nie wieder tun. Schwur. Versprochen ist versprochen und wird niemals gebrochen. Ich brauche dieses gemeinsame, geordnete und natürliche Abendessen. Ich kann nicht ohne. Mehr Ohnes vertrage ich nicht.

Unakzeptabel.

Erfolgreich vom Thema Patchwork abgeschweift. Das kann ich gut, unter anderem. Ich mogele mich schon lange an diesem Zeitraum vorbei – dem Zeitraum der ersten Patchworkgehversuche. Lieber bringe ich die Einleitung in Reinform oder korrigiere an kaputt korrigierten Kapiteln. Ablenkung findet sich reichlich. Diese Zeit, jene Zeit der Neuordnung, schmerzt mich in der Erinnerung am meisten. Es gibt nur wenige Frequenzen, die in meinem Langzeitgedächtnis überlebt haben. Familiäre Schnipsel. Auch Fotos gibt es kaum aus dieser Zeit, und trotzdem empfinde ich sie als die intensivste. Der Umbruch. Ein unbewusstes Einsinken in Begebenheiten, denen ich nicht willentlich zugestimmt habe. Ich hatte keine Wahl und machte das Beste daraus.

Bevor du was sagst, es war deswegen nicht alles schlecht. Im Gegenteil. Ich habe meine Kindheit geliebt und bin ein Freund des Lebens. Ich hatte glückliche Stunden zwischen den Plattenbauten und aufregende Zeiten im Wald, auf dem Feld, in der Natur. Es war ein freies und ursprüngliches Leben. Ein lebendiges Kindsein. Meine Frohnatur fand viele Ausdrucksmöglichkeiten. Ich musste weder Hunger leiden noch Krieg erleben. Ich hatte alles, was ein Kind braucht, und noch mehr. Auf dem großen Spielplatz des Lebens durfte ich mich uneingeschränkt austoben und ausprobieren. Meine Mama hat jede meiner Neigungen, und waren sie noch so verrückt, unterstützt. Oft waren es fixe, unbedachte Ideen und voreilige Entschlüsse. Typisch für mein hitziges Gemüt. Voller Energie habe ich mich in jedes neue Abenteuer gestürzt, euphorisch und unaufhaltsam. Um dann nach kurzer Zeit festzustellen, dass mein Herzblut zu überschießend war und ich mich nun langweilte.

Angefangen hat alles mit Leichtathletik. Hier bewies ich Ausdauer, weil es abwechslungsreich war. Aber es gab noch einen bemerkenswerteren Vorteil: Hier konnte ich schnell Erfolge erzielen. Mein Körperbau war athletisch, drahtig, sehnig. Meine Reaktionen blitzschnell, die Techniken raffiniert. Wenig Anstrengung notwendig, ein gefundenes Fressen für meinen halbierten Selbstwert. Meine Trainerin war Punkt, nicht Komma. Unerbittlich forderte sie nach einem strengen Regelwerk. Ich genoss ihre Zuneigung und erhielt eine maßgefertigte Ausbildung. Sie führte mit einer straffen Hand. Das gefiel mir, hier wusste ich, woran ich war. Sie bot mir Orientierung und trieb mich zu Höchstleistungen. Die Ergebnisse folgten prompt.

Gold.

Silber.

Gold. Gold.

Die Goldmedaille als emotionaler Ausgleich. Es gibt Schlimmeres. Dreimal die Woche Training, dreimal die Woche Auszeit von der Neuordnung. An den Wochenenden Wettkämpfe.

Damals gab es noch keine Helikoptereltern, die ihre Schützlinge auf Schritt und Tritt überwachten. Die Leichtathletikgruppe fuhr elternautonom mit dem legendären Barkas B 1000 zum Ort des Wettgeschehens. Hinterher wurden die Medaillen präsentiert. Meine Trainingsgruppe – mein Hort der Aufmerksamkeit und der Wertschätzung.

Ich war Repräsentantin unseres Bezirkes. Die Fackelträgerin mit Kampfauftrag. Sozialistisch einwandfrei.

Ich hatte Spaß daran, an meine Grenzen zu gehen. Gleichzeitig habe ich mich körperlich ausgetobt, ein guter Ausgleich zu meiner emotionalen Schwere. Eine Sportart reichte mir bald nicht mehr, ich wollte größere Schauplätze. Die Suche danach begann beim Judo, bog beim Ballett ab, interessierte sich für Tischtennis, hatte mehrere Absacker beim Karate und endete schließlich beim Tennis.

Tennis hatte international die größte Reichweite und den präsentesten Status, warum also sollte ich mich mit Pingpong am Tisch zufriedengeben. Gesagt, getan. Schon stand ich neu ausgerüstet und mit hoher Erwartung auf dem roten Platz. Ich hatte auch hier durchaus Talent. Wobei ich mir nicht sicher bin, ob ich meine sportlichen Siege nur mit Talent und Training errungen habe. Reflektierend waren Präsenz und Wille meine wertvolleren Triebfedern. Mein Auftreten hat damals viele Mädchen eingeschüchtert, die wahrscheinlich glaubten, dass solch ein Selbstbewusstsein nur auf dem Fundament von Talent wachsen kann. Heute weiß ich, dass nichts unmöglich ist. Erfahrungsgemäß. Ich habe einige Male Talent durch meinen starken Willen installiert.

Mein starker Wille war und ist das beste Element in meinem persönlichen Werkzeugkasten. Ein multifunktionaler Alleskönner. Der Merlin meines Waffenarsenals, der sogar Leben rettet. Mein Leben. Mein eisiger Wille, auch mit meiner Trennungsgeschichte ein erfülltes und vollkommenes Leben zu führen, ist der Antrieb dieses Buches. Er gibt nicht auf, bevor er Heilung findet. Der Wille ist frei, nicht zu manipulieren und unantastbar. Das verleiht ihm eine universelle Macht, die es zu nutzen gilt. Ich rede nicht von mental programmierter Gedankenkraft, die ist zu schwach, zu anfällig. Freier Wille ist eine absichtliche Entscheidung der inneren Natur und in seiner Wirkung mit nichts zu vergleichen. Solch zielgerichtete Absicht haut den stärksten Mann um. Das ist meine Erfahrung. Dafür bin ich tief dankbar.

Der kurze Vorstoß in die Willensstärke (die ich später noch intensiver ausführe, weil sie nach meiner Wahrnehmung fundamentaler Bestandteil des Heilungsprozesses ist) lässt mich auf ein neues altes Feld springen: die Illusion der Leistung. Die Weisheit der Sprache deckt den Betrug schnell auf: Ich muss etwas leisten, um anerkannt, angesehen und schlussendlich geliebt zu werden. Anerkennung, Lob, Ansehen, Bewunderung oder Wertschätzung sind allesamt kleine Zöglinge der Liebe. Ihre maskierten Untertanen. Im Schlussakkord hieße das auf das letzte Teilchen heruntergebrochen: Liebe und das Bedürfnis nach ihr. Die Leistung hat mir all das versprochen und auch gehalten. Die Ausrichtung war klar: immer leistungsfähiger werden.

Kräfte mobilisieren. Stärke demonstrieren. Kein Problem.

Der Grundstein für meinen selbst gemachten Leistungsdruck wurde in dieser Zeit gelegt und zementiert. Von da an war ich im Stress. Ich wollte durch Leistungen so viel Liebe wie möglich anhäufen, auf Vorrat, als Ausgleich, als Pfand. Ein Perpetuum mobile zur Absicherung von Liebe. Vielleicht hätte es bequemere Methoden gegeben. Ich habe diese gewählt. Leistung hat viele Vorteile und attraktive Verbündete: Erfolg, Geld und Streicheleinheiten für das Ego. Wer hat das noch zu bieten? Also, Ziel erkannt. Ich habe mich für ungeheuer pfiffig gehalten.

Ein kleiner Schlaumeier.

Klein und jung.

Klein und verzweifelt.

Ich bin dieser Illusion unheilbar in die offenen Arme gelaufen und habe sie gebeten, mich zu retten. Nach über zwanzig Jahren Leistungsanbetung und Raubbau an Körper und Geist muss ich mir eingestehen, falsch abgebogen zu sein. Liebe habe ich reichlich bekommen.

Ich?

Das leistungsstarke Kind?

Die leistungsstarke Frau?

Ich weiß es nicht. Heute habe ich eine Energiesperre in meinem System, die mein Leisten in Erwartung von Liebe verhindert. Dafür steht keine Kraft mehr zur Verfügung. Ein Überlebensmechanismus, nehme ich an. Ich darf dagegen stundenlang schreiben, ohne müde zu werden oder erschöpft zu sein. Weil die Ausrichtung eine andere ist. Von dir will ich keine Liebe. Du würdest sie mir sowieso nicht geben, für all das, was ich dir zumute. Ich werde selbsterhaltend geschont und meine Energie wird auf der Herzebene rationiert. Sobald ich in meinen alten Leistungsdruck zurückfalle, werde ich umgehend mit Schmerzen und Beschwerden bestraft. Schließlich bin ich jetzt groß, erwachsen und eigenverantwortlich. Bin ich das? Der Welpenschutz ist seit Jahren vorbei. Kurskorrektur. Da lässt meine Seele nicht mehr mit sich reden. Am Ende hat der Wille das letzte Wort.

Wort.

Auf ein Wort zur Entwicklung unseres Patchworkmodells: Der Wortstamm von Patchwork steckt in der Arbeit. Die bessere Begrifflichkeit wäre „Patchhardwork“. Denn genau das ist es: harte Arbeit. Darüber hinaus verlangt es allen Beteiligten ein hohes Maß an Kompromissbereitschaft, Empathie und Bedürfnislosigkeit ab. Die Bedürfnislosigkeit ist die größte Investition und gleichzeitig eine Gabe. Mein Bruder und ich durften das Bedürfnis nach dem sicheren Schoß der Elterneinheit loslassen, den Rundumschutz. Meine Mama musste sich von dem Bedürfnis glücklich aufwachsender Kinder und einer intakten Familie lösen. Mein Ziehpapa ist ein Sonderfall in der Bedürfnispyramide. Wo kaum ein Bedürfnis befriedigt wird, kann auch keins abgelöst werden. Er kann am wenigsten auf Befriedigung hoffen. Überhaupt sind es viele Bedürfnisse, die nun unerfüllt bleiben und die ich als Kind auch nicht selbst beleben kann. Mein Grundbedürfnis nach Harmonie und einer natürlichen Ordnung ist gestört. Mein seelisches Gleichgewicht ist instabil und mein Sinn für Gerechtigkeit verletzt. Zuspruch, Rückhalt und Ermutigung finden nicht mehr den Weg zu mir. Dringen nicht mehr zu mir durch. Das Gefühl der Zugehörigkeit und des eigenen Platzes weichen meiner Ohnmacht und Orientierungslosigkeit.

Nebel.

Austausch und Kommunikation über das innere Erleben dieser Zeit findet nicht statt. Verbindlichkeit und Geborgenheit schwirren wie leere Worthülsen umher. Beständigkeit steht zum Verkauf. Und die Verlässlichkeit winkt mir zu und sagt Adieu, meine Liebe! Viele kleine schmerzhafte Einbrüche in meinen seelischen Haushalt. Leere Regale im Kaufmannsladen. Bedürfnis-Schizophrenie. Eine Zeit der tiefen Prägung von emotionalen Mustern. Davon bleibt kein Kind auf diesem Planeten verschont. Aber müssen es gleich so viele sein? Mein Prägemechanismus kommt kaum hinterher mit dem Abspeichern von unerfüllten Bedürfnissen und Strategien für einen Ausgleich.

Es herrscht Chaos.

Das ist Psychoterror.

Kein Wunder, dass die Praxen von Therapeuten überlaufen mit Erwachsenen, die überfordert sind mit ihrem verletzten „inneren Kind“ – eine psychisch problematische und hartnäckige Instanz. Auf der Ledercouch erwartet sie die nächste harte Arbeit. Wird es auch irgendwann wieder leicht? Wann darf es einfach sein? Ist Leichtigkeit nicht vorgesehen im Fahrplan von Trennungskindern? Ständig schieben wir die Karre Mist mit uns herum. Auf welcher Schulter dürfen wir sie endlich abladen? Nun gehört nicht mehr den Bauern die Zukunft, sondern den Psychologen. Ich selbst habe ein Psychologiestudium in Betracht gezogen. Als Heiland für meine kaschierten und kompensierten Bedürfnisse. Angeblich keine seltene Motivation für diesen Studiengang. Neben den Trennungskindtraumas gibt es zahlreiche andere Psychosen und Neurosen, die nach Hilfe schreien. Aber das ist jetzt wirklich ein anderes Thema. Ich stecke meinen Kopf wieder in meinen eigenen Schlamm:

Ich war auf dem besten Weg, ein gesellschaftskonformer Mensch zu werden. Angepasst und unauffällig. Die Illusion des glücklichen Kindes wurde immer fester verankert, und mein Umfeld bekam das Abziehbild eines strahlenden Mädchens präsentiert. Keiner kam auf die Idee, dass mit mir etwas nicht stimmte.

„Sie hat das gut weggesteckt mit der Scheidung.“

„Schau sie dir an, ein ganz normales Kind.“

„Und so lebendig.“

Ich gab keinen Anlass, mich und mein Seelenleben zu hinterfragen. Auch wenn jemand nachgebohrt hätte, wäre meine Antwort verleugnend gewesen. Genau diese Verleugnung nutzen viele verletzte Kinderseelen bis ins hohe Erwachsenenalter zum inneren Selbsterhalt. Weder als Kind noch als erwachsener Mensch nehmen sie Hilfe an, wenn sie ihnen geboten wird. Weil sie um die Nichterfüllung wissen. Der Mangel durch den fehlenden leiblichen Elternteil kann nicht therapiert werden. Lediglich im Umgang mit diesem Wissen kann die Reaktion darauf verändert werden. Das bedeutet aber auch zu akzeptieren, dass bei Kindern eine Hilfestellung fast unmöglich ist. Auch Linderung oder Entlastung ist ein austherapierter Mythos.

Es braucht neue Wege. Unbetretene Pfade. Ganzheitliche Ansätze. Kollektive Heilung. Das Herumdoktern am Einzelnen bleibt nachhaltig wirkungslos. Wenn das die Lösung ist, im Erwachsenenalter zermürbende Stunden auf der Psychocouch zu verbringen, um danach wieder nur „halb“ in diese Welt zu wackeln, in der an jeder Ecke und selbst in meinem trauten Heim bei meinem trauten Partner eine Projektionsfläche für meinen Schmerz wartet, dann möchte ich bitte mein Problem zurück. So einfach ist das nicht.

Ich hätte es gerne einfach.

Eine Abkürzung. Schleichweg. Trickserei.

Zauberei.

Ich habe alles probiert, um dieses Gefühl der Trennung vom Hals zu kriegen. Da sitzt es immer noch und lacht mir schadenfroh ins Ohr. Heute back ich, morgen brau ich, übermorgen hol ich mir der Königin ihr Kind. Ich habe der Trennung Namen, Farben, Formen gegeben. Sie bleibt hocken wie ein achtzigjähriger Skatspieler in seiner Stammkneipe.

Stubenhockerin.

„Ich habe dich nicht gerufen“, sage ich.

„Trotzdem bin ich da“, antwortet sie frech.

„Du darfst dir einen neuen Freund suchen. Auf Reisen gehen. Dich woanders umschauen“, empfehle ich ihr.

„Mir gefällt es bei dir“, kontert sie. Die Trennung scheint das Einzige zu sein, was noch monogam ist.

„Ich nähre dich nicht mehr, sondern tauche in ein Meer voller Liebe und Verbundenheit. Und du bist bald nur noch ein Schrumpfkopf.“

„Das schaffst du nicht. Du bist zu schwach. Kleines Mädchen.“

„Das werden wir ja sehen.“

„Ja, das werden wir ja sehen.“

Aufschrei

Подняться наверх