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EVERYBODYS DARLING

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Jeder Tag ist ein Kampf für mich. In mir tobt ein Krieg. Mein Widerstand richtet sich gegen mich selbst. Kraftlos schleppe ich mich durch mein Leben – wie blutlos. Ich kann nicht mehr.

Mein Vater ist nicht da. Seit Jahren fühle ich mich allein. Das Loch seiner Abwesenheit wird größer und tiefer. Ich gerate immer mehr ins Unendliche. Dort ist es rabenschwarz und keiner macht das Licht an.

Ich lasse los, gebe auf. Gebe die Hoffnung auf, jemals ein ganzer Mensch zu sein. Dann hört auch endlich das Leiden auf. Ein langer Schlaf scheint mir eine willkommene Lösung. Erlösung.

Meinetwegen.

Ich stimme zu.

Endlich Ruhe und Frieden.

Ich war ein strahlendes und lebenslustiges Kind: Susanne. Ich nenne mich Susanne, um eine Elle Abstand zwischen uns zu legen. Um mich selbst betrachten zu können. Erfüllt von der naiven Idee, die Welt sei ein vertrauensvoller Ort, eine sichere Bärenhöhle. Ich war frei und unbedarft. Die ursprüngliche Reinheit der Natur. Ein Quell an Kreativität und verrückten Ideen. Die Welt wartete darauf, von mir erobert zu werden. Nichts leichter als das, dachte ich. Schwerelos. Jetzt kann ich mich kaum noch an diesen seelenvollen Zustand erinnern. Es ist mehr ein Gespür.

Heute bin ich die Art Mensch, die die Einsamkeit der Begegnung mit Menschen vorzieht. Schreibend, statt schreiend, sitze ich auf einem weich gepolsterten Stuhl, an einem großen massiven Holztisch, vor einem traumhaft grünen Panorama auf meiner großen Südterrasse. Die Grillen zirpen und die Sonnenstrahlen streicheln meine Wangen.

Frieden.

Meine gewählte Einsamkeit habe ich mir nett eingerichtet, mit allen erdenklichen Bequemlichkeiten. Es gibt nur wenig gute Gründe, diese heilsame und schützende Obhut zu verlassen. Hier bin ich sicher und von mir selbst wohlbehütet. Draußen pfeift der Wind der Zurückweisung. Hinter jeder Ecke könnte mir die Verletzung auflauern, mich angreifen: Menschen sind nicht vertrauenswürdig. Ich bleibe daheim. Eine Eremitin.

Meine Freunde würden das bestreiten. Das dürfen sie. Aber ich weiß es besser. Nur wenige in meinem Umfeld erkennen hinter meinem herzlich extrovertierten Wesen die große Sehnsucht nach Ruhe. Versteh mich nicht falsch, ich bin kein Menschenfeind. Im Gegenteil, zwischenmenschlicher Austausch ist für mich so inspirierend wie notwendig. Ich bin ein Gemeinschaftstier. Aber ich brauche nach jedem Kontakt mit Menschen den elementaren Rückzug auf meine weiche Couch, wo ich eingehüllt in meine schützende Webpelzdecke und versteckt zwischen meinen samtigen Sofakissen verschwinde. Hier tanke ich Kraft. Die Kraft, die ich für den nächsten Umgang mit anderen brauche, die ich verschwenderisch verbrauche, weil ich gefallen, geliebt und auf keinen Fall abgelehnt werden will.

Harte Arbeit.

Mich aus dieser selbstverstellenden Konditionierung zu befreien ist Schwerstarbeit. Nur zögerlich gelingt es mir mit jedem Tag mehr, mich und meine Verletzlichkeit offener zu zeigen. Manchmal fühlt es sich nicht so schwer an, wie ich geglaubt habe. Auf jeden Fall lohnt es sich, da bin ich mir sicher. Ich habe genug Energie verpulvert für Maskeraden. Ich bleibe dran.

Viele Fakten sprechen dafür, dass ich nicht dieses entartete Wesen bin, für das ich mich halte. Glänzende Pokale, schulische Auszeichnungen und gebündelte Urkunden für sportliche Höchstleistungen könnten vermuten lassen, dass ich gut gelungen bin. Meine erfüllende Partnerschaft gibt mir Anlass zu der Annahme, glücklich zu sein. Meine berufliche Bilanz mit eigenem Unternehmen könnte den Anschein erwecken, ein erfolgreiches Leben zu führen. Ein beachtlicher Freundeskreis, eine innige Geschwisterliebe und ein liebevolles Verhältnis zu meiner Mutter könnten mich als integres und zufriedenes Mitglied unserer Gesellschaft kennzeichnen. Die starke Zuneigung zu meinem Stiefpapa lässt selbst den stärksten Kritiker verstummen. Wieso sollte mit mir irgendetwas nicht stimmen? Erfolg auf der ganzen Linie, alles erreicht – oder wie es mir gelang, mit vorgetäuschter Sonnenscheinmentalität „Everybodys Darling“ zu sein. Alles in bester Ordnung, nicht nur im grünen Bereich, vorbildlich.

Patchwork funktioniert also doch!

Ja, Patchwork kann auch funktionieren. Gemeinsam ist uns vieles gelungen. Glückliche Momente waren nicht selten, überhaupt habe ich viel Glück gehabt in meinem Leben und auch Erfüllung gefunden. Ich verdanke dem Umstand der Trennung meiner Eltern viele wichtige Erfahrungen und eine Steilkurve in der persönlichen Entwicklung. Offensichtlich wäre das in einer „ganzen“ Kindheit nicht möglich gewesen für mich. Aber noch schwebt der Schleier des Trennungsbewusstseins wie ein bedrohlicher Schatten über meinem Leben. Oder mehr denn je. Das innere Loch ist umso größer geworden, je mehr ich selbst geglaubt habe, ich wäre ein charismatisch-starker Berg. Paradox. Aber diese Welt ist per se voller Widersprüche. Die Wahrheit ist: Ich ertrinke an meiner Lebenslüge. Der Selbstverrat drückt mich auf allen Ebenen gefährlich nah an den Rand des Lochs. Meine Wunden sind ausgeleckt, sie glotzen mich erwartungsvoll an und fordern mich zum Handeln auf. Fordern mein Geständnis.

Die Maske fällt. Ich bin zutiefst erschrocken über das, was ich nicht sehen wollte, verdrängt und abgelehnt habe. Traurigkeit und Verzweiflung kriechen aus ihrem Versteck und lechzen nach meiner Aufmerksamkeit. Aus jeder Pore strömt der Rauch meiner emotionalen Verbrennungen. In jeder Zelle hockt das Ohnmachtsgefühl. Mein Rücken schmerzt unerträglich, Paniken attackieren mich scharf und mein überspanntes Nervensystem kracht in sich zusammen.

Ausdruck meiner zerfetzten Seele.

Den Löwenanteil meiner Leuchtkraft hat mein Vater mit sich genommen, als sich meine Eltern trennten. Da war ich sieben Jahre alt. Er hat mich einfach alleingelassen, zurückgelassen in einer Welt, die sich von der grausamen Seite zeigt, sobald die beschützenden Arme des Vaters fehlen. Bis dahin war ich seine Prinzessin gewesen. Danach spielte ich viel geringere Glanzrollen. Jetzt bin ich eine einsame Frau. Halb entwurzelt. Ich will nicht mehr halb sein. Lieber bin ich gar nichts. Lieber bin ich tot.

Mit der Zeit habe ich völlig vergessen, wie sehr ich dieses Leben liebe. Seit Jahren versuche ich, meine Strahlkraft zurückzugewinnen. Die Authentische. Der kleine Schatz, der ich einmal war. Das Licht dringt kaum noch in mein Herz, noch weniger Helles steigt daraus auf. Es ist dunkel, bitter und kalt. Ich bin in dem Loch gefangen und finde keinen Ausgang. In meiner Verlassenheit irre ich umher und versuche, die zerfledderten Teile meines Selbst wieder zusammenzuflicken. Es gibt natürlich auch lichtvolle Momente, in denen ich fest glaube, das Leid überwunden zu haben. An vitaleren Tagen fühle ich mich frei und unbeschwert – das nährt schon all die Jahre meine Hoffnung, irgendwann vollständig ganz und heil zu sein – und lege mein Urvertrauen in die Hände der seelestreichelnden Augenblicke. Ich werde nicht müde, sie auszukosten. Dann bricht das Dunkel wieder über mich herein, ausgelöst von einem Bild, einer Situation oder einem einzigen Wort. Dann bin ich wieder das kleine verletzte Kind. Loch.

Ich hasse es.

Die Identifikation mit meinem Trennungskind-Dasein ist so stark, dass ich mich selbst zerstöre. Nach vier Jahrzehnten lasse ich immer noch zu, dass sie mein Leben beherrscht. Egoistisch wälze ich mich in meinem Opfer-Sein, leide qualvoll, still und heimlich. Keiner soll wissen, wie elend es mir geht. Mitleid ist das Letzte, was ich jetzt noch ertragen kann. Es geht mir doch blendend. Schau mich doch an: täuschend echt. Bis ins kleinste Detail ausgefeilt. Tschakka.

Ja, ich darf behaupten, ich bin beliebt. Die Ursache ist mir schleierhaft. Das Ungleichgewicht zwischen meinem ausgeprägten Gemeinschaftssinn und dem Wunsch, mich der Herde auch schnellstmöglich wieder zu entziehen, macht mich nicht kategorisierbar für andere. Unberechenbar springe ich zwischen Exzentrik und Labilität hin und her. Sprühende Begeisterung. Hochsensibler Rückzug. Strukturlos und nicht zu greifen. Verwirrend für andere und für mich. Um mein vermeintliches Selbstbewusstsein und meine überschwängliche Lebensfreude beneidet, ziehe ich Menschen magnetisch an, die mich oft mit ihrer Liebe überschütten. Und genau das war ja auch mein Ziel: geliebt zu werden. Ich bin an meinem Ziel angekommen. Ich werde intensiv geliebt und gemocht. Leider bedeutet es mir zu wenig. Ich habe es erreicht, aber es erreicht mich nicht. Ich will nur diese eine Liebe – die ich nicht habe.

Meine fröhliche Fassade beginnt zu bröckeln, mein Schauspiel kotzt mich selber an. Ich kann es nicht mehr ertragen. Wenn ich in den Spiegel schaue, grüßt mich ein fremdes Gesicht. Die Maske. Wer bist du? Ich weiß nicht, welches Bild ich mehr hasse: das aufgesetzte Lächeln oder die leeren, verheulten Augen. Letzteres drängt immer stärker in den Vordergrund und lässt sich nicht mehr mit einem Fingerschnippen wegschalten. Es will sich zeigen. Die Trauer über meine gespaltene Kindheit nimmt mich immer mehr in ihren Besitz und ich kann ihr nichts entgegensetzen. Ich bin von Traurigkeit durchdrungen, auch wenn ich fleißig weiter darüber hinweglächle.

Der Ausbruch meiner unterdrückten Emotionen ist nicht aufzuhalten. Der Kessel brodelt. Die Lava rollt schon in meinem Innern und zerrt mich mit sich in Richtung dunkles Loch. Mein Kopf fühlt sich an wie ein qualmendes Epizentrum. Die Eruption steht kurz bevor. Ich habe Angst, mitgerissen zu werden. Ich habe Angst, unter meinen Gefühlen lebendig begraben zu werden. Nirgendwo Halt zu finden. Zu verbrennen. Im Schwarz zu verschwinden. Alle Welt spricht vom Loslassen, als wäre das ein Minimalausflug. Aber ich kann nicht loslassen. Ich weiß nicht, wo ich lande, wenn ich mich einfach ergebe.

Es ist zu ungewiss.

Viel zu riskant.

Ich habe Angst.

Aufschrei

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