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Auf der Suche nach den Quellen

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Die Yoga-Sutren des Patanjali gelten heute in den meisten westlichen Yogalehrausbildungen als der wichtigste philosophische Basistext. Eine Arbeit über den Achtfachen Pfad zu schreiben oder am Beispiel zentraler Begriffe die Psychologie des Yoga zu erklären gehört zu den Pflichtübungen in gegenwärtigen Yogalehrausbildungen. (In meiner Hatha-Yogalehrausbildung nach den Kriterien der Europäischen Yogaunion waren die Sutren jedenfalls von zentraler Bedeutung.)

Der Text dürfte in der Zeit zwischen 200 v. Chr. bis 200 n. Chr. geschrieben worden sein und wird einem Mann namens Patanjali zugeschrieben. Da mehrere Gelehrte damals diesen Namen trugen, unter anderem auch ein großer Grammatiker, wird heute angenommen, dass mehrere Personen für den Text verantwortlich zeichnen.20

Alle 195 Sutren sind in einem auf das Essenzielle verknappten Stil verfasst. Verstehen kann man ein Sutra also nur, indem man sich durch die Kommentare liest. Als einer der ersten und berühmtesten Kommentator:innen des Yoga-Sutra gilt Vyasa, dessen Leben, ebenso wie bei Patanjali, mit vielen Mythen angereichert ist. Auch heute zählt es zu den noblen Aufgaben von Yogalehrer:innen, die des Sanskrit mächtig sind, eine eigene Übersetzung vorzulegen, sie zu kommentieren und dadurch den Yoga auch an den Zeitgeist anzupassen. Insbesondere die Recherchen und Forschungsergebnisse von David Gordon Whites »The Yoga Sutra of Patanjali. A Biography«21 machten mir klar, wie gerade dieser Text immer schon als ein Medium benutzt wurde, um aktuelle Einflüsse und Meinungen von Interessengruppen durch Yoga zu verbreiten. Das scheinbar Immerwährende und Immergleiche treibt also viele Blüten, wird in vielerlei Manifestationen interpretiert.

Besonders die Rolle von Swami Vivekananda ist in diesem Zusammenhang zentral zu erwähnen! 1896 erschien sein Buch »Raja Yoga«, worin die Yoga-Sutren für westliche Leser:innen gut verständlich aufbereitet werden. Im ersten Teil, der ebenfalls mit »Raja Yoga« betitelt ist, erklärt er den Achtfachen Pfad, wobei er den größten Teil seiner Ausführungen auf das psychische Prana und seine energetischen Wirkungen lenkt. So fällt mehrmals das Wort Elektrizität, eine Reverenz wohl vor dem damaligen Zeitgeist und das an Elektromagnetismus interessierte Publikum. Der Schwerpunkt, den ich in meinem Text setze, die Yamas und Niyamas, waren ihm im ersten Teil nur gezählte 93 Wörter wert. Trotzdem schmälerte er nicht ihre Bedeutung: »Sowie diese beiden fest begründet sind, wird der yogin die Wirkung seines Übens spüren. Ohne sie wird es immer fruchtlos bleiben.«22

Im zweiten Buchteil bringt Swami Vivekananda dann eine komplette Übersetzung inklusive Kommentar der Sutren. David Gordon White weist uns nun darauf hin, dass der Begriff des Raja-Yoga nicht von Patanjali stammt, sondern aus der Hatha-Yoga-Pradipika, verfasst im 15. Jahrhundert n. Chr., und dort dem körperorientierten Hatha-Yoga als höchstem Weg der Vergeistigung übergeordnet ist. Swami Vivekandanda nahm diesen Begriff Raja-Yoga und setzte ihn mit dem Achtfachen Pfad gleich: »Raja-yoga besteht aus 8 Stufen.«23 Für das Wiedererstarken des Yoga in Indien, aber vor allem für das erwachende Interesse am Yoga im Westen spielte diese Ungenauigkeit offenbar keine Rolle. Im Gegenteil: Für Swami Vivekananda war nach White diese Überhöhung und Gleichsetzung von Raja-Yoga und dem Achtfachen Pfad aus dem Yoga-Sutra eine Möglichkeit, sich von fakirischen und schlecht beleumdeten Straßenyogis zu distanzieren und einen neuen, sauberen Yoga im Sinne des Neo-Vedanta in die Welt zu setzen.

Somit trug Swami Vivekananda viel zum Bekanntwerden der Yoga-Sutren im Westen bei, vernebelte aber gleichzeitig etwas die Quellen. Ebenfalls interessant ist, dass er, als erster indischer Yoga-Superstar im Westen, den Schwerpunkt seiner Erläuterungen auf den Achtfachen Pfad lenkte, obwohl dieser von traditionellen indischen Gelehrten nicht als das Herzstück des Yoga-Sutra angesehen wird. Der Erfolg gab ihm recht. Er erkannte wohl das große didaktische Potenzial dieses Teilstücks aus dem Yoga-Sutra.

Diese »Ungereimtheiten« sollen die großen Leistungen des Swami Vivekananda nicht schmälern. Vor allem schaffte er es, die Yoga-Sutren den Menschen im Westen verständlich zu erklären – er war ein großer sprachlicher und interkonfessioneller Brückenbauer.

Ich finde es einsichtig, dass ein Text, der vor rund 2.000 Jahren verfasst worden ist, in seiner konkreten lebenspraktischen Auslegung einem Wandel ausgesetzt ist. Es ist sinnvoll, moralische Kriterien an die jeweiligen vorherrschenden Lebensentwürfe anzupassen. Ich möchte auch noch ein Stück weitergehen und postulieren: Auch eine Integration von Werten und Begriffen, die vor 2.000 Jahren noch nicht vorstellbar gewesen sind und auf die wir heute Wert legen, darf angedacht werden, zum Beispiel die Idee des Humanismus, der Menschenrechte oder die Gleichberechtigung von Mann und Frau.

Anpassen darf allerdings nicht das Streichen von unaufgebbaren Kernaussagen bedeuten. Pastor Bartholomäus Kalscheur bringt diesen Anspruch wunderbar auf den Punkt:

»Es geht – wie bei ethischen Erwägungen – darum, das Grundlegende und Unaufgebbare zu benennen und es ins Bewusstsein der Betroffenen zu heben, damit das Hinzukommende als solches erkannt und auch relativiert werden kann: Kontinuität zwischen Bewahrung und Veränderung. Anpassungen setzen grundlegende Werte nicht außer Kraft. Ethische Prinzipien bleiben aber nur in dem Maße prägend, wie es gelingt, ihre Relevanz für die Fragen der Menschen heute aufzuzeigen.«24

Ich beziehe mich in meinen weiteren Ausführungen nur auf einen kleinen Ausschnitt des Yoga-Sutra, nämlich auf jene Sutren, die als Yamas und Niyamas die ersten beiden Stufen des Achtfachen Pfades beschreiben und auf die vier heilsamen Qualitäten aus dem ersten Kapitel (YS 1.33.), die ich im Folgenden als Konzept der Bhavanas bezeichnen werde. Ich könnte mir inzwischen vorstellen, dass gerade diese Passagen von zwei sozial motivierten religiösen Bewegungen inspiriert wurden, die zeitgleich zur Entstehung des Textes bedeutsam wurden: dem Buddhismus und dem Jainismus.

David Gordon White schreibt, dass verschiedene Begriffe von Patanjali ungewöhnlich für den Yogakontext verwendet wurden und dass die Sprache der Sutren oft näher an einem »Buddhist-Hybrid-Sanskrit«, also einem Sanskrit des frühen Mahayana-Buddhismus, ist, als dass sie dem klassischen Hindi-Sanskrit entspräche.25 Das ist für mich auch ein Indiz dafür, dass ein Näheverhältnis des Autors zum Buddhismus existiert haben musste. Im Konzept der Bhavanas wird das dann überdeutlich. Diese vier Haltungen gibt es im Yoga und im Buddhismus, wo sie als Grundlage von Meditationsübungen sowohl im Theravada- wie auch im Mahayana-Buddhismus zu finden sind. Bhavanas werden im Buddhismus als Brahma-Viharas bezeichnet, als erhabene Wohnstätten für Metta (die liebende Güte), Karuna (das Mitgefühl), Mudita (die Mitfreude) und Upekkha (den Gleichmut). Diese Begriffe kommen aus dem Pali, der Sprache, in der die Lehrreden des Buddha verschriftlich wurden. Die westliche Umschrift in Sanskrit für Yogaübende sieht nahezu identisch aus: Maitri, Karuna, Mudita und Upeksha. Viele Yogi:nis von heute integrieren in ihren Unterricht folglich auch Elemente der buddhistischen Metta-Meditation.

Auch der Jainismus ist etwa zur gleichen Zeit wie der Buddhismus im 6. Jahrhundert v. Chr. entstanden und zählt noch heute zu den sieben Hauptreligionen Indiens. Er gilt als eine reformorientierte Abspaltung aus der vedischen Kultur des Brahmanismus – ebenso wie der Buddhismus und der Sikhismus. Im Jainismus wird kein höchster Schöpfergott verehrt, sondern besonderer Wert auf die Taten der Gläubigen gelegt.26 Das Gelübde spielt in der Abwehr von schädlichem Karma bei den Jains eine große Rolle. Als die fünf »Großen Gelübde« gelten: »der Gewalt zu entsagen, die Wahrheit zu sprechen, nicht zu stehlen, sexuelle Enthaltsamkeit zu üben und nicht materiellen Dingen anzuhaften.«27 Diese Auflistung entspricht, auch in der Reihenfolge, den Yamas auf der ersten Stufe des Achtfachen Pfades von Patanjali. Bei den Jains spielen sie allerdings eine wesentlich zentralere Rolle und müssen durch Taten bezeugt werden.

Wie man so ein Gelübde politisch einsetzen kann, hat Mahatma Gandhi vorgelebt. Seine Familie war vertraut mit dem Jain-Kult und generell offen für verschiedenste religiöse Strömungen. Margaret Chatterjee schreibt dazu: »Die Jain-Einflüsse im Gujarat zur Zeit Gandhis waren in der Tat außerordentlich stark. Raychandbhai, der Heilige Jain-Juwelier, war für Gandhi am ehesten das, was man einen Guru nennen könnte. Er ging geduldig auf eine lange Reihe von Fragen ein, die Gandhi ihm aus Südafrika gestellt hatte.«28 Gandhi legte sein Keuschheitsgelübde 1906 als Teil seines Satyagrahi-Kampfes ab, um damit aller Welt zu demonstrieren, wie ernst es ihm war, seine Energie ganz für ein von der Kolonialmacht England befreites Indien einzusetzen. Er hat dieses Jain-Gelübde politisch und medienwirksam eingesetzt.

Zurück zu Patanjali, der die Wirkkraft dieser Moral offenbar erkannte und es förderlich fand, sie in den Yoga zu integrieren. Es sind Regeln, die auf Gemeinschaft und ein achtsames Miteinander abzielen und höchstwahrscheinlich, so meine Hypothese, nicht von asketischen Waldmännern, sondern von radikalen Sozialreformer:innen entwickelt worden sind. Ich finde es jedenfalls denkbar, dass bereits an den »Quellen des Yoga« nicht alles Yoga war, sondern schon damals der Yoga von anderen Strömungen inspiriert wurde. Eine Vorgehensweise, die für uns westliche Yogalehrende des 21. Jahrhunderts übrigens ganz selbstverständlich ist. Denn es muss uns ja, damals wie heute, um die Sache selbst gehen, also um die Frage, wie wir in heilsamer Weise unser Miteinander regeln können, und nicht darum, welches Logo auf welcher Idee klebt.

Yoga und soziale Verantwortung

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