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PROLOG

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Wir lügen einander an, weil sich niemand für die Wahrheit interessiert. Weil keiner sie erträgt. Für mich als Trennungskind war die Lüge legitimiert. Warum? Ich durfte (not)lügen, um ein höheres Gut als die Wahrheit zu schützen: mein eigenes Kindeswohl. Das Durchschwindeln war mein Diener, um meinen Schutz zu wahren. Sonst tat das keiner. Vaterseelenallein hatte ich keine andere Wahl, als zu lügen. Die Wahrheit zu leugnen schien mir die einzige Option zu sein. Anpassung, Taktgefühl, Verdrängung und Lügen – willkommen im Leben eines Trennungskindes.

Ich habe geglaubt, dass die Lüge für mein Wohlbefinden sorgt. Ich habe geglaubt, dass der eheliche Streit meiner Eltern schlimmer für mich ist als ihre Trennung. Ich habe geglaubt, dass es mir erst dann gut geht, wenn es meinen Eltern gut geht. Ich habe fest geglaubt, dass ich nicht unter der Trennung meiner Eltern leide und auch „halb“ vollständig bin.

Ich habe aufgehört zu glauben.

Ich habe aufgehört, die Lüge zu füttern. Ich habe angefangen, die Wahrheit zu sagen. Kein Hexenwerk, sich der Wahrheit zu verpflichten. Nicht hier. Das Alphabet hütet die Beziehung zu meiner inneren Wahrheit. Meine Wahrheit. Ich behaupte, ich kann nur lügen, wenn ich die Wahrheit kenne. Aber was ist die Wahrheit? Ein Eid auf meine gegenwärtige Wahrnehmung? Meine Realität spiegelt meine Wahrheit permanent. Sind unterschiedliche Wahrnehmungen unterschiedliche Wahrheiten? Erlebt jeder Mensch eine andere Realität, eine andere Wahrheit? Dann gäbe es fast acht Milliarden Wahrheiten. Entsteht aus all diesen Wahrheiten Wirklichkeit?

Kann man Wahrheit konstruieren?

Ja. Ich kann.

Im persönlichen Blickwinkel ist sie immer subjektiv, und sie verändert sich, ist dynamisch. Das nennt man auch Leben.

In dieser Geschichte ist meine persönliche Betroffenheit die erzählende Instanz – das Produkt meiner Abstammung und Erfahrungen. Nicht mehr. Nicht weniger. Wahrheitsliebend, aber nicht auf Gedeih und Verderb. Andere Wahrheitsliebende zu finden treibt mich an den Schreibtisch.

Flagge zeigen!

Das spricht sich so leicht, revolutionär, dahin. Wahrhaftig sein! Das wird in unserer Gesellschaft nur zögerlich angestrebt und gehört nicht zu den lobenswerten Tugenden – vielmehr ist es nicht gewollt. Ehrlichkeit, wenn sie Kritik am System übt, stößt auf Widerstand. Es tendiert zum Wahnsinn, am hochgelobten Patchworkkonzept zu rütteln. Und nicht nur daran.

Federführer ist mein inneres Trennungskind. Sein Auftrag ist es, meine Wahrheit auszusprechen. Alle Anklagen und Bewertungen entspringen meiner Seelenwut und hatten zuzeiten eine Berechtigung, auch wenn sie inzwischen meinem persönlichen Entwicklungstand widersprechen. In keinem Fall aber ist meine Wahrheit eine Anklageschrift, die pauschal an Trennungseltern adressiert ist. Manchmal ist eine Trennung unvermeidlich. Kaum jemand muss noch in schmerzhaften Beziehungen ausharren. Wir haben fast alle das Privileg, ein eigenständiges Leben führen zu dürfen. Ich bin nicht in der Position, Trennungseltern zu verurteilen, ihre Gründe zu verharmlosen oder anzuzweifeln. Manche Trennungen sind notwendig, und ich gehe davon aus, dass beide sich bis dahin bemüht haben. Bis zum Ende ihres Lateins. Aber oft sind die Motive nach meinem Empfinden oberflächlich, lapidar. Wird die Entscheidung voreilig, kurzsichtig getroffen. Wirken die potenziellen neuen Glücksaussichten verblendend, die Konsequenzen geringfügig. Zu machbar.

Meine Wahrheit liegt irgendwo dazwischen.

Wo liegt deine?

Aufschrei

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