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Das Übungsfeld abstecken

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Beginnen wir mit den Niyamas, denn es ist wesentlich leichter, diese in einem Übungsfeld zu verorten. Da sie Empfehlungen für einen Erfahrungsweg im eigenen Spüren sind, womit wir auch unsere inneren Ressourcen erschließen können, empfiehlt sich ein klassisches Yogasetting. Wir praktizieren meist auf einer ca. 180 x 80 cm großen Matte, eventuell noch unterstützt von einem Sitzkissen und einer Decke, wir haben den Raum vorher gelüftet, üben alleine oder gemeinsam in einem Kurs. Für Selbsterforschung und weitere Inspiration kann es nützlich sein, sich mit ein paar guten Büchern zu umgeben sowie Bleistift und Papier für Notizen und tiefergehende Überlegungen in Reichweite zu legen.

Unter welchen Bedingungen aber können Yamas, die moralischen Grundwerte, geübt werden? Wie kann ich dafür ein Übungsfeld abstecken? Was braucht es, um Moral eine Struktur zu geben, entlang der ich dann konkrete Überlegungen anstellen kann? Ich weiß, wie ich seriöse Asanapraxis anleiten kann, aber welche Ansprüche stelle ich an mein moralisches Denken, um von einer allzu großen Beliebigkeit wegzukommen?

Exemplarisch hierfür ist die Arbeit der Soziologen Andreas Hajdar und Dirk Baier. Sie haben 2004 eine Studie publiziert, in der sie die Übernahme von sozialer Verantwortung an Chemnitzer Jugendlichen beforschten.31 Dafür brauchten sie Klarheit über die »Beschaffenheit moralischen Denkens« aus einer soziologischen Perspektive. Sie bedienten sich dabei der Vorarbeiten des französischen Soziologen Emile Durkheim und seiner Definition von Moralität.

Durkheim gilt zwar als Gründungsvater der Soziologie, hat aber ebenso leidenschaftlich Pädagogik unterrichtet. Erziehung war für ihn ein wichtiger Teil der Soziologie, eine soziale Tatsache.32 In einer Vorlesungsreihe 1902/03 an der Sorbonne versuchte er, die ausschließliche laiische Moralerziehung, die Frankreich damals seit zwanzig Jahren verfolgte, durch eine reine vernunftmäßige moralische Erziehung, »der jede Anleihe auf die Prinzipien untersagt ist, auf denen die offenbarten Religionen beruhen«,33 weiter zu untermauern. Er suchte also nach dem Grundlegenden und Wiedererkennbaren, das in jeder Moral zu finden sein muss, und trug drei Elemente der Moralität vor:

1. Element der Moralität »Der Geist der Disziplin«: Dieser besteht erstens aus Regelmäßigkeit, also aus festen Gewohnheiten, und zweitens aus einer Autorität, die man respektiert. Welche Autorität ist aber damit gemeint? Gott ist es nicht – ist es ein:e einzelne:r Lehrer:in? Für Durkheim ist es die Autorität der Kollektivität34 und der kollektiven Meinungen: »Das Individuum muss derart wesend sein, dass es die Höherwertigkeit der moralischen Kräfte fühlt und sich vor ihnen beugt.«35 Sich-Beugen heißt, sich selbst Grenzen zu setzen, heißt auch, zu verzichten. Diese internalisierten kollektiven Meinungen wirken also nach Durkheim wie ein:e Lehrmeister:in: »Denn durch sie lernen wir jene Zurückhaltung der Wünsche, ohne die der Mensch nicht glücklich sein könnte.«36 Als fortschrittlicher Pädagoge war ihm klar, dass dies nur bedeuten kann, Menschen zu ermutigen, sich entsprechend ihrer Individualität und ihrer eigenen Natur zu entwickeln. Verzicht braucht es trotzdem, weil der Mensch einfach ein begrenztes Wesen ist. Kritik darf angebracht werden, der Verzicht, den Durkheim meint, basiert auf einer inneren Erkenntnis.

2. Element der Moralität »Anschluss an die soziale Gruppe«: Moral existiert nur in einem Kollektiv, wodurch der Mensch lernt, das Kollektiv in die Handlungsplanung zu integrieren. Hier wird eine Idee formuliert, die Iris Marion Young etwa hundert Jahre später auch einfordert, wenn sie schreibt, dass strukturelle Ungerechtigkeit nur im Kollektiv gelöst werden könne.37 Moral ist also per se sozial.

Der Yoga sieht das naturgemäß anders: Moralische Entwicklung ist im Yoga auch in der Isolation, auf dem Weg einer inneren Erfahrung, möglich. Da ich diese Moralitätskriterien nur auf die Yamas anwenden möchte, entsteht hier aber kein Widerspruch.

3. Element der Moralität »Geist der Autonomie«: Moral kann nur dann kollektiv verbindlich werden, wenn sie als individuelle Freiwilligkeit erlebt wird. Und dafür braucht es Wissen: »Das ist keine Autonomie, die wir fertig von der Natur bekommen, die wir bei der Geburt unter unseren Grundeigenschaften vorfinden. Wir machen sie uns selbst in dem Maß, wie wir die Dinge nach und nach besser begreifen.«38 Für Durkheim als Pädagogen hieß das, Moral nicht zu predigen oder einzutrichtern, sondern zu erklären.39

Interessant finde ich, dass hier schon Yogabegriffe durchschimmern, die wir folglich auch noch bei den Niyamas wiederfinden werden: Tapas, die Regelmäßigkeit; Samtosha, die Zufriedenheit trotz Verzicht; Svadhyaya, die Selbsterforschung und das lebenslange Lernen. So können Niyamas also auch auf unser Engagement rückwirken: indem sie uns helfen zu verstehen, was Moral ausmacht.

Ich möchte noch ein viertes Element für Moralität hinzufügen: die Zukunftsorientiertheit bzw. die Vision für eine enkeltaugliche Zukunft. Das haben wir ja aus der Geschichte der sozialen Verantwortung gelernt: Es braucht den Blick in die Zukunft!

Nun können wir unser Feld entlang dieser vier Elemente aufspannen und Yoga-Moral konkret durchdenken. Ich bezeichne diesen Prozess als »Moralitäts-Check«.

Yoga und soziale Verantwortung

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