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DER ZIEHPAPA

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Die Einführung meines Stiefpapas in unsere Familie war chaotisch. In meiner Erinnerung kann ich nur auf einzelne Zeitfetzen zurückgreifen. Meine Eltern waren schon geschieden, und durch die partnerschaftliche Neuausrichtung entstand eine ungewöhnliche Wohnsituation. Vier Erwachsene und zwei Kinder tummelten sich auf zweiundsechzig Quadratmetern. Eine Konstellation mit Kommunencharakter. Mein Vater lebte zeitweise gemeinsam mit seiner neuen Madame in unserem Haushalt und mein Ziehpapa Michael wurde dazuquartiert. Geradezu brillant koordiniert.

Eine illustre Runde.

Eltern im Doppelpack.

Die Stimmung untereinander war nach meinem Empfinden offen und liebevoll. Das erleichterte mir die Integration der neuen Gesichter in meine Welt.

Mit gerade einmal einundzwanzig Jahren hatte Michael den Mut und die Bereitschaft, sich für eine Partnerin – sieben Jahre älter und mit zwei kleinen Kindern – zu entscheiden. Das ist beachtlich. Ob er sich der Herausforderung dieser Verbindung mit Anhängseln bewusst war? Ich glaube nicht. Für ihn war das auch nebensächlich, primär liebte er meine Mama. Und Liebe besiegt bekanntlich alles.

Wirklich alles?

Ein Platz im Familienkonstrukt war leer geworden und Michael hat ihn neu besetzt. So einfach ist das? Ist das so einfach? Er hat ihn nach seinen Möglichkeiten ausgefüllt und tut es heute noch. Nicht auf die Art, wie es ein leiblicher Vater für seine Kinder tut. Ein Papa zum Ankuscheln und Festhalten? Nein. Ein Schmusekater war er nicht. Wir begegneten uns immer aus einer gewissen Distanz heraus. Doch er bot uns Kindern praktische Unterstützung bei allen Problemen, Zuverlässigkeit in jeder freien Sekunde. Seine Toleranz gegenüber meinen Eigenarten zeichnete ihn aus. Im Gegensatz zu meinem Vater, der bald weit wegzog, war Michael für mich greifbar. Anwesend.

Präsent.

Mein Vater verlor mit der Zeit immer mehr an Gestalt in meinem Erleben, und doch ähnelten sich beide Männer auf verblüffende Weise. Sie verfügten über einen lebenspraktischen Sarkasmus, Geist und Prinzipien. Intelligenz und Belesenheit zählten zu ihren Eigenschaften. Ihr Zugang zum Leben war eher verstandesbetont als aus dem Bauch heraus. Auch in Erziehungsfragen waren sie sich einig: liebevolle Strenge gepaart mit ausgefeilten Argumentationsketten. Prinzipientreu und immer auf die Erweiterung ihres Horizontes bedacht, wurde ich von beiden gefordert und gefördert. Gehorsam wurde mit Respekt belohnt. Das Spiel hatte ich schnell verstanden.

Michael war im Umgang mit uns Kindern oft bis an die Grenzen verständnisvoll und sehr ausdauernd. Ein Abschluss „Wundervoller Ersatzpapa mit Auszeichnung“ war nie sein Motiv. Er ist viele Kompromisse eingegangen, aber verbogen hat er sich nie. Heute weiß ich: Michael hat seine Sache so gut gemacht, wie er konnte. Er hat uns all das gegeben, was ihm möglich war – und manchmal noch mehr. Seine „Leistungen“ verdienen Respekt und Dankbarkeit. Merci. Gracias. Kiitos. Ich verbeuge mich.

Teilweise darf ich von Spitzenleistungen sprechen – spitze Leistungen, in die all deine Energie fließt, während du nichts zurückbekommst. Stell dir den Schauplatz vor: Zwei aufsässige, rotznäsige, verletzte, aber willensstarke Kinder, die in dir ein Ventil finden, um all ihre Wut und Enttäuschung abzuladen, dich bis an deine Grenzen malträtieren. Du bist ein permanenter Blitzableiter. Arsch vom Dienst. Ein Parasit.

Kannst du dir das bitte für mich vorstellen. Tust du das, bitte? Dir vorstellen, wie sich das für einen Menschen anfühlen muss. Hast du es? Bist du drin in diesem Gefühl? Traust du dich, es zu benennen? Wenn es einen Namen bekommt, wird es noch schmerzhafter.

Und jetzt schwenke mit deiner Aufmerksamkeit zu meiner Mama. Was spürt sie, wenn der Mann, den sie liebt und bei dem sie ihr neues Heil gefunden hat, von ihren Kindern massiv abgelehnt wird? Was fühlt sie?

Was fühlt sie?

Und was passiert im Innern einer Kinderseele, die glaubt, diesen Eindringling bekämpfen zu müssen, weil sie mit jeder Zelle spürt, dass das nicht richtig ist? Kinder im Krieg gegen das Leben.

Gift.

Für alle.

Nervengift.

Den Begriff „Ziehpapa“ zu verwenden entschied ich erst in meinen Mittzwanzigern, als ich selbst eine Stiefmutter wurde. Ziehmutter. Das Wort „Stief“ habe ich schnell zum Teufel gejagt. Es ist so negativ belastet, dass es in seiner Umgebung nur Schaden anrichtet, besonders bei Kindern. Das Wort „Stief“ wird im Allgemeinen so selbstverständlich benutzt, wie man Butter auf eine Scheibe Brot schmiert. Unreflektiert und wiedergekäut, ungeachtet dessen, dass der „Stief“ gesellschaftlich abgewertet, ignoriert und bedauert wird. Eine hemdsärmelige Mischung. Ein Mensch dritter Klasse.

Zu übertrieben formuliert, findest du? Gegenfrage: Hast du andere Erfahrungen gemacht? Der „Stief“ ist ein Außenseiter. Paradox, wo es doch so viele gibt in dieser Welt. Wie viele? Eine Dunkelziffer. Studien über Stieffamilien finden sich nur schwer unter dem kleinen Zeh des Weltweitnetz. Ausgelagert. Nicht von Interesse. Den Stiefeltern ist’s recht. Sie wollen nicht unnötig auffallen, zur Zielscheibe werden und zugeben müssen, dass es Konflikte gibt. Damit stünden sie als Schwarzer Peter oder Schwarze Petra im Fokus und böten dem Publikum Raum, auf ihnen rumzuhacken. Ständig belauert. Eindringlich beobachtet.

Immer auf der Stiefhut.

Nach langem digitalen Wühlen bin ich auf die germanische Form „step“ (beraubt) gestoßen und lasse diese treffliche Möglichkeit einer Bedeutungsherkunft für dein eigenes Empfinden hier stehen. Vielleicht hast du eigene Gedankenimpulse dazu. Mitmachen ist ausdrücklich erwünscht.

Wie war er so, mein Ziehpapa? Anders. Mit anders meine ich eine gewisse Tendenz zum Eigenbrötler. Kein Wir-Mensch. Eigenartig in dem Sinne, dass er seine eigene Art hatte. Wie wir alle. Unkonventionell. Dabei oft doppeldeutig. Er liebte feste Prinzipien, spielte aber ebenso mit tausend Möglichkeiten. Heute starr, morgen beweglich. In Anstand und Moral sehr anspruchsvoll, war Michael bei persönlichen Verhaltensweisen eher freizügig. Zu Tisch gab es hohe Anforderungen an unsere Manieren: Nicht mit vollem Mund sprechen. Am besten ganz still sein während der Mahlzeiten. Das Wasserglas gehörte in die linke Hand, nicht in die verschmutzte rechte, mit der wir unser Brötchen aßen. Im Gegensatz dazu war ihm unsere Unordnung im Kinderzimmer schnuppe. Dort war er ein seltener Gast. Unsere Fernsehausdehnungen wurden mittels Zeitschaltuhr eingehegt. Überhaupt hatte er skurrile Methoden in Sachen Kindererziehung. Darüber wurde mit meiner Mama oft und viel gestritten. Eigentlich hatte er im Umgang mit uns kein Mitspracherecht, Mama ließ ihn ab und zu gewähren, des lieben Friedens wegen oder weil sie zu müde war zum Streiten.

Fast unverschämt ehrlich neigte er zur Geheimniskrämerei. Wir Kinder wussten kaum etwas von ihm. Vieles blieb spürbar unter Verschluss, war nicht für unsere Ohren bestimmt. Über seine Kindheit wurde nicht gesprochen. Die war tabu. Keine Fotos, keine Geschichten, keine Anekdoten. Mama hat uns heimlich ein paar Details gesteckt, nichts Aufregendes, aber besser als nichts.

Michael war selbst ein Stiefkind.

So wie wir jetzt.

Für alle kein Ponyhof.

Oft habe ich ihn distanziert und unbestimmt wahrgenommen. Gefühlen stand er skeptisch gegenüber. Dafür verfügte er über ein großes Repertoire an vernunftbetonten und stichhaltigen Argumenten. Er war ein Aufklärer, ein Mann der Ratio. Als Ratgeber war er immer präsent für uns und unermüdlich. Hier konnten wir auf ihn zählen. Bei ihm war darauf Verlass, dass unsere Freiräume gewahrt blieben und wir uns ausprobieren durften. Junges Blut lässt sich nicht aufhalten. Das hat er auch nicht versucht.

Was mich betrifft, so glaube ich, war er stolz auf mich und meine Entwicklung. Gesagt oder gezeigt hat er es nie. Aber ich bin mir ziemlich sicher. Wie schon angedeutet, ist es schwer, mich nicht zu mögen. Und wenn doch, dann nur für kurze Sequenzen. Dafür umso intensiver.

Dieser Mann hat sich entschieden, die Verantwortung für uns Kinder mitzutragen. Mit aller Energie und Fürsorge. Als Dank bekam er von uns Kindern stets die Versicherung, nur die zweite Wahl zu sein und es immer zu bleiben. Der Mann, der viel Kraft auf unser Wohlergehen konzentriert hat, stand immer im Seelenschatten unseres illusionierten Vaters, der aber nie da war – eine Nebelfigur im Nebelfeld emotionalen Grauens.

Eine Anderswelt.

Blass.

Blutleer.

Augenblicklich erscheinen mir die zahlreich versöhnlich stimmenden Wie-Patchwork-gelingt-Ratgeber vor meinem geistigen Auge. Mit ihrer Lilalaune-Energie. Den pädagogisch wertvollen Tipps, die wie Fettaugen an der Oberfläche einer Suppe schwimmen. Nippes. Unerträglich lächerlich. Schade ums Papier. Ich bin so verdammt wütend. Diese Kurzsichtigkeit macht mich aggressiv. Ich bin mir sicher, dass nicht ein Einziger Michael jemals ernsthaft und mitfühlend nach seinem Befinden in diesem Spektakel gefragt hat. Nicht einer. Seine ehrliche Antwort wäre zu gewaltig gewesen für den kleinen Kummersack der meisten. Zu dramatisch. Zu gesellschaftsskeptisch. Zu alles.

Michael blieb alleine mit seinem Befinden. Seine Seelenangelegenheit ungehört. Wie viel meine Mama über sein inneres Erleben weiß, kann ich nicht beurteilen. Ich glaube, sie pflegen ein ehrliches Miteinander. Auch in vertrackten Situationen fanden sie immer einen Weg zueinander. Mama erlebte ich oft im Konflikt mit ihrer Vormachtstellung und ihrem eigenen Recht einerseits und Michaels Befindlichkeiten andererseits. Sie stand auf der Seite der Kinder, auf ihrer Seite. Oft so überdeutlich und vehement, dass für Michaels Gefühle kein Raum blieb. Verzwickte Geschichte auch für ihn, denn er wollte seiner Liebsten keine zusätzlichen Probleme bereiten. Wollte für sie da sein. Für uns. Unterstützend, nicht jammernd. Das tat er.

Er hat es gut gemacht.

Seine ehrliche Seelenlage bleibt geheim.

Nichts für unsere Ohren.

Aufschrei

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