Читать книгу Occupys Soldaten - Achim Grauer - Страница 18

Nemesis

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„Herr Kosinski, schön dass Sie es einrichten konnten.“ Rodgaus Stimme schreckte Jack aus seinen Grübeleien.

„Ich hatte gerade nichts anderes vor.“ Der Sarkasmus in Jacks Stimme war nicht zu überhören. Rodgaus zeigte jedoch keinerlei Regung. Er schien den Satz überhaupt nicht gehört zu haben.

„Zimmer 911 im Vierten. Ich werde Sie begleiten“, fuhr Rodgaus kurzangebunden fort und setzte sich in Bewegung.

„Ein klassisches Verhörzimmer mit Venezianischem Spiegel, Mikros und Videoaufzeichnung. Ganz wie im Kino.“

Nur dass Dich da keiner spielen könnte. Soviel Klischee hält doch keiner aus...

„Sie haben eine Stunde, dann machen wir eine Pause von 15 Minuten. Dann noch mal eine Stunde...“

„Und wenn ich mal pinkeln muss?“, unterbrach ihn Jack.

Rodgaus blieb so abrupt stehen, dass Jack ihm fast in die Hacken gelaufen wäre. Der wand sich halb um und zischte Jack mit seiner Countertenorstimme bedrohlich leise an:

„Wenn Sie noch einmal versuchen, sich in der Öffentlichkeit über mich lustig zu machen, reiße ich Ihnen den Zeigefinger aus und nähe ihn eigenhändig quer über Ihr verdammtes Schandmaul, verstanden?“ Jack starrte Rodgaus entgeistert an.

Der wand sich ab, als hätte er Jack gerade lediglich darauf hingewiesen, in den Amtsfluren doch bitte nicht so laut zu sprechen und betrat den Aufzug, der ehrfürchtig auf seinen Herrn und Meister gewartet zu haben schien. Jack blieb nichts anderes übrig als ihm zu folgen.

Die Türen schlossen sich geräuschlos und der Fahrstuhl setzt sich mit einem kaum merklichen Ruck in Bewegung. Die Lüftung blies Jack die unangenehm kühle Klimaanlagenluft direkt in den Nacken. Rodgaus blieb davon scheinbar unbeeindruckt.

„Unser Erkenntnisstand. Erstens: Die Unbekannte ist in keiner nationalen oder internationalen Verbrecherkartei zu finden. Was den Schluss zulässt, dass Sie bisher noch nicht straffällig geworden ist.“

Gott sei Dank. Jack fiel ein Stein vom Herzen. 5ter Stock.

„Zweitens: Die Unbekannte hat laut Schmauchspurentest keine Waffe abgefeuert.“

Das wurde ja immer besser. 4ter Stock. Lautlos öffnete sich die Tür und Rodgaus übernahm wieder die Führung.

„Was aber auf Grund der Rauchentwicklung am Tatort nicht weiter verwunderlich und somit irrelevant ist.“

Wäre auch zu schön gewesen.

„Drittens: Die Tatwaffe wurde nicht gefunden. Dafür aber ein Revolver, der ebenfalls benutzt wurde. Der darauf befindliche Handabdruck ist leider vom Blut des Hackers verschmiert und unbrauchbar. Lässt aber auf Grund seiner Größe den Schluss zu, dass es sich bei dem Täter in jedem Fall um einen Mann handeln muss. Der Abdruck stammt eventuell also vom Hacker selbst. – Passen Sie gefälligst auf Sie Kretin“, herrschte Rodgaus den Putzmann an, der mit einer beinahe manischen Akribie den Flur vor dem Verhörzimmer 911 wischte und dabei Rodgaus edles Schuhwerk bespritzt hatte.

Rudolf Scheer. Zweieinhalb Mille das Paar.

Jack fragte sich gerade, wie sich ein Kriminaloberrat solche Schuhe leisten konnte, da öffnete Rodgaus schon schwungvoll die Tür und trat in einen abgedunkelten Raum.

„Viertens:“ Jack folgte zögernd. „Wir konnten alle sechs abgefeuerten Projektile sicherstellen. Fünf befanden sich in den Wänden des Büros. Das Sechste lag mitten im Raum. Auf Grund seiner Deformation können wir davon ausgehen, dass die Kugel einen Körper glatt durchschlagen hat. Was den Schluss nahe legt, dass mindestens noch eine weiter Person im Raum gewesen sein muss, die jetzt mit einem veritablen Loch durch die Lande streift.“

Jack war aufrichtig beeindruckt. Die Jungs hatten ihren Job gemacht. Er sah Rodgaus das erste Mal seit sie aufeinander getroffen waren in einem anderen Licht. Und das lag nicht nur an der schummrigen Beleuchtung.

Rodgaus hatte offensichtlich gesagt, was er zu sagen gedachte, denn er stand nun wieder auf die ihm eigene statuenhafte Art mit dem Rücken zur Wand und fixierte einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Seite des Raumes. Jack folgte Rodgaus Blick und hätte beinahe laut aufgeschrieen.

Sie stand genauso unbeweglich und unnahbar im hell erleuchteten Verhörraum wie gestern Nacht im Flammenmeer des Büros. Vor ihr ein Tisch mit zwei Stühlen. Darin eingelassen ein Mikrofon. Daneben zwei Gläser und eine volle Wasserkaraffe. Sie sah Jack direkt in die Augen. Freilich ohne ihn zu sehen. Das verhinderte der Venezianische Spiegel hinter dem Jack sich verbarg. Ihr Blick war nicht mehr Ausdruck puren Irrsinns. Ihre Augen funkelten eher wie Sterne kurz vor einer Supernova. Was eigentlich auch keine bahnbrechende Verbesserung darstellte. Trotzdem atmete Jack hörbar auf. Er war einfach dankbar dafür, dass Rodgaus ihn nicht ins kalte Wasser geworfen hatte.

Ein kurzer Seitenblick sagte Jack, dass er noch ein wenig Zeit hatte „seine Irre“ zu beobachten, die ihn immer noch ansah.

Man hatte ihr einen schlichten, schwarzen Trainingsanzug der Frankfurter Polizei gegeben, der offenbar ein paar Nummern zu groß war. Trotzdem konnte dieser Schlabberlook weder ihre wohlproportionierte Figur, noch eine Haltung, die schon beinahe aristokratisch war, hinreichend verbergen. Sie gehörte eindeutig zu jener Sorte Frau, der man auch einen Kartoffelsack überziehen konnte und trotzdem würde es so aussehen, als sei der von Armani geschneidert.

Eine dicke weiße Cremeschicht, die die offenbar doch in Mitleidenschaft gezogene Haut ihres Gesichts wie eine Puppenmaske bedeckte, verstärkt diese Haut Couture Wirkung noch. Die raspelkurz geschnittenen Haare standen in scheinbarem Widerspruch zu ihren feinen Gesichtszügen, verliehen ihr aber eine exotisch-individuelle Note. Heidi würde jubeln bei soviel Charisma und hätte todsicher ein Bild für sie.

Faszinierend, dachte Jack, hob unwillkürlich die linke Augenbraue und knetete dabei sanft sein rechtes Ohrläppchen.

Wie Sie wohl in ihren eigenen Klamotten aussah?

Jack schüttelte kaum merklich den Kopf. Dieser Gedanken war so überflüssig wie fehl am Platz. Es wäre weitaus besser, sich endlich einen Schlachtplan zu Recht zu legen, wie er das Gespräch mit der Unbekannten eröffnen sollte. – Was durfte, was konnte, was musste er fragen? Und vor allem wie?

Als könne er Gedanken lesen beantworte Rodgaus Jacks Fragen.

„Spielen Sie nicht Columbo, Kosinski. Lassen Sie unsere Unbekannte reden. Schließlich war es ja ihre Idee mit Ihnen zu sprechen. – Betrachten Sie es als ein Gespräch unter alten Bekannten.“ Rodgaus nickte auffordernd in Richtung Tür.

„ Showtime, Jack.“

Jack setzte sich automatisch in Bewegung. Er fühlte sich trotz Rodgaus Worte nur unwesentlich besser. In wenigen Sekunden würde er dieser sonderbaren Fremden gegenüber stehen und wahlweise zum Beichtvater oder Judas werden.

Als er eintrat, traf ihn die Spannung im Raum, als hätte er einen Weidezaun angefasst.

Wow, wow, wow. – Was war denn hier los.

Jack hatte schon oft in seinem Leben Menschen in Todesangst erlebt und kannte den speziellen Geruch, den sie verströmten. Aber eine solche Intensität hatte er noch nie erlebt. Vorsichtig wagte er einen Blick über den Spiegel. Ein kurzes Erkennen huschte über ihr cremiges Puppengesicht, sonst zeigte sie keinerlei Reaktion.

Na das fängt ja schon gut an.

Jack war gerade dabei die Tür hinter sich zu schließen, als er ihre Stimme hörte.

„Ich möchte spazieren gehen. Jetzt.“ Sie sprach leise. Ihre weiche Stimme klang rau und vibrierte vor Anspannung.

Was war nur mit ihr passiert?

Jack fragte sich, ob es Rodgaus Schergen etwa schon mit einer ganz und gar illegalen, dafür wesentlich effektiveren Befrageform versucht hatten? Jack schaute herausfordernd in jene Ecke des Spiegels, hinter der er Rodgaus vermutete. Nichts geschah. Rodgaus war wohl von ihrer Forderung ebenso überrumpelt wie Jack.

Gerade als er zu einer Antwort ansetzen wollte, erwachte die Gegensprechanlage mit einem vernehmbaren Knacken zum Leben und Rodgaus dünne Primanerstimme erfüllte den Raum.

„Wo?“ Nur dieses eine Wort.

Jack war völlig perplex. Er hatte nicht erwartet, dass Rodgaus auf sie eingehen würde.

„Hauptfriedhof.“, hauchte die schöne Unbekannte. Ihre Stimme bebte.

Was für ein krankes Spielchen zogen die hier ab?

Jack war ratlos, aber insgeheim sehr froh, dass sich der Anfang des Verhörs noch ein bisschen hinauszog.

Als sie zu dritt über den frischgebohnerten Flur gingen, konnte er ihren Atem hören. Sie drohte beinahe zu hyperventilieren.

Also wenn das so weiter ging, konnten sie gleich auf die Intensivstation abbiegen.

Jack hatte keine Lust, seinen Schützling zwischen irgendwelchen Grabsteinen wiederzubeleben. Schweigend fuhren sie mit dem Aufzug in die Tiefgarage des Präsidiums. Dort erwartete sie bereits ein Viererteam. Die Beamten des SEK standen an den geöffneten Türen des schwarzen 7-sitzigen SUVs. Eine Neonröhre flackerte und verwandelte das Bild in ein hollywoodtaugliches Ambiente. Wenn jetzt Keanu Reeves in seinem Ledermantel um die nächste Ecke stolziert wäre, hätte sich Jack kaum gewundert. Diese Mr. Smiths erfüllten aber auch zu perfekt das Klischee vom unauffällig-auffälligen Agenten.

Was Jack jedoch mit einer gewissen Erleichterung feststellen konnte, war, dass sich seine Schutzbefohlene langsam zu beruhigen schien.

Die Fahrt dauerte keine zwei Minuten. Jack beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie blickte starr geradeaus, ihre Atmung war wieder völlig normal. Mit jedem Meter, den sie sich vom Präsidium entfernten, wich die Anspannung wie ein böser Spuk und ihr Selbstbewusstsein nahm spürbar wieder zu.

Was hatte ihr im Präsidium so sehr zugesetzt?

Die Stille im luxuriös dahingleitenden SUV wich einer wuseligen Geschäftigkeit, als sie vor dem ehrwürdig klassizistischen Eingang des Frankfurter Hauptfriedhofs, dem Alten Portal ausstiegen.

Ohne ein weiteres Wort bildeten die 4 SEKler nun zusammen mit Rodgaus, Jack und ihr eine perfekte 3er Rotte. Jack hätte nicht sagen können, ob und wie die Männer sich untereinander verständigt hatten, als sie sich absolut synchron mit ihnen in Bewegung setzten und nach ein paar Metern unbehelligt den Friedhof betraten.

Gerade als sie in dieser eigentümlichen Formation auf den kleinen freien Platz hinter dem Portal hinausmarschierten, brach Rodgaus Stimme das anhaltende Schweigen. Er wandte sich direkt an sie.

„Sie haben eine Stunde. Machen Sie keine Mätzchen. Meine Männer werden Sie im Auge behalten.“ Und da die Angesprochene keinerlei Reaktion zeigte, fügte Rodgaus noch an:

„Sollten Sie dennoch versuchen zu fliehen, sich zu verstecken oder Herrn Kosinski in irgendeiner Weise bedrohen, so können Sie sicher sein, dass meine Jungs dies als willkommene Einladung zu einer Runde „maximal invasives Krisenmanagement“ auffassen werden.“

Ohne eine Antwort abzuwarten und mit einem unmerklichen Kopfnicken zu den wartenden Männer schlenderte Rodgaus in Richtung des Grabes von Johannes von Miquel davon, der 1890 Finanzminister und Erfinder unseres Steuersystems war. Sekunden später war von den Sicherheitsbeamten keiner mehr zu sehen. Sie waren allein.

Unschlüssig und auch ein wenig verunsichert standen sie beide reglos nebeneinander. Jack sog nervös die frische, angenehm kühle Friedhofsluft in sich ein. Er konnte die warmen Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht spüren und fragte sich gerade, ob es für seine Begleiterin nicht besser wäre, einen Schattenplatz aufzusuchen, als die sich einfach in Bewegung setzte und den Weg rechter Hand entlang der alten Friedhofsmauer einschlug. Jack schüttelte leicht gereizt den Kopf. Dafür, dass sie eben noch ein Häuflein Elend gewesen war, konnte sie jetzt schon wieder wunderbar unnahbar und arrogant den Ton oder besser die Marschrichtung angeben.

Er seufzte leise und setzte sich ebenfalls in Bewegung. Als er zu ihr aufgeschlossen hatte, brach er das anhaltende Schweigen, eine Spur unfreundlicher als er es eigentlich beabsichtigt hatte.

„Ich bin Jack, Jack Kosinski.“

Schnell schob er nach:

„Es freut mich, dass Sie die Geschichte so gut überstanden haben.“

Er stockte.

„Ich meine, die kurzen Haare stehen Ihnen wirklich gut.“

Was redete er nur für einen Stuss.

„Bei der Hitze hätte ich gedacht, dass Sie schlimme Verbrennungen davontragen würden. Es grenzt beinahe an ein Wunder...“

„Ein Feuerwehrmann der an Wunder glaubt?!“, unterbrach sie ihn leise. Und Jack, der Mühe hatte sie zu verstehen, war sich nicht sicher, ob ihre Stimme dabei spöttisch oder erstaunt geklungen hatte.

„Ich stand exakt unter der wahrscheinlich einzig funktionierenden Sprinklerdüse. Ich glaube ich wäre eher ertrunken als verbrannt, soviel Wasser hat dieses Teil über mir ausgespuckt.“

Sie hielt einen Moment inne.

„Außerdem reagiere ich auf Stresssituationen sehr speziell. Meine Körperfunktionen reduzieren sich drastisch. – Deshalb habe ich auch keine Rauchvergiftung und nur Verbrennungen ersten und zweiten Grades.“

Sie blieb plötzlich stehen und umarmten Jack ohne Vorwarnung.

„Danke“, hauchte sie an seinem Ohr.

Jack wurde abwechselnd heiß und kalt. Er konnte ihren durchtrainierten, athletischen Körper spüren, der sich wie selbstverständlich an den seinen schmiegte.

Mann, Mann, Mann.

Jack spürte ihre straffen Brüste, die sich in der Umarmung angenehm an seine Brust drückten. Der Trainingsanzug roch nach einem Billigwaschmittel, konnte aber ihren angenehm süßlich herben Körpergeruch nicht ganz überdecken. Jacks Hals war auf einmal staubtrocken. Ehe er noch etwas erwidern konnte, war dieser überraschende Moment der Nähe auch schon wieder vorüber und sie wandte sich von ihm ab. Völlig überrumpelt presste Jack ein:

„Ich... ich hab nur meinen Job gemacht... ich meine, ich hab ihn natürlich gern gemacht…“ heraus.

Sie schien ihn gar nicht zu hören. Stattdessen starrte sie, wie Jack jetzt erst bemerkte, gedankenverloren auf das schlichte weiße Steinkreuz mit den eingravierten, schwarzen Lettern: Pauline Schmidt.

Paulines Grab war ein beliebtes Touristenziel. Jack hatte selbst schon oft davor gestanden. Das im Jahre 1858 verstorbene Mädchen hatte dem Frankfurter Psychiater und Kinderbuchautoren Heinrich Hoffmann zur Vorlage für eine Geschichte in seinem bekanntesten Werk gedient. Dem Struwwelpeter.

„Nennen Sie mich Lina“, murmelte sie unvermittelt und verstummte sofort wieder. Offenbar war sie sich ihrer Sache weit weniger sicher als sie vorgab.

Was dein Feind nicht wissen soll, das sage deinem Freunde nicht, ging es Jack durch den Kopf.

„Hören Sie Lina, ich bin ein einfacher Feuerwehrmann. In der Regel habe ich wenig Interesse an Problemen anderer Leute. Eben weil diese Probleme nicht meine sind und ich in meinem Job leider viel zu oft das Ergebnis irgendeiner Einmischung aus einem Wagen schneiden, von Fenstersimsen zerren oder vom Boden abkratzen muss. Verstehen Sie?“

Jack zögerte kurz, da von ihr aber keine Reaktion kam, fuhr er mit schonungsloser Offenheit fort.

„Ich habe einfach keine Lust bei der schon zwanghaft gewordenen Dramatisierung des Banalen mitzumachen.“

Jack wartete vergeblich auf eine Reaktion, dabei war er sich nicht einmal sicher, ob Lina ihm überhaupt zuhörte.

„Sie stehen mitten in der Nacht im lichterloh brennenden 16ten Stock eines Bankenhochhauses. Um sie herum liegen zwei, drei bestialisch zugerichtete Leichen und Sie brüllen nach einem Typ namens Karl. Wir holen Sie da raus, weil es unser Job ist. Das Boulevard macht die unvermeidliche Heldennummer daraus. – Und Ende der Geschichte! Verstehen Sie? So läuft das für gewöhnlich und so mag ich das auch! – Vom Heldenschwachsinn mal abgesehen. – Stattdessen lustwandle ich hier mit ihnen über den Frankfurter Hauptfriedhof, weil die quotengeile Medienlandschaft diesen billigen Überfall zum Terrorakt hochstilisiert hat und dem großartigen Herrn Generalbundesanwalt der Allerwerteste auf Grundeis geht. – Hab ich noch was vergessen? – Ach ja, natürlich! – Jede völlig banale Geschichte braucht selbstverständlich etwas Geheimnisvolles! – Und das hat Madame freundlicherweise gleich mitgeliefert. Weil Madame es nämlich vorzieht zu schweigen!“

Jack hatte sich in Rage geredet und starrte Lina jetzt herausfordernd an.

„Wissen Sie, bis dahin kann ich die ganze gequirlte Hirngrütze sogar verstehen! – Ja, wirklich! – Wer mit DSDS, Big Brother und Florian Silbereisen aufgewachsen ist, den kann eigentlich kaum noch etwas erschüttern. – Aber verraten Sie mir doch bitte eins: Warum in Dreiteufels Namen ich! Warum haben Sie sich gerade mich zum Beichtvater auserkoren? Sie glauben doch nicht ernsthaft, ich könnte ihnen helfen. – Mein Name ist Kosinski, Jack Kosinski. Und ich bin ein einfacher Feuerwehrmann und nicht James Bond!“

Jack starrte Lina unverwandt an. Einerseits erstaunt über seine Fabulierwut. Andererseits ein wenig verärgert über Linas beharrliches Schweigen. Und zum Dritten leicht berauscht vom eigenen Gefühlsausbruch.

Die Stille, die folgte, war beklemmend. Jack hätte sich ohrfeigen können. Wieder einmal war er mit seiner direkten Art übers Ziel hinausgeschossen. Gerade als er zu einer Entschuldigung ansetzten wollte, flüsterte Lina heiser:

„Sie sind der Einzige, dem ich vertrauen kann. – Wie spät ist es?“

Ihre unzusammenhängende Art zu kommunizieren irritierte Jack. Widerwillig warf er einen kurzen Blick auf seine Rolex Yachtmaster.

„Viertel nach Elf“, antwortete Jack knapp.

Ich bin der Einzige dem Du vertraust? Wie kam Sie nur auf diese absurde Idee? Sie kannte ihn doch kaum?

Es gab wenige Menschen denen Jack vertraute. Er konnte sie an den Fingern einer Hand abzählen. Diese sehr besonderen Menschen hatten sich sein Vertrauen hart erarbeiten müssen. Und dass Lina so vollkommen anders ticken sollte, nahm er ihr einfach nicht ab.

„Also ich an Ihrer Stelle wüsste nicht warum ich mir vertrauen sollte“, nahm Jack den Faden wieder auf.

„Bloß weil ich Sie da rausgeholt habe, macht mich dass noch lange nicht zum Heiligen. – Schreiende Wahnsinnige aus Hochhäusern zu schleifen ist mein Job, Lina. So was mach ich ständig! Weil ich Feuerwehrmann bin und kein Polizist! – Feuerwehrmänner retten, Polizisten klären auf. Und die netten Jungs vom BKA brauchen dringend ihre Unterstützung, sonst basteln die sich ihre eigene Wirklichkeit. Und ich glaube nicht, dass die Ihnen gefallen wird.“

„Und wie soll diese Wirklichkeit aussehen?“, entgegnete ihm Lina leise.

„Die glauben, dass Sie etwas mit der Schollenbruchentführung zutun haben und dass die „Moor & Moor“ Nummer auf dasselbe hinaus laufen sollte, aber offensichtlich völlig aus dem Ruder gelaufen ist.“

„So ein Quatsch“, fauchte Lina ohne von Paulines Grab aufzusehen.

„Wenn das so ein Quatsch ist, warum dann diese ganze Geheimnistuerei? Warum sagen Sie denen nicht einfach, was letzte Nacht wirklich passiert ist?“

Langsam ging Jack dieses Gezicke auf die Nerven.

„Weil nicht immer alles nur schwarz oder weiß ist“, entgegnet Lina mit bemühter Beherrschung.

„Weil Männer wie dieser Rodgaus wenig Interesse an der Wahrheit, dafür aber umso mehr Interesse an Macht und Geltung haben.“ Linas Stimme zitterte.

„Weil Menschen sterben werden, wenn ich nicht das Richtige tue.“

Lina sah Jack jetzt mit ihren klaren blaugrünen Augen eindringlich an.

„Ich vertraue ihnen Jack, weil Sie der einzige Mensch in diesem Albtraum sind, der keinen Profit daraus ziehen möchte. – Sie denken nicht nur an ihre Karriere oder ihren private Vorteil. – Deshalb vertraue ich Ihnen, Jack!“

Wieder trat eine angespannte Stille ein. Jack war verwirrt. Denn obwohl Lina ihrer Mischung aus kryptischen Andeutungen und dramatischer Überhöhung treu geblieben war, konnte er Ihre Begründung nachvollziehen. Zwei Dinge gefielen ihm daran allerdings überhaupt nicht. Und je mehr er darüber nachdachte desto unwohler fühlte er sich in seiner Haut. Wie sollte er ein Problem lösen, dessen Ausmaß er noch nicht einmal wirklich verstanden hatte? Wie sollte er es mit den ausgekochten Profis vom BKA aufnehmen, denen ein unerschöpflicher Polizeiapparat zur Verfügung stand? Mal ganz abgesehen von Occupys Soldaten, die ganz offensichtlich hinter dem ganzen Schlamassel steckten? Und selbst wenn dieses Paket noch nicht gereicht hätte Jack davon abzuhalten sich auf Linas Bitte einzulassen, ihre beinahe körperlich spürbare Todesangst tat es.

Was macht dir so eine Höllenangst? Oder sollte er besser fragen WER? – Karl?

Während Jack noch mit sich haderte, blies ein Windhauch die Ahnung feinsten Zigarrenrauchs aus dem hinteren Teil des Friedhofs zu Jack herüber. Dankbar für die Ablenkung nickte Jack anerkennend.

Spitzenware.

Er hatte, als er sich vor Jahren einmal eine Auszeit gegönnt hatte, selbst bei einem kubanischen Torcedor das Ziggarendrehen gelernt. Eine mühsame Arbeit, die ein hohes Maß an Gewissenhaftigkeit und Präzision erforderte. Für Jack war die Arbeit zu einer Art Meditation geworden. Seit dieser Zeit wusste er eine gute Zigarre und die hohe Kunst ihrer Herstellung zu schätzen. Damals hatte er auch begriffen, dass jegliche Kunst auf den drei Säulen Zeit, Hingabe und Genauigkeit fußte und sich erst dann zeigte, wenn man bereit war ebendiese Zeit zu investieren und mit Hingabe und genauem Arbeiten einem Ziel entgegenstrebte, dass man noch nicht einmal kannte.

Irgendwie beschlich Jack das ungute Gefühl, im Augenblick einen Weg einzuschlagen, der ihm noch wesentlich mehr abverlangen würde.

„Wenn ich Ihnen helfen soll, müssen Sie mir alles erzählen, Lina. Alles. Das Wichtige und das Unwichtige. Ganz besonders aber das, wovon Sie glauben, dass es mit der Geschichte gar nichts zu tun hat.“

Jack sah Lina prüfend von der Seite an. Die zeigte mit keiner Miene, ob sie ihn verstanden hatte. Stattdessen lehnte sie sich schweigend an einen Baum gegenüber von Paulines Grab.

„Der Typ, der die Hacker erschossen hat, heißt Franz von Moor“, begann sie unvermittelt. Ein Schauer lief dabei durch ihren Körper und Linas Stimme klang brüchig, als sie fortfuhr.

„Dieser Überfall hat nichts mit der Schollenbruch Entführung oder diesen Terroristen zu tun. Fragen Sie mich nicht woher ich das weiß, das spielt keine Rolle. Viel wichtiger ist, dass Franz ganz offensichtlich überlebt hat und versuchen wird mich umzubringen, weil....“

Lina stockte und Jack führte den Gedanken zu Ende.

„Weil er verhindern will, dass Sie ihn mit ihrer Aussage lebenslänglich hinter Gitter bringen.“

Lina nickte zaghaft.

Jack schwieg für einen Moment und dachte nach. Lina hatte weder ihren richtigen Namen genannt, noch ein Wort über diesen ominösen Karl verloren. Sie vertraute ihm weit weniger als sie ihm weiszumachen versuchte.

„Um Ihren Franz brauchen Sie sich keine Gedanken mehr zu machen. Das BKA hat eine Kugel gefunden, die nach einem Durchschuss aussieht. So was tut höllisch weh. Und wenn ich höllisch sage, meine ich das auch so. Der macht keinen Schritt ohne zu schreien wie eine komplette Heavy Metal Band.“

Jack wartete auf eine Reaktion, die aber wieder einmal ausblieb.

„Rodgaus Hybris wiederum ist beinahe groß genug, um trockenen Fußes übers Wasser zu gehen, auf jeden Fall aber zu groß, um sich zum Büttel für so einen dahergelaufenen Investmentbanker zumachen.“

Immer noch keine Reaktion. Jack schüttelte resignierend den Kopf.

„Aber Ihr Problem heißt weder Rodgaus noch Franz von Moor.“

Jack trat jetzt ganz nahe an Lina heran und sah ihr direkt in die Augen.

„Ihr Problem ist ein halbtoter Kerl namens Karl.“ Lina zuckte zusammen. „Der auf genauso wundersame Weise dem Chaos entkommen konnte und der vermutlich verantwortlich für den ganzen Schlamassel ist.“

Linas Reaktion kam postwendend. Es hörte sich an wie das Knurren einer Perserkatze, die man in die Enge getrieben hatte. Dumpf und gefährlich leise.

„Lassen Sie Karl aus dem Spiel.“ Linas Augen funkelten.

„Warum sollte ich das tun?“

Jack hatte jetzt endgültig die Faxen dicke. Er hatte sich weder um diesen Job gerissen, noch stand er besonders darauf, angelogen und manipuliert zu werden. Und böse knurren konnte er auch.

„Wenn Sie mir nicht augenblicklich erzählen, worum es hier wirklich geht, informiere ich Rodgaus höchstpersönlich über diesen mysteriösen Karl und dass Sie ihn um jeden Preis schützen wollen.“

„Sie wissen ja nicht was Sie tun“, fauchte Lina wütend. Und wieder.

„Sie wissen ja gar nicht was Sie da tun.“ Dabei schlug sie mit ihren kleinen Fäusten auf Jacks Brust ein.

„Vielleicht“, knurrte Jack zurück und hielt ihre beiden Arme fest.

„Was ich weiß ist, dass Sie und dieser Karl gestern Nacht zusammen mit den beiden anderen Typen im 16ten Stock waren und sich Franz von Moor vorgeknöpft haben. Wahrscheinlich wollten Sie ihm ganz profan ein bisschen Geld abnehmen. Aber irgendwas ist schiefgelaufen. Ihr Karl hat Franz von Moor einen sauberen Durchschuss verpasst und Ihre beiden Kumpane mussten dafür ins Gras beißen.“

Lina sackte plötzlich in sich zusammen und kauerte an den Baum gelehnt zu Jacks Füßen.

„Das ist nicht wahr“, schluchzte Lina. „Karl wollte Franz nur einen Denkzettel verpassen.“

Jack ging vorsichtig vor Lina in die Hocke, bereit bei ihrem nächsten Ausbruch sofort aufzuspringen.

„Er würde seinem Bruder niemals etwas antun.“

Bruder, es war der eigene Bruder. Jack war vollkommen baff. Du liest zu selten die Bunte, mein Lieber.

„Franz hat da deutlich weniger Hemmungen, was?“, platzte es aus Jack heraus.

Tränenüberströmt hob Lina den Blick und umklammerte Jacks Hände.

„Ich hab Franz heute im Präsidium gesehen, Jack. Er wird mich umbringen. – Ich kann nicht mehr zurück. Helfen Sie mir.“

Nackte Angst lag jetzt in Linas Stimme. Ihre Augen flehten Jack an.

„Bitte glauben Sie mir.“

In Jacks Kopf wirbelten die Gedanken durcheinander. Abgesehen davon, dass er für lange Zeit hinter Gittern landen würde, wenn er sich einfach mit der einzigen Zeugin oder wahlweise Hauptverdächtigen aus dem Staub machen würde, hatte er keine Ahnung wie er das anstellen sollte.

Der Oberinquisitor Rodgaus und seine vier Schmidts würden sicher nicht winkend und Reis verstreuend Spalier stehen. Zum anderen wurde Jack unangenehm bewusst, dass er auf dem besten Weg war, sich in diese fleischgewordene Pandora zu verlieben. Wie auch immer er sich entschied, er konnte nur verlieren.

Freundlicherweise wurde Jack die Entscheidung in Form eines immer stärker anschwellenden Motorenlärms von jenseits der Friedhofsmauer abgenommen. Irritiert wandten sich Jack und Lina um. Im selben Augenblick traten ihre Bewacher aus den Schatten der umliegenden Bäume. Jack sah, wie sie sich beunruhigt Zeichen machten. Rodgaus schien als einziger beinahe unbeteiligt dem anschwellenden Straßen- und Motorenlärm zu lauschen.

Andächtig, summte er Händels „Messias“.

Hallelujah. Dachte Jack, genau in dem Moment, als der Tanklastzug die aus den Steinen der alten Frankfurter Synagogen aufgebaute alte Friedhofsmauer durchschlug und in hohem Bogen auf sie zugeflogen kam.

Für den Bruchteil einer Sekunde war im Führerhaus der Schatten einer Guy Fawkes Maske zu erkennen. Der Truck schien größer und größer zu werden und füllte schon fast Jacks gesamtes Blickfeld aus. Gleich würde er sie zerquetschen wie zwei vergessene Osterhasen. Doch dann bohrte sich die mächtige Motorhaube des 40-Tonners wenige Meter entfernt in Paulinchens Grab.

Es war auf die Sekunde genau 11:30 Uhr.

Der Tankauflieger beschrieb knirschend einen Halbkreis und zertrümmerte altehrwürdige Grabstätten und umstehende Bäume, bevor er ächzend und fauchend zur Ruhe kam. Der Geruch auslaufenden Benzins lag in der Luft. Aus dem Augenwinkel sah Jack, wie sich Rodgaus Männer mit gezogenen Pistolen in Bewegung setzten. Lina lehnte eigentümlich steif am Baum und starrte scheinbar teilnahmslos auf die Lücke, die der Truck in der Friedhofsmauer hinterlassen hatte. Jack folgte ihrem Blick und das Blut gefror ihm in den Adern. Aus der Lücke flog in hohem Bogen eine brennende Fackel in Richtung des kleinen Benzinteiches, der sich in Windeseile um den Tanklastzug gebildet hatte und beinahe bis zu ihren Füssen reichte.

Jack reagierte sofort. Er klemmte sich Lina, die noch immer stocksteif wie eine Schaufensterpuppe am Baum lehnte, unter den Arm und rannte so schnell er konnte in die gegengesetzte Richtung.

Langsam wird das zur Gewohnheit.

Auch Rodgaus Männer hatten die Richtung geändert und entfernten sich parallel zu Jack ebenfalls von der Gefahrenquelle. Dann ging alles sehr schnell.

Hinter ihnen explodierten mehr als 30.000 Liter Benzin in einem gigantischen Feuerball. Die Druckwelle warf Jack zu Boden. Noch im Fallen drehte sich Jack zur Seite um den Sturz für Lina abzufangen. Die schien inzwischen wieder Kontrolle über ihren Körper erlangt zu haben und klammerte sich mit einem erstickten Schrei an ihn. Jack schlug hart mit der Schulter auf und drehte sich, von Lina eng umschlugen, noch einige Male um die eigene Achse, bis der Eingang einer alten Familiengruft sie bremste. Ein verwittertes Engelspaar breitete schützend seine Flügel über sie aus.

Jack richtete sich stöhnend auf und warf vorsichtig einen prüfenden Blick in die Runde. Von Rodgaus und seinen Männern war weit und breit nichts zu sehen. Gerade als er sich wieder zu Lina umdrehen wollte, hörte er hinter sich ein Geräusch und Linas „Nein!“.

Dann traf etwas Hartes krachend seinen Hinterkopf und ein tiefes gnädiges Schwarz trat an die Stelle seines Bewusstseins.

Occupys Soldaten

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