Читать книгу Aufschrei - Zela Sol - Страница 8

LIEBE STIEFMUTTER,

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erzähl mir von dir. Was beherrscht und bewegt dich? Sei ganz offen. Lass nichts aus. Ich bin nicht schockiert über die geballte Wut in deinem Bauch. Ich empfinde deine angriffslustigen Emotionen nicht als fremdartig. Ich verstehe dich. Ich interessiere mich für dich und deine Geschichte.

Ich kenne deine Verbitterung und dein Leid. Wie lange geht das jetzt schon? Seit wann hältst du durch? Erträgst dieses ganze Theater, in dem du immer nur das bedauernswerte fünfte Rad am Wagen bist. Die Schuldige. Ohne deren Anwesenheit alles besser wäre. Die Kinder müssten nicht mehr um ihre Vormachtstellung kämpfen. Dein Mann wäre nicht mehr in Loyalitätskonflikte verstrickt, müsste sich nicht mehr zerteilen. Und du, du müsstest nicht mehr die liebevoll aufopfernde Zweitmutter spielen, die du nicht bist. Nicht in diesem Familienkonzept.

Du wärst es so gerne: Mutter dieser Kinder. Du möchtest es von ganzem Herzen sein. Doch du kannst es nicht. Es sind nicht deine Kinder. Du liebst sie nicht. Nicht so. Vielleicht ein bisschen. Anders. Du magst sie ein wenig. Ein wenig mehr? Gut, lass uns verhandeln. Ab und zu bist du gerne mit ihnen zusammen, aber dann lehnst du sie wieder innerlich ab. Ohne sie wäre dein Leben leichter. Manchmal hasst du sie auch. Das ist in Ordnung. Sie sind dir im Weg, da können sie noch so niedlich sein. Sie kommen nicht aus deinem Bauch. In ihren Adern fließt das Blut einer anderen Frau.

Es zerreißt dich innerlich.

Dein Mann bekommt davon natürlich wenig mit, es wäre das Aus für eure Beziehung. So spielst du fleißig deine Rolle, bist verständnisvoll, bringst dich ganz ein. Gibst mehr, als du zu geben imstande bist. Du gibst dich auf. Erkennst dich selbst nicht mehr. Was ist aus dir geworden? Du hättest nie geglaubt, dass es böse Stiefmütter wirklich gibt. Ein Märchen. Ein Märchen?

Deine Realität.

Deine Stiefmütterlichkeit beschränkt sich auf Popos abwischen, Frühstücksbrote schmieren, Kinderzimmer aufräumen und den Hol- und Bringservice. Dafür bist du gerade gut genug. Das kann man dir als nicht leibliche Mutter zutrauen. Du bist die Haushaltsmanagerin. Du bist die Putzfrau ohne Weisungsbefugnis. Für alles andere fehlt dir die Nabelschnur. Ein Erziehungsmandat steht dir nicht zu. Deine Einmischung in das kindliche Benehmen ist unerwünscht. Deine Anregungen zur Entwicklung des Stiefkindes bleiben ungehört. Dein Mann will sein Kind vor deinen Erziehungsmaßnahmen beschützen. Du bist so streng, so laut, so ungehalten. Die Kinder können doch nichts dafür. Richtig, aber der Spruch quillt dir trotzdem aus den Ohren. Deine Stiefkinder mutieren zu wahren Kotzbrocken – sie können nicht anders, weil sie sich selber schützen und verteidigen müssen.

Sie tun dir leid.

Du tust dir aber auch leid.

„Du verstehst das nicht“, wiederholt dein Partner als Endlosschleife. Selbstverständlich verstehst du es nicht. Wie soll man diese unnatürliche Symbiose auch verstehen. Er versteht es auch nicht. Die Kinder verstehen es nicht. Keiner versteht diesen familiären Kokolores, dieses zerfetzte Durcheinander. Jeder kämpft mit seiner eigenen emotionalen Verwirrung. Jeder in dieser Fetzenfamilie hält sein Leid für das Wichtigste. Du auch. Du weißt es, aber du kommst auch nicht darüber hinaus. Schließlich hast du eigene Bedürfnisse.

Wo sind die eigentlich geblieben? Kannst du dich selbst noch spüren? Wer warst du, bevor du dich entschieden hast, Stiefmutter zu sein? Was ist aus deinem Traum von der eigenen kleinen Familie geworden? Was ist mit deinem Anrecht auf persönliches Glück? Was genau hat das Universum falsch verstanden? Du hast dich bis über beide Ohren verknallt, in diesen Mann – den Kindsvater. Den Mann mit Anhängsel. Ihr liebt euch. Natürlich liebt ihr euch. Die Liebe zu deinem Partner ist so stark, dass du, ohne groß darüber nachzudenken, in die Rolle der Bonusmutter geschlüpft bist.

Bonusmutter – eine unerträgliche Begrifflichkeit, findest du nicht auch? Sie beinhaltet, dass du für deine Rolle als Stiefmutter eine Treueprämie, einen Zuschuss für besondere Leistungen erhältst. Ein Profitgeschäft. Hast du deinen Zugewinn dieser zusammengewürfelten Gemeinschaft schon erkannt? Wann und wie wird dein Bonus ausgezahlt? Gibt es eine Sondervergütung für Patchworkgeplagte? Nichts dergleichen. Ein kleines Dankeschön und eine versöhnliche Geste wären dir ja auch schon Bonus genug. Ein einziger Mensch, der deine Bemühungen sieht und deine Haltung wertschätzt, der dich tröstlich und kraftvoll in den Arm nimmt und dir liebevoll ins Ohr flüstert: Ich verstehe dich, du bist nicht alleine damit, du schaffst das, du machst das prima, du gibst dein Bestes, ich sehe es, ich sehe dich, wäre der größte Bonus für dich.

Stattdessen weht dir aus dem Patchworknetzwerk ein kühler Wind entgegen. Keine oder wenige Umarmungen und noch weniger liebevolle Worte. Du fröstelst. Du wirst stiller und ziehst dich immer mehr zurück. Dein nächstes Wort könnte schon wieder als Schikane gedeutet werden. Alle Augen sind auf dich gerichtet und jede falsche Geste wird unverzüglich abgestraft. In den Augen der anderen bist du hartherzig, ihr Hirn ist auf „Böse Stiefmutter“ programmiert.

Die Messlatte liegt zu hoch.

Du kannst ihnen nicht gerecht werden, sie wollen dich so: böse. Eine gute Stiefmutter ist keine Option bei dieser toxischen Haltung. Sei dir dessen bewusst, du kannst es nicht gut machen. Dein Umfeld hat anders entschieden. Nach dem Vorbild à la Gebrüder Grimm bist du ein weiblicher Barbar. Böse, böser, am bösesten. Dieser Prototyp hat sich seit den Gute-Nacht-Märchen in den Köpfen festgesetzt. Textpassagen wie „Die Stiefmutter schlägt uns alle Tage. Und wenn wir zu ihr kommen, stößt sie uns mit dem Fuß fort“ aus dem Märchen Brüderchen und Schwesterchen oder „Was macht der garstige Unnütz in den Stuben, sagte die Stiefmutter, fort mit ihr in die Küche“ aus dem Märchen „Aschenputtel“ infizierten den Geist der Patchworkzeit.

Dreizehn skrupellose Stiefmütter kommen in den Hausmärchen der Grimms vor. Diese abschätzige Rolle scheint immer noch Anklang und Begeisterung zu finden. Die Rolle, die du dir gegenwärtig ausgesucht hast. Nur die Hexe ist noch schlimmer. Wobei diese wenigstens magische Fähigkeiten hat. Was ist deine Fähigkeit? Deine Qualität? Aushalten? Runterschlucken? Zusammenflicken? Wut speichern? Ablehnung ertragen?

Wie lange kämpfst du noch für etwas, das du nie wolltest? Wann hörst du endlich auf, die Anweisungen seiner Ex zu erdulden und deinem Mann dabei zuzusehen, wie er vor ihr zu Kreuze kriecht? Wie lange erträgst du diese Demütigungen noch? Wie hoch ist dein emotionaler Kredit? Hast du noch Kraft für dieses schlechte Schauspiel?

Du entscheidest.

Magst du dich weiterhin selbst stiefmütterlich behandeln und behandeln lassen oder beginnst du, fürsorglich und liebevoll mit dir selbst umzugehen? Opferhaltung oder Selbstliebe. Willst du der Hass oder das Herz der Familie sein? Wie geht Familie? Wie geht Patchworkfamilie? Was willst du? Wer bist du?

Ich erzähle dir von mir und du mir von dir. Du darfst dich an meiner Schulter ausweinen und wir halten und tragen uns gegenseitig im Herzen. Unbekannt und doch verbunden. Wenn wir gemeinsam gehen, wird der Weg leichter. Komm in meine Arme und lass dir liebevoll ins Ohr flüstern: Ich verstehe dich. Du bist nicht alleine damit. Du schaffst das. Du machst das prima. Du gibst dein Bestes. Ich sehe es. Ich sehe dich.

Du tapferes Mädchen.

Du beeindruckende Frau.

Du wählst: das alte Stigma der bösen Stiefmutter oder einen neuen Weg. Du entscheidest, jeden Tag.

Aufschrei

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