Читать книгу Art of Fake. - Zulehner Christoph - Страница 19
DER UNERFÜLLTE TRAUM VON DER MÜLLABFUHR
ОглавлениеDer Traumberuf des jungen John war ursprünglich Müllmann. Das ist kein Scherz, sondern im Gegenteil bitterer Ernst. John Randles Eltern aus dem Flecken Mumford in Texas waren so arm, dass dem zweiten von drei Kindern ein Job bei der Müllabfuhr wie die Verheißung einer gesicherten Existenz vorkam. John war schon als Teenager körperlich kräftig und überdurchschnittlich belastbar. Somit fühlte er sich der harten Arbeit auf den im Sommer glutheißen texanischen Straßen gewachsen. Er glaubte auch, als Müllmann einen positiven Beitrag für die Gemeinschaft leisten zu können – das entsprach dem guten Charakter des Jungen. Außerdem hätte er jeden Tag schon am frühen Nachmittag frei gehabt und anschließend Sport machen können. Doch als John die Highschool vorzeitig verlassen und sich bei der Müllabfuhr bewerben wollte, sprach seine Mutter – der Vater war meist abwesend – ein Machtwort: „Du bleibst auf der Schule. Und du bleibst in der Football-Mannschaft.“ Nachdem John Randle 2010 in die „Hall of Fame“ der National Football League aufgenommen worden war, dankte er in seiner Rede der Mutter für dieses Machtwort.
Der Staat Texas meinte es mit seinen dunkelhäutigen Mitbürgern noch nie besonders gut. Zwar wurde 1964, drei Jahre vor John Randles Geburt, die Rassentrennung im amerikanischen Süden offiziell abgeschafft. Doch von Chancengleichheit für die schwarze Bevölkerungsgruppe konnte deshalb noch lange keine Rede sein. Und das gilt wahrscheinlich bis heute. Mutter Randle wusste, dass es für ihre Jungen vor allem zwei Chancen gab: Bildung und Sport. Beides hängt in den USA eng miteinander zusammen. Talentierte junge Sportler erhalten Stipendien für den Besuch eines Colleges, wenn sich deren Eltern die – zumeist horrenden – Studiengebühren nicht leisten können. Die Sportmannschaften sind Aushängeschilder und Statussymbole der Hochschulen. Colleges sorgen auf diese Weise dafür, dass ihnen kein begabter junger Spieler entgeht. Die Mannschaften der Profiligen, sei es Football oder Baseball, rekrutieren ihren Nachwuchs dann wiederum aus den Teams der Colleges.
So bekam auch der junge John Randle, aufgewachsen in einer Holzhütte ohne WC und im Winter ohne Heizung, schließlich ein Stipendium der staatlichen Texas A&I University. Vorher hatte sein älterer Bruder Ervin bereits ein Stipendium der Baylor University in Waco erhalten. Für Ervin war es die Eintrittskarte in den Profisport gewesen, übrigens ganz ohne Fake. Ervin Randle spielte von 1985 bis 1992 als „Linebacker“ für die NFL-Mannschaften Tampa Bay Buccaneers und Kansas City Chiefs. Er bestritt 105 Spiele, erreichte aber nie die spätere Berühmtheit seines jüngeren Bruders. Dass es gerade American Football war, der den beiden dunkelhäutigen Brüdern einen Weg aus bitterster Armut ebnete, birgt insofern eine gewisse Ironie, als in dieser Sportart noch wenige Jahrzehnte zuvor ein unverhohlener Rassismus herrschte: Anfang der 1930er-Jahre hatten die mächtigen Eigentümer der Erstliga-Teams das berüchtigte „Gentlemen’s Agreement“ geschlossen. Damit wurde Schwarzen unter der Hand die Aufnahme in die Mannschaften verwehrt. So fand sich – ausgerechnet – zwischen 1933 und 1945 kein einziger Schwarzer in der höchsten Spielklasse des American Football. Zwar wurde das „Gentlemen’s Agreement“ nach dem Zweiten Weltkrieg gelockert und spielte nach Gründung der modernen NFL im Jahr 1970 keine Rolle mehr. Doch wer glaubt, der Rassismus sei über Nacht verschwunden, der kennt Amerika schlecht. Es ist also nur wenig Spekulation im Spiel, wenn man davon ausgeht, dass John Randle in der NFL nicht gerade der rote Teppich ausgerollt wurde. Als Schwarzer aus ärmsten Verhältnissen, ehemaliger Student eines staatlichen Colleges, zudem für einen Football-Spieler eigentlich zu klein, traf er in der Kabine und auf dem Spielfeld auf hellhäutige Hünen aus reichen Elternhäusern, die von den privaten Elite-Unis kamen. Wenn Randle also vielleicht der Rolle eines Außenseiters kaum entkommen konnte, so fand er immerhin seinen eigenen Weg, damit umzugehen.