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PAPA

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Ein Mordskerl. Ein Typ mit Charakter. Unwiderstehlich. Unbestreitbar die erste große Liebe meines Lebens. Wie meine Mama bin ich diesem Weiberhelden gnadenlos verfallen. Ich behaupte, alle Vaginas unserer Plattenbausiedlung waren scharf auf ihn. Papa, ein Womanizer. Ein Papagallo. Charmant und gewitzt. Dazu ein Freigeist und intellektueller Tausendsassa. Beeindruckend vielseitig.

Liebling der Frauen.

Mein Liebling.

Aber er hatte noch mehr zu bieten: Herz und Seele. Eine tiefe Seele, auch verletzt. Optisch ein Kraftstrotz, aber im Innern sehr empfindsam. So lieben wir Frauen die Männer. So wollen Töchter ihre Väter. Das Idealbild.

Bilderbuchpapa.

In seinen starken Armen war die Welt total in Ordnung. Er war mein Zufluchtsort, mein sicheres Zuhause. Bombensicher – sieben Jahre wohlbehütet und geschützt. Sieben Jahre Glitzerwelt. Danke.

Mein Vater hatte seine Prinzipien, und da ließ er keine Luft ran. Ein Revoluzzer, mit eigener Meinung und lauter Stimme. Das habe ich heimlich bewundert. Nachgeahmt. Ich liebte ihn heiß und innig, hatte aber auch Respekt vor ihm. Gar nicht so selten gab es eine Backpfeife für denjenigen, der danach bettelte. Ich fand das großartig. Mein Papa – ein Handlungstyp. Das machte Eindruck.

Anfangs. Später fürchtete ich mich davor.

„Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust …“ So betörend vital und robust mein Vater einerseits war, mit den Unberechenbarkeiten des Gefühlslebens kam er nicht so gut klar. Sein hohes Maß an Freiheitsliebe machte ihn unstet und unzuverlässig. Ein ausgefülltes Leben als Familienvater war nicht sein vorrangiges Ziel. Vergnügen und Abwechslung standen stattdessen auf seinem Tagesplan.

Augenscheinlich.

Als Tochter warf ich einen zweiten und dritten Blick. Tief in seine Seele. Sein warmes Herz. Ich spürte seine Liebe und direkt daneben seinen Schmerz. Nach außen tarnte er seine Gefühle unter einem charmanten Quatschkopf. Da liebte ich gleich noch mehr, diesen Narren und seine Verletzlichkeit. Egal in welcher Beziehung, dieser Mann konnte einem nicht gleichgültig sein. Seine Gegenwart war lebendig, er hatte eine einnehmende Präsenz und eine auffordernde Energie. Eine Dunkelheit dahinter konnte man nur schwer erahnen. Ich schon. Kräftig mitfühlend suchte ich nach einem Verständnis für den düsteren Schatten auf seiner Seele. Doch wie weit erlaube ich mir Anteilnahme? Andere verstehen, verändert das etwa den eigenen Schmerz?

Ablenkung von der eigenen Seelennot? Ist es Liebe?

Es ist, was es ist.

Vater verdiente sein Geld als Maurer. Nach seiner beruflichen Tätigkeit ging er zur Feierabendbrigade, oder wie man liebevoll sagte „zum Pfusch“. Staatlich geförderte Schwarzarbeit. Den zumeist höheren Lohn gab es bar auf die Hand. Der wurde oftmals unmittelbar in geistige Flüssigkeit umgesetzt. Meistens schon vor Ort. Mit zwei Promille eine Elektroleitung verlegen war keine Seltenheit. „Lass die Leute ein bisschen was dazuverdienen.“ Honecker, der Menschenkenner. Gefällt mir.

Der Nachteil der Feierabendbrigaden war eine regelmäßig spätnächtliche Heimkehr des Häuptlings in sein familiäres Nest. Meist schwankenden Fußes. Ich mochte den Geruch von Kaugummi aus dem Rachen meines Vaters. Den Pfefferminzlikör („Pfeffi“) hatte er pur getrunken. Überhaupt war er in diesem Zustand viel lustiger als sonst. Wenn ich denn schon noch einmal wach geworden war, veranstaltete er allen möglichen spaßigen Unsinn mit mir.

Für Blödsinn war ich immer zu haben.

Er auch.

Das besorgte Gesicht meiner Mama daneben nahm ich dabei kaum war. Ich erinnere mich an eine Begebenheit, wo sich der Spaß allmählich in Schrecken wandelte. Mein Vater saß trunken in der Küche und pfiff mich barsch heran. Im Schlafanzug stand ich vor ihm. Müde. Warum wächst du denn nicht schneller? Er goss mir die Worte und das Wasser aus der vollen Zimmergießkanne über den Kopf. Ich war völlig durchnässt und weinte. Ich verstand nicht.

Ich war enttäuscht.

Eingeschüchtert.

Er lachte lauthals. Mir war das Lachen vergangen.

Immer öfter ging er nach der Arbeit „auf ein Bier mit Freunden“. Meine Mutter erzählte mir später, dass er nach dem Schaffen nach Hause kam, ein ausgedehntes Bad nahm, sich in frische Sachen kleidete, die sie ihm zurechtgelegt hatte, um sich dann mit seiner Kumpelei zu verabreden. Warum er das tat, weiß nur er.

Gerne erinnere ich mich an die Zeiten, in denen ich kränklich war. Es war meistens ein Papajob, mich in diesen Tagen des Unwohlseins zu betreuen. Dann gab es für das kranke Kind eine leckere Nudelsuppe mit Ei und viele Streicheleinheiten. Diese Stunden habe ich sehr genossen.

Mit Papa allein.

Allein in Papas starken Armen.

Glückskind.

Die Suche nach genau diesem Schutz und der vertrauten Zweisamkeit währte viele Jahre meines Erwachsenen-Daseins. Mit Schmerzen und Krankheit verfolgte mich sein Verlust. Auch heute noch gibt es Symptomzeiten, in denen ich mir nichts sehnlicher wünsche als den Beistand und die Fürsorge meines Vaters. Obwohl mir seit über dreißig Jahren bewusst ist, dass mir diese Seelsorge in Augenblicken des Leidens verwehrt bleibt, wünsche ich sie mir umso energischer. Ich kann nicht ablassen von dem Bedürfnis, von Papa getröstet zu werden, und nähre es weiterhin durch viele krankhafte Zustände. Doch er kommt nicht. Und ich versinke in meinem eigenen Mitleid. In meinen schlimmsten Phasen fühle ich mich grauenvoll verlassen. Allein gelassen. Mein Herz will sich nicht damit abfinden.

Kind der Sonne.

Im Schattendasein.

Die Vater-Tochter-Beziehung: Einzigartig soll sie sein. Prägend für immer. Papa – die Verkörperung meines Männerbildes. Wie stark sich diese besondere Verbindung auf mein Leben auswirken sollte, zeigt die Jahrzehntezeit meines ständigen Suchens und Erfahrens. Versuch und Irrtum. Tiefes Graben in unzähligen verhaltenspsychologischen Wahrscheinlichkeiten – (fundamentaler Inhalt dieses Buches). Eine spannende und herzzerreißende Reise in meine eigenen seelischen Abgründe. Ängste. In den vielen Jahren meines Vaterseelenalleinseins habe ich jeden Aspekt dieser eingewurzelten Bindung analysiert, zerpflückt und neu zusammengesetzt. Ich war Forscherin, Wissenschaftlerin, Biologin und Therapeutin. Die Vater-Tochter-Symbiose, ihr frühzeitiges Zerreißen und ihre herrische Fuchtel über meinem Lebensweg habe ich akribisch zu meinem Lebensinhalt gemacht.

Nicht freiwillig.

Aus Not habe ich Tausende Seiten Literatur verschlungen, in der Hoffnung auf Beziehungserleuchtung. Meinungen von Psychologen und Ansätze von Familienexperten verglichen. Streckenweise empfand ich mich als Expertin für Genetik und Anatomie. Erschwerend hat die Philosophie penetrant ihren Senf dazugegeben. Die Gruppe der getrennten Elternteile war zu keiner Zeit um Ausreden verlegen, zumal völlig überfordert mit diesem Thema. Nirgends fand ich Antworten. Wo ich auch suchte, traf ich auf schwammige Theorien von Unbeteiligten, die sich jahrelang auf der Schulbank und in Hörsälen in dieses Thema vertieft, es aber nie selbst erlebt hatten. Verallgemeinerungen verschiedenster Couleur. Meine Wahrheit habe ich hinter all den Seminaren, Selbstfindungstrips und Familienaufstellungen nur an einem einzigen Platz gefunden. Dort ist sie immer gewesen. Ich habe noch eine Chance. Eine letzte Chance.

Die Stimme des Herzens.

Es ist ein Flüstern, dass zu mir durchdringt. Ein leises Sprechen. Eine versöhnliche Energie. Man hört es kaum. Ich mag es auch nicht hören. Noch nicht. Jetzt will ich laut und persönlich sein, schreien, poltern und meiner Wut Ausdruck verleihen. Also schreibe ich. Keine pikante Plauderei aus dem Patchworknähkästchen.

Ein Aufschrei.

Eine Beschwerde.

Ein wahres Wort.

Auch ich bin gespannt, was auf mich wartet, wenn der Zorn verpufft und das Feuer ausgespuckt ist.

Aufschrei

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