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Konzert mit Missklang

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Die folgenden Tage vergingen wie im Fluge. Die Beiden übten so intensiv wie es ihre Zeit erlaubte. Endlich war der ersehnte Tag des Geburtstags gekommen. Tische und Stühle waren neu arrangiert. Das Haus glänzte festlich vom Schein vieler Hunderten von Kerzen, die als Armleuchter die Tische zierten oder an blankgeputzten Messingblakern an den Wänden glänzten.

Nach und nach betraten elegant gekleidete Damen und Herren mit großen Blumenbuketts den Saal. Kurze Begrüßung durch die beiden Senioren des Hauses. Ein Diener wartete mit einem Tablett und einigen Gläsern Champagner und frisch gepresstem Orangensaft. Die meisten Gäste kannten sich seit vielen Jahren. Man befand sich im Kreis der bürgerlichen Aristokratie und der Wohlhabenden, gesellte sich locker in kleinen Gruppen, sprach über das letzte Konzert in der Philharmonie, das von den meisten besucht worden war. Schließlich war man wer und wollte als Kenner der gehobenen Kunstszene angesehen werden. Kurz: Man wollte dazu gehören.

Julia übernahm die Rolle der Gastgeberin und gesellte sich zu der ersten Gruppe:

- Ich freue mich, dass Sie den weiten Weg zu uns gefunden haben. Es ist eine Ehre für uns, Sie bei uns als Gast zu haben.

Eine ältere Dame, mit doppelter Perlenkette und Brillanten im Ohr, legte freundschaftlich ihre Hand auf ihren Arm:

- Aber verehrte Frau Sämann, die Ehre gebührt ganz allein Ihnen. Wenn Sie ein Konzert geben, dann ist es für uns eine Selbstverständlichkeit, dabei zu sein. Mein Mann und ich freuen uns schon sehr auf das Konzert. Gerade das Doppelkonzert von Brahms schätzen wir sehr. Und dass Sie es mit Ihrem Bruder spielen, erfüllt uns mit großer Bewunderung für diese so angesehene und hoch musikalische Familie. Das trifft man nicht alle Tage, dass eine erfolgreiche Unternehmerfamilie so vielseitig ist. Wir schätzen Ihren Herrn Vater sowohl als erfolgreichen Unternehmer als auch als Kunstmäzen. Er tritt immer in vorderster Reihe in Erscheinung, wenn es um die Unterstützung junger Talente geht.

- Ich hoffe, wir werden Sie nicht enttäuschen, sagte Julia mit einem bescheidenen Lächeln.

- Ganz sicher nicht. Wir fragen uns, wie Sie die Zeit zum Üben finden, denn Sie sind bestimmt sehr beschäftigt.

- Das kann man wohl sagen, aber zwischendurch nehme ich mir eine Auszeit, um zu mir selbst zu kommen. Die Musik hilft mir, zur inneren Ruhe zu kommen. Die brauche ich.

- Wie ich höre, leben Sie zurzeit in Nicaragua und arbeiten auf einer Zuckerrohrplantage. Sie sollen dort ein Forschungsinstitut gegründet haben, um die erkrankten Menschen mit den von Ihnen entwickelten Medikamenten zu versorgen. Das finde ich bewundernswert. Vielleicht finden wir nachher noch etwas Zeit, damit Sie uns von Ihren Erlebnissen in der Fremde berichten können. Wir waren nur einmal mit einem Kreuzfahrtschiff in der Karibik, es war sehr schön, aber man gewinnt keinen richtigen Eindruck von dem wirklichen Leben dort.

- Später haben wir bestimmt noch genügend Zeit, uns zu unterhalten. Jetzt muss ich mich noch etwas zurechtmachen und mich auf meinen Part konzentrieren. Ich sehe dort gerade meinen Bruder kommen. Wir müssen uns noch etwas abstimmen.

- Das verstehe ich. Wir wünschen Ihnen viel Erfolg.

- Vielen Dank.

Julia entfernte sich mit einer leicht angedeuteten Verbeugung, indem sie nur den Kopf neigte.

Die Geschwister trafen sich hinter der provisorisch errichteten Bühne, die mit einem Vorhang gegen die Blicke des Publikums abgetrennt war. Sie öffnete einen kleinen Spalt im Vorhang und blickte auf die Gäste:

- Sieh mal Hinrich, dort die elegante Frau in dem roten Abendkleid in der vordersten Reihe, die sich mit Vater unterhält. Das ist die Finanzmaklerin Isabelle von Stephano, von der ich dir schon berichtet habe. Sie hat vor Jahren mein Start-up-Unternehmen finanziert. Wir haben sie kürzlich auf dem Diner des Grafen Ebersbach wiedergesehen.

- Ich kenne sie flüchtig, aber wir haben bisher nie miteinander gesprochen. Sie geht mir aus dem Weg, und ich habe keinen Grund, sie anzusprechen. Ich habe sie schon ein paar Mal in Begleitung unseres Vaters gesehen, sagte Hinrich mit einem Gemisch aus Bewunderung und Ablehnung.

- Und, magst du sie?

- Im Gegenteil! Ich kann sie nicht ausstehen. Vater hält offenbar große Stücke auf sie. Aber ich finde, sie übertreibt etwas. Sie benimmt sich, als wäre sie hier die Gastgeberin, die Herrin des Hauses. Es ist fast peinlich, wie sie durch unsere Räume schwebt und angelegentlich mit den Gästen plaudert.

- Du wirst dich an sie gewöhnen müssen, wenn du hier unternehmerisch tätig bleiben willst, denn sie hat in allen großen Finanzgeschäften ihre Finger drin. Sie kennt hier fast jeden von Rang und Namen. Was sie so im Einzelnen macht, kann ich dir nicht sagen, aber Vater braucht ihre Hilfe bei einigen Krediten, die er von den Banken nicht bekommen kann. Die Banken sind derzeit sehr zurückhaltend mit der Kreditvergabe.

- Aber ich will sie hier nicht sehen. Guck dir mal das affektierte Gehabe an. Ich kann es nicht ertragen. Vor allem ihr aufdringliches Lachen macht mich närrisch. Sie benimmt sich, als wäre sie ein berühmter Hollywood-Star, der die Bewunderer zu Füßen liegen.

- Guck einfach nicht hin. Vor allem nicht während unseres Vortrags. Konzentriere dich voll auf dein Spiel.

- Das ist nicht so einfach. Von dieser Frau gehen negative Schwingungen aus. Sie hat den bösen Blick. Ich spüre es: Sie durchbohrt mich förmlich. Sie will mich vernichten.

Julia wies ihn zurecht:

- Hinrich, sei nicht albern. Im Übrigen, dort drüben am Fenster steht Herr Konselmann. Er ist Berater und Partner einer großen amerikanischen Beratungsgesellschaft. Konzentriere dich lieber auf ihn.

- Wie kommt der hierher?, erkundigte sich Hinrich fast feindlich.

- Ich habe Vater gebeten, ihn einzuladen. Er war damals für den Start-up-Wettbewerb zuständig, bei dem ich den ersten Preis gewonnen habe. Er hat mir geholfen, die Business-Pläne zu erstellen. Sie dienten den Risikokapitalgebern als Grundlage zur Finanzierung meines Unternehmens.

- Und dadurch kam Frau von Stephano ins Spiel?, wollte er wissen.

- Ja, genau. Hier schließt sich der Kreis. Du tätest gut daran, dich mit den Beiden gut zu stellen. Wer weiß, ob du sie nicht später einmal brauchst.

- Ich habe dich verstanden, aber das ändert nichts daran, dass diese Frau ein höllisches Weib ist. Ich rieche förmlich den satanischen Gestank von Schwefel.

Sie begann nun wirklich ärgerlich zu werden: – Hinrich, reiß dich zusammen. Du machst dich lächerlich. Lass uns lieber noch einmal gedanklich die ersten paar Takte durchgehen.

- Ja, lass uns auf die himmlischen Töne konzentrieren. Wir wollen alles Negative ausblenden. Wir brauchen die göttliche Eingebung. Ohne die wird es nicht gehen.

- Besonders die ersten paar Takte sind wichtig. Davon hängt das Gelingen des ganzen Konzerts ab. Dein Lehrer wird das Taktmaß vorgeben, aber ich muss mich auf meine innere Stimme einstellen.

Sie versuchte beruhigend zu wirken:

- Mach dir keine Sorgen, wir werden das schon schaffen.

Voller Unruhe blickte er in den Raum. Seine Augen wanderten umher, ohne einen ruhenden Punkt zu finden:

- Wenn mir nur nicht die Nerven versagen.

- Warum sollten Sie? Du kennst das Werk in- und auswendig.

- Das ist wohl wahr, aber ich bin sehr aufgeregt, weil Vater da ist. Du kennst ihn. Er will immer, dass alles perfekt ist. Manchmal habe ich den Eindruck, als ob er nur auf meinen kleinsten Fehler warte. Nie ist er mit mir zufrieden. Nichts kann ich ihm recht machen. Das regt mich auf. Sieh mal: Mein rechter Arm zittert schon jetzt. Ich kann den Bogen nicht richtig kontrollieren. Ich werde die Saiten nicht gleichmäßig mit dem richtigen Druck streichen können. Dann klingt die Geige nicht.

- Mach dir keine Sorgen, die meisten Gäste werden die Feinheiten der Musik nicht hören.

- Ganz so ist es nicht: Es sind viele Kenner im Saal, die kennen fast jede Note dieses Werkes. Sie haben die großen Geigenvirtuosen unseres Jahrhunderts des Öfteren im Konzertsaal erlebt. Sie werden mich mit ihnen vergleichen.

- Die brauchst du nicht zu fürchten. Dein Spiel ist herausragend. Sie werden von dir begeistert sein.

- Das mag schon sein, aber wen ich wirklich fürchte, das ist unseren Vater, wiederholte er, fast wie ein aufgedrehter Automat, der sich nicht abstellen ließ: Er ist so kritisch, besonders mit mir. Nie kann ich ihm etwas recht machen. Schon wenn er mich so fordernd und abschätzend ansieht, beginne ich zu zittern und bringe keinen richtigen Ton heraus.

Sie sah ihn besorgt an:

- Hinrich, du musst dich zusammenreißen. Ich habe hier ein Beruhigungsmittel. Nimm es, und du wirst schnell wieder dein inneres Gleichgewicht finden und wirst ganz ruhig sein.

Sie reichte ihm eine Tablette und ein Glas Wasser. Er schluckte sie hastig und spülte sie mit einem kräftigen Schluck hinunter.

Sie musterte ihn mit großer Intensität:

- Und? Geht es dir besser?, fragte sie und hoffte, dass er sich schnell wieder in den Griff bekäme.

Er reagierte etwas verunsichert:

- Ich glaube schon. Hoffentlich macht mich das Mittel nicht müde und stört meine Konzentration.

- Sollte es eigentlich nicht. Es lässt dich deine Umgebung in freundlicherem Licht wahrnehmen. Du wirst alles um dich herum in schönen Farben erleben, als ob du in den Himmel schwebst. Ich hoffe nur, dass sich das Publikum mit störendem Geräusch zurückhält. Ich kann es nicht ausstehen, wenn zwischendurch geklatscht wird. Selbst während der Pausen zwischen den Sätzen kann ich es nicht leiden.

- Mir geht es auch so. Manchmal stören mich die geringsten Kleinigkeiten. Dann genügt es, wenn jemand mit einen Bonbonpapier raschelt. Dann möchte ich am liebsten mein Spiel unterbrechen und schreien: Nun nehmen Sie doch endlich das Bonbon aus dem Papier und hören mit dem nervenden Rascheln auf!

- Meistens nehme ich kaum wahr, was das Publikum macht, ich sehe keine Individuen, nur eine unpersönliche amorphe Masse.

- Aber hier ist es anders: Die Menschen sitzen viel dichter am Podium. Du kannst die einzelnen Gesichter sehen. Außerdem kennst du die meisten, das macht es viel schwieriger. Es ist so wie früher, wenn wir unter dem Tannenbaum vor der Familie in kleinem Kreis ein Gedicht vortragen mussten. Auf der großen Bühne in der Aula der Schule war es viel leichter.

Der Senior betrat die Bühne, wendete sich an seine beiden Kinder, die hinter dem Vorhang warteten:

- Seid ihr so weit? Lasst uns anfangen, die Gäste werden langsam unruhig.

Die etwa zwanzig oder dreißig Gäste hatten auf den Stühlen, die für dieses Konzert in Reihen aufgestellt worden waren, Platz genommen und blickten erwartungsvoll auf die Bühne. Für die Nachzügler wurden weitere Stühle an der Seite bereitgestellt. Konselmann hatte im letzten Augenblick noch einen freien Platz hinter dem Gastgeber gefunden. Langsam kehrte erwartungsvolle Stille ein.

- Ja, wir sind so weit, sagte Hinrich. Wir müssen noch unsere Instrumente ein wenig nachstimmen.

Wolfgang Sämann wandte sich an das Publikum:

- Liebe Freunde und liebe Gäste, ich freue mich, dass Sie so zahlreich unserer Einladung zu unserem heutigen Hauskonzert gefolgt sind. Es ist mir eine besondere Freude, dass Sie aus Anlass meines Geburtstags zu mir gekommen sind. Ich freue mich, dass meine Kinder Julia und Hinrich mir und uns allen an diesem Abend eine besondere Freude bereiten wollen. Sie haben mir dies heutige Geschenk gemacht, denn sie wollen mein Lieblingsstück: Das Doppelkonzert von Johannes Brahms spielen.

Verhaltener Applaus unterbrach die Stille. Der Patriarch machte eine Pause und stützte sich auf eine Stuhllehne. Er nahm einen Schluck Wasser. Er dankte mit einer leichten Verbeugung und nahm den Faden wieder auf:

- Zunächst möchte ich unseren verehrten Generalmusikdirektor Professor Bernhard Paulsen herzlich begrüßen. Er ist Ihnen von vielen Konzerten als herausragender Brahms-Interpret bekannt.

Heftiger Applaus brandete auf als Paulsen das Podium betrat und sich routiniert verbeugte.

Bei seinem Erscheinen auf der Bühne wandte sich der Patriarch direkt an ihn:

- Lieber Herr Paulsen, Sie sind gerade von einer Tournee nach Japan und China zurückgekehrt. Umso mehr freue ich mich, dass Sie sich trotz Ihrer vielfältigen internationalen Verpflichtungen die Zeit genommen haben, den gesamten Orchesterpart dieses anspruchsvollen Werks auf dem Klavier zu übernehmen. Keine leichte Aufgabe. Es ist eine große Ehre für mich und unser Haus, Sie hier bei uns im Hause zu haben.

- Lieber Herr Sämann, ich bin Ihrer Einladung gern gefolgt, antwortete der Musikdirektor. Ich weiß, was Sie in unserer Stadt für die Musik und die Förderung junger Musiker getan haben, so nehmen Sie meinen Beitrag gleichsam als Dankgeschenk.

Der Senior verneigte sich leicht und fuhr mit seiner Ansprache fort: – Ich bitte Sie, meine Damen und Herren, die Solisten des heutigen Abends mit Applaus zu empfangen.

Julia mit ihrem Cello und Hinrich mit seiner Geige im Arm betraten das Podium. Applaus brandete auf.

Paulsen bat um einen Augenblick der Ruhe. Nach und nach trat Stille ein, das Räuspern und Husten ebbte ab.

- Ich bin sehr froh, Ihnen heute das Doppelkonzert von Johannes Brahms in ungewöhnlicher Besetzung vorstellen zu dürfen. Es handelt sich um sein sinfonisch-konzertantes Abschiedswerk, das die historische Größe des Brahmsschen Oeuvres ausdrucksvoll demonstriert. Trotz seiner Schönheit wird es selten aufgeführt, das mag daran liegen, dass es an der Schwierigkeit liegt, zwei überlegende und übereinstimmende Künstler als Solisten für dieses äußerst diffizile Werk zu gewinnen. Das ist für den heutigen Abend in überzeugender Weise gelungen: Julia Sämann ist extra deshalb aus Nicaragua angereist. Und ihr Bruder Hinrich hat seine Aufgaben als Geschäftsführer der Firma Sämann für ein paar Stunden zurückgestellt und präsentiert sich Ihnen heute als Geigenvirtuose. Julia unterrichtet Musik an der von ihr gegründeten Schule. Sie ist mit ihrem Cello in besonderer Weise verbunden. Sie könnte überall in der Welt als Solistin auftreten.

Applaus brandete durch den Saal wie Wellen an einer steilen Felsenküste vielfach reflektiert.

Paulsen hob die Hand zum Zeichen, dass jetzt Ruhe einkehren sollte:

- Hören Sie nun das Doppelkonzert von Brahms für Violine und Violoncello a-Moll Opus 102. Lassen Sie mich einleitend noch ein paar Bemerkungen zu diesem Werk machen: Brahms hat es 1887 komponiert. Ich bedaure, dass ich Ihnen das Werk nicht in seiner vollständigen Orchester-Besetzung vorführen kann. Es wären etwa hundert Musiker erforderlich gewesen, was ein erhebliches logistisches Problem dargestellt und auch die Möglichkeiten dieses Raumes überfordert hätte. Aber ich werde mir alle Mühe geben, Ihnen am Flügel den Eindruck von der Farbigkeit und Schönheit dieses Werkes zu vermitteln.

Paulsen nahm seinen Platz am Flügel ein. Hinrich stellte sich so, dass er gleichermaßen Blickkontakt zum Pianisten und zu Julia hatte. Sie nahm am Podiumsrand Platz, so dass sie sowohl ihren Bruder als auch den Pianisten im Blick hatte. Hinrich sah seine Schwester fragend an und sie nickte.

Der Hausherr setzte sich in der ersten Reihe in die Mitte zwischen Isabelle von Stephano und seiner Schwerster Ingrid. Die beiden Damen waren modisch elegant gekleidet. Isabelle trug ein enganliegendes, tief ausgeschnittenes, leuchtend rotes Kleid, und Ingrid trug ein elegantes Kostüm, das ihr vorteilhaft stand. Sie hatte sich ihre tadellose Figur durch hartes Training im Fitness-Studio bewahrt.

Der Pianist regulierte seinen Sitz auf die richtige Höhe. Er schlug ein paar Töne und Akkorde an. Hinrich übernahm den Kammerton A, korrigierte ein wenig die Stimmung seiner Geige und Julia tat das Gleiche mit ihrem Cello. Zufrieden nickten sie. Eine aufmerksame Erwartung erfüllte den Raum. Die Gäste erwarteten einen ganz besonderen musikalischen Genuss abseits des normalen Musikbetriebs der Philharmonischen Konzerte. Ein erlesener Kreis musikinteressierter Hörer hatte sich versammelt. Sie erwarteten das Außergewöhnliche, etwas bisher nie Gehörtes.

Paulsen hob den Arm zum Zeichen, dass er nun beginnen wolle. Im Saal trat erwartungsvolle Ruhe ein. Der erste Takt begann mit dem energischen Kopfteil des Hauptthemas. Schon im fünften Takt setzte Julia ein und umspielte das Thema. Sie trug ein langes schwarzes schulterfreies Kleid, das ihre schlanke Figur elegant betonte. Hinrichs Violine brachte zarte Andeutungen des zweiten Themas. Nach wenigen Takten spielten sich die beiden Solisten die einzelnen Motive wechselseitig zu und zwangen das Orchester (hier dargestellt durch das Klavier) zu einer ausführlichen Exposition.

Hinrich trug einen maßgeschneiderten Frack. Rhythmisch im Takt tänzelte er elegant über das Podium und wiegte sich in den Hüften, wie ein zweiter Paganini. An besonders ausdrucksvollen Passagen warf er seinen Kopf in den Nacken und beugte sich alsdann über seine Geige, in die er sein Ohr zu tauchen schien, um auch nicht die kleinste Nuance des Tons zu versäumen.

Er fixierte mit seinen dunklen Augen die Frau in dem roten Kleid, die neben seinem Vater saß, und die jede seiner Bewegungen andächtig in sich aufnahm, als sei er speziell für sie vom Himmel als Erzengel Gabriel gesandt. Schon wähnte sie sich als seine Geliebte und träumte von weltweiten Tourneen an der Seite des international gefeierten Stars. Traum und Realität verschwammen vor ihren Augen zu einer Einheit.

Der Pianist verstand es meisterhaft, den Klang des vollen Orchesters mit Flöten, Oboen, Klarinetten, Fagotten, Hörnern und Trompeten, Pauken und Streichern auf dem Klavier zu intonieren, so dass die Zuhörer glaubten, ein ganzes Orchester zu hören. Die herrlichsten Akkorde erfüllten den Raum und unterdrückten jedes störende Geräusch. Kaum, dass die Hörer zu atmen – oder gar zu husten – wagten. Sie lauschten den überirdischen Klängen, die gleichsam vom Himmel zu stammen schienen.

Die beiden Solisten eröffneten die klangvolle Themenaufstellung und setzten starke Akzente. Das Orchester – einzigartig dargestellt vom Pianisten – griff die Themen auf und begann mit der Durchführung, indem die Tempi variierten und Umkehrungen mit neuen Klangerlebnissen brachten.

Nach einer Viertelstunde hatten sie den ersten Satz mit seinen lyrischen Passagen und einer heftigen konfliktbehafteten Durchführung beendet. Die Spannung zwischen den beiden ungleichen Teilen schien sich auf die Hörer zu übertragen. Sie schwankten zwischen heiterer Gelassenheit und heftiger innerer Anspannung. Die Atmosphäre schien plötzlich aufgeladen zu sein, was vielleicht mit der gewittrigen Wetterlage am wolkenverhangenen Himmel zusammenhing. Eine unheilvolle Stimmung ergriff die Menschen und drückte auf die Gemüter.

Die Künstler deuteten mit einer leichten Verbeugung an, dass sie nun für einen Augenblick pausieren würden. Zögernder Applaus begann sich hier und da zu erheben, wurde aber von den erfahrenen Konzertbesuchern mit leichtem Zischen zum Schweigen gebracht. Man war noch nicht am Ende des Konzerts angelangt und wollte nicht durch störende Nebengeräusche aus seinen überirdischen Empfindungen gerissen werden. Und doch gab die Unterbrechung eine willkommene Gelegenheit zum Durchatmen. Die innere Spannung löste sich allmählich auf und wich vollkommener Zufriedenheit.

Der Patriarch nickte seinen Kindern anerkennend zu und hob seinen Daumen zum Zeichen des zu erwartenden Erfolgs. Isabelle hatte ihren Kopf an seine Schulter gelehnt. Ihr schwarzes Haar war mit einem perlenbestickten Band, das eher einem Diadem glich, zur Seite gerafft. Sie war schon eine eindrucksvolle Frau, die sich ihrer anziehenden Wirkung durchaus bewusst war. Sie genoss ihre herausgehobene Rolle als Frau an der Seite des Hausherren. In der kurzen Pause begannen die Gäste untereinander mit versteckten Andeutungen über die künftige Rolle dieser ungewöhnlichen Frau an der Seite des Patriarchen zu raunen. Würde sie die künftige Hausherrin sein? Man könnte es sich durchaus vorstellen. Eine Frau an seiner Seite wäre ihm wirklich zu wünschen, aber war sie nicht zu jung? War er nicht zu alt für sie? Die beiden trennten etwas mehr als dreißig Jahre. Und er hatte seine besten Jahre hinter sich gelassen, wie jedermann leicht erkennen konnte. Sie aber hatte ihr Leben noch vor sich.

Die Solisten nahmen erneut ihre Plätze ein. Julia, rückte ihren Stuhl hinter dem Cello zurecht. Hinrich zupfte zart ein paar Saiten, indem er mit dem einen Ohr in das Instrument zu kriechen schien. Damit war allen Beteiligten klar, dass sich hier ein besonders feinsinniger und außerordentlicher Künstler auf den nächsten Einsatz vorbereitete, den er nun vor einem erlesenen Publikum zelebrieren würde. Zu diesem Zeitpunkt wusste allerdings noch niemand, dass er sehr nervös war. Er versteckte seine Unsicherheit hinter ein paar großen Gesten, die er bei anderen Virtuosen abgesehen hatte und die er für besonders wirkungsvoll hielt.

Der zweite Satz begann mit kraftvollen Oktaven der Solisten. Das einfache Kopfthema wurde vom Orchester (hier vom Flügel) farbig begleitet. Ein inniges Seitenthema, das im terzverwandten F-Dur steht, erfährt bald eine stärkere klanglich-harmonische Differenzierung.

Cello und Geige wechselten sich harmonisch ab und warfen sich spielerisch die Bälle zu. Julia beherrschte souverän die Szene und zog das Publikum magisch in ihren Bann. Das anmutige, makellose Gesicht, die entblößten Schultern, die fast andächtige Versenkung in die wechselnden Stimmungen der Musik ließen sie wie von allem Irdischen abgehoben erscheinen.

Der erste Teil erklang mit aufgelockerter Begleitung; der zweite Teil folgte mit einer reizvollen Coda. Der Satz strömte Kraft und Zuversicht aus. Sie übertrug sich aber nicht auf den Interpreten. Im Gegenteil: Hinrich war total verunsichert. Er spürte die unerklärlichen, geheimnisvollen, negativen Schwingungen, die von der Dame in dem roten Kleid ausgingen. Sie schienen ihn zu umgarnen, legten sich wie ein Kokon um seinen Leib. Raubten ihm die Sinne.

In diesem Augenblick geschah das Unfassbare: Julia eilte dem Tempo voraus und fiel dann unerwartet zurück. Die Solisten drohten als musikalische Einheit auseinanderzufallen. Die Spannung ließ nach. Hinrich bemerkte es und wusste, dass auch seine Schwester den negativen Schwingungen nicht entkommen konnte. Er wurde nervös und hoffte, dass sie sich bald wieder in den Griff bekommen würde. Sie blickte hilfesuchend auf den Pianisten am Flügel. Hinrich spürte die Not seiner Schwester und konnte sich kaum auf sein Spiel konzentrieren. Er kannte die Ursache des Übels: Es war die Frau in Rot mit dem schwarzen Haar. Sie war die Judith aus dem Alten Testament, die seinen Kopf forderte und ihn schließlich bekam. Hinrich ließ den Bogen sinken und sah keine andere Möglichkeit, außer von Neuem zu beginnen.

Entsetzen und Fassungslosigkeit erfüllten den Raum. Der junge Mann stand wie ein begossener Pudel vor dem Publikum und blickte verzweifelt auf seinen Vater, wie er es in ähnlich kritischen Situationen bei öffentlichen Auftritten oft getan hatte. Aber der sonst so dominante Vater konnte in dieser Situation nicht eingreifen und wandte sich verärgert ab.

In diesem Augenblick begann die Katastrophe. Die linke Hand des Vaters begann unkontrolliert zu zittern. Auch Isabelle bemerkte es und griff nach seiner Hand. Sie streichelte sie beruhigend, aber das Zittern ließ nicht nach. Sie beugte sich zu ihm hinüber und gab ihm zu Beruhigung einen Kuss auf seine Wange. Ingrid blickte starr und teilnahmslos aus dem Fenster, wo sich ein gewaltiges Gewitter mit ungeheurer Kraft zu entladen begann. Sie schien von dem Vorfall auf der Bühne nicht betroffen zu sein. Jedenfalls zeigte sie keine Regung. Sie wirkte irgendwie erstarrt.

Hinrich bemerkte die fürsorgliche Reaktion von Isabelle und versuchte erneut sich zu konzentrieren. Es gelang ihm nicht. Er fand nicht wieder in sein Spiel zurück, wusste kaum noch wo er war. Sein Vater runzelte verärgert die Stirn und schaute seinen Sohn missbilligend an, als wenn er sagen wollte: Nun vermassele mir nicht wieder die Schau. Junge, du bist ein Versager, du taugst zu nichts. In der Firma taugst du nicht, und in der Musik, die doch deine eigentliche Domäne ist, auch nicht. Wozu kann ich dich gebrauchen? Was soll ich mit dir machen? Am besten, du gehst deiner Wege. Mein Sohn bist du nicht, mein Nachfolger in der Firmenleitung kannst du nicht werden. Ich habe dir alles ermöglicht. Du konntest die besten Internate und Universitäten besuchen, du konntest mit den besten Lehrern musizieren. Und das ist nun der Dank für mein Bemühen. Du solltest dich schämen.

Wie ein begossener Pudel stand Hinrich ratlos auf dem Podium und hielt sich an dem kleinen Geländer fest. Ihm war schwindelig, es drehte sich um ihn. Der Boden schwankte, schien sich unter ihm zu öffnen, als wolle die Erde ihn verschlingen. Er wusste nicht, was er machen sollte. Der alte Herr wurde bleich, rutschte seitlich von seinem Sessel und fiel auf den Boden. Sofort bemühte sich Isabelle um ihn.

Ingrid löste sich aus ihrer Erstarrung, erhob sich und wandte sich den Gästen zu. Sie rief mit lauter Stimme:

- Wir brauchen einen Arzt. Befindet sich ein Arzt hier unter uns?

Lähmende Stille herrschte im Saal. Niemand antwortete. Einige Gäste hatten sich von ihren Sitzen erhoben und versuchten zu erkennen, was geschehen war. Konselmann beugte sich vor und erkannte, dass er nichts tun konnte. Hier konnte nur ein Arzt helfen.

- Rufen Sie den Notarzt, rief Ingrid. Sie sollen sofort einen Rettungswagen schicken. Sie sollen sich beeilen, es geht um Leben und Tod.

Hinrich war zitternd vor Aufregung und Entsetzen vom Podium gestiegen und hatte sich verschämt hinter den Vorhang zurückgezogen. Er hätte sich am liebsten wie eine Maus in ein Loch verkrochen. Bloß mit niemandem sprechen, ich will jetzt nur noch allein sein, dachte er. Julia war zu ihrem Vater geeilt, wurde jedoch von Ingrid energisch zurückgewiesen: Du kannst hier jetzt nicht helfen, ich kümmere mich um meinen Bruder. Enttäuscht zog sich Julia zurück.

Hinter der Bühne trafen sich die Geschwister im kleinen Nebenraum, der für die Breitstellung der Getränke reserviert war.

- Vorwurfsvoll sprach Hinrich seine Schwester an: Julia, was war los mit dir? Warum hast du plötzlich das Tempo verzögert? Wir hatten uns doch darauf verständigt, dass Paulsen die Tempi bestimmen soll. Dann hast du plötzlich das Tempo angezogen, ich aber durfte dir nicht folgen, weil wir es doch anders beschlossen hatten.

- Ich weiß, es war meine Schuld, sagte sie. Die Tempi entsprachen nicht meinem Gefühl. Wir hätten damit die Seele des Werkes zerstört.

- Mag sein, aber hier befinden wir uns auf der Erde, in unserem Elternhaus. Jetzt haben wir viel zerstört. Vielleicht sogar Vaters Leben. Das ist viel schlimmer als die richtige Interpretation der Musik.

- Wir hätten es in jedem Fall zu Ende spielen sollen, sagte sie vorwurfsvoll. Ich habe dir deutliche Zeichen gemacht und das nächste Thema angespielt. Du hättest es nur aufgreifen müssen. Ein paar fehlende Noten, ein Wechsel im Rhythmus: Niemand hätte es gemerkt.

- Es war mir nicht möglich. Und jetzt ist alles aus. Vater wird mir allein die Schuld geben, sagte er kläglich.

- Julia blickte ihn schuldbewusst an: Hinrich, verzeih, ich weiß auch nicht, was mit mir passiert ist. Ich dachte an unser Spiel unter freiem Himmel. Es war damals mit Michel so wunderschön, so überirdisch gewesen. Wir befanden und in vollkommener Harmonie. Jetzt aber fehlte die Seele. Wir spielten wie herzlose, unbeteiligte Automaten. Du wirktest plötzlich so abweisend und so fremd. Was war geschehen?

- Ich kann es dir nicht erklären, denn ich weiß es selber nicht. Meine Nerven versagten, ich merkte, wie mich dieses Teufelsweib mit ihren dunklen Augen fixierte. Als ich sah, wie sich dieses unselige Weib in dem roten Kleid unserem Vater zuwendete und ihm die zitternde Hand hielt. Ich sah unsere Mutter vor mir. Wie sie blutüberströmt im Bett lag. Er brach in Tränen aus.

- Hinrich, du bist von Sinnen. Trink einen Schluck Wasser.

- Ich kann jetzt nicht.

- Reiß dich zusammen. Wir sind hier nicht allein.

- Doch, ich bin allein, von allen verlassen. Vater hatte sich von mir abgewendet. Ich glaube, er war äußerst erregt, weil ich aus dem Konzept gekommen war. Und dann hat sich dies satanische Weib zu ihm gebeugt und ihm einen Kuss gegeben. So schamlos in aller Öffentlichkeit, als ob sie hier an seiner Seite bereits die Herrin sei. Das konnte ich nicht ertragen.

- Aber diese Frau betrifft dich doch gar nicht. Sie hat dir nichts getan. Im Gegenteil, eines Tages wird sie dir vielleicht sogar helfen.

Hinrich war über sein Versagen tief betroffen und auch erzürnt. Sein Zorn richtete sich jetzt auf seine Schwester, die er letztlich für sein Versagen verantwortlich machte. Deshalb reagierte er kalt und abweisend:

- Das geht dich doch gar nichts an. Du lebst nicht hier. Du bist weit weg vom Schuss. Führst dein eigenes Leben, wie auf einer Insel der Glückseligen. Du wirst von Vater finanziell gestützt. Wir müssen hier allein mit der schwierigen Situation fertigwerden. Ich werde nur Hohn und Spott ernten.

- Julia hatte sich wieder gefangen: Das wirst du nicht ändern können, wirst es ertragen müssen. Aber jetzt geht es um unseren Vater. Wir müssen uns um ihn kümmern. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist. Es kann nur ein kurzer Schwächeanfall, kann aber auch etwas Schlimmeres gewesen sein. Ich muss sofort zu ihm gehen und sehen, was zu tun ist.

Die Gäste begannen den Raum zu verlassen. Auch Konselmann drängte hinaus, denn es war ihm peinlich, was er soeben erlebt hatte. Er hätte auch nicht gewusst, was er sagen sollte. Mit wem hätte er sprechen sollen? Julia war mit etwas anderem beschäftigt. Hinrich tat ihm leid. Das wollte er ihm jetzt nicht sagen. Dazu wäre zu einem späteren Zeitpunkt noch genügend Zeit.

Die Kerzen im Saal verlöschten allmählich. Der Ort wirkte kalt und abweisend, man mochte ihn fast feindlich nennen. Hier und da wurden behutsam ein paar Stühle zurechtgerückt. Die alte Ordnung wurde wiederhergestellt. Nun schien alles wie zuvor, und doch war es nicht so: Der Patriarch hatte das Haus verlassen. Nur die Räume waren noch dieselben. Die Beleuchtung des Podiums war ausgeschaltet worden. Dunkelheit begann sich auszubreiten.

Kaum wagten sich die beiden Geschwister im Dämmerlicht des verlöschenden Tages anzublicken. Sie fürchteten den Vorwurf des Vaters, der bisher unausgesprochen war: Ihr habt mich blamiert. Auch du, meine Tochter, hast mich enttäuscht. Das hätte ich von dir nicht erwartet. Ich hatte so große Stücke auf dich gesetzt. Und nun dies! Ihr beide zerstört mein Lebenswerk, und das Werk meines Vaters! Schwer lastete die lähmende Stille auf ihnen. Kaum wagte einer zu atmen.

- Hinrich war am Boden zerstört: Es tut mir leid, ich habe wieder alles vermasselt. Aber eigentlich bin nicht ich daran schuld. Du bist es, aber das verhängnisvolle Schicksal wird letztlich wieder ganz allein an mir hängen bleiben. Vater wird mir die ganze Schuld geben. Ich muss es ausbaden, und du ziehst dich in die Fremde zurück.

- Julia entgegnete ziemlich schroff: Versuche nicht, mir die Schuld an deinem Versagen zu geben. Ich habe das Konzert nicht abgebrochen.

- Ich war es. Es war mir nicht möglich, mich zu fangen. Vielleicht waren es auch die Pillen, die mir die Konzentration genommen haben. Wie dem auch sei: Du hast unsere Vereinbarung nicht eingehalten. Du hast mich aus dem Takt gebracht.

- Schiebe mir nicht die Schuld zu. Sie liegt bei dir. Wenn du meinst, dass du der geeignete Nachfolger für unseren Vater bist, dann beweise es in schwierigen Situationen. Ich lasse mich nicht vor den morschen Karren spannen. Wenn ihr die Firma in den Dreck gefahren habt, dann zieht sie auch wieder heraus. Ich habe mein eigenes Leben und lasse mich nicht wie eine wohlfeile Ware verschachern.

- Er fühlte sich vereinsamt, weil auch seine Schwester ihm Vorwürfe machte. Mit schwacher Stimme sagte er: Wir werden die Firma nicht retten, ich habe keine Hoffnung mehr. Jetzt ist alles aus. Und dabei wollte ich Vater eine Freude machen. Aber die Frau an seiner Seite ist stärker als ich. Sie trägt die Verantwortung. Sie bringt das Unglück ins Haus.

- Sie erhob sich und sagte mit fester Stimme, die keinen Widerspruch duldete: Di schiebst die Schuld wieder auf andere, das hast du auch früher immer getan. Jetzt müssen wir uns erst einmal um Vater kümmern. Ich werde zu ihm ins Krankenhaus fahren, und du kümmerst dich um unsere Gäste. Versuche zu retten, was noch zu retten ist. Du kannst sagen, dass dir das Essen nicht bekommen sei und dass dir schlecht wurde. Du fühltest dich nicht gut. Das werden sie akzeptieren. Vielleicht haben sie sogar Mitleid mit dir.

- Ich werde mich um die Gäste kümmern. Aber ich traue mich nicht, mit ihnen zu sprechen. Sie werden mich fragen, was passiert sei, und ich kann ihnen darauf keine Antwort geben. Ich hasse die Lüge, aber die Wahrheit kann ich auch nicht sagen. Die würde niemand verstehen. Das Geständnis würde mich vollends an den Rand der Gesellschaft stellen.

- Ich denke, du musst versuchen, über den Tod unserer Mutter hinwegzukommen. Vielleicht wäre sogar ein Gespräch mit Frau von Stephano hilfreich. Statt sie zu meiden, solltest du ihre Nähe suchen. Ich glaube sogar, sie ist die einzige, die dir in dieser Situation wirklich helfen könnte, aus deiner psychischen Krise herauszukommen. Sie kann und soll dir unsere Mutter nicht ersetzen, aber sie kann dir helfen, deine innere Stabilität und dein Selbstbewusstsein wiederzufinden.

- Zweifelnd und zugleich auch voller Hoffnung blickte er sie an: Meinst du wirklich? Ich weiß nicht so recht, wie ich es anfangen soll. Sie wird nicht mit mir sprechen wollen, weil auch sie mich für einen Versager hält.

- Sie ließ ihn stehen und wandte sich zum Gehen: Versuche es wenigstens. Sie wird dir nichts Böses tun. Schlimmstenfalls sagt sie nein, aber das glaube ich nicht. Ich vermute sogar, dass sie dich gern mag. Du hast eine ausgeprägt weibliche Seite, das zieht starke Frauen an. Sie brauchen den Gegensatz, suchen das, was sie nicht besitzen.

In kleinen Gruppen verzogen sich die Gäste, tief enttäuscht von dem misslungenen Abend. Dafür waren sie nicht gekommen. Das Versagen von Hinrich war ihnen peinlich. Was wirklich geschehen war, das wussten sie nicht. Sie bedauerten ihn und versuchten ihn wieder aufzurichten. Jedenfalls zeigten sie sich verständnisvoll. Was sie wirklich dachten, sagten sie nicht. Nur eines war ihnen klar. Dies war nicht der künftige Firmenlenker. Er war ein Häufchen Unglück, der ihr Mitleid erregte. Niemand ahnte, welche Rolle Julia dabei gespielt hatte.

- Paulsen kam mit eilenden Schritten auf Hinrich zu und schloss ihn in seine Arme: Junge, was ist passiert?, fragte er voller Mitleid. Ich verstehe das nicht. Bis zu der Stelle im langsamen Satz war alles in Ordnung. Du hast großartig gespielt, so wie ich dich kenne. Und dann der Abbruch aus heiterem Himmel. Das war vollkommen unnötig. Sicher, ihr wart etwas aus dem Takt gekommen, aber was macht das schon? Es hat wohl keiner außer mir gemerkt. Warum hast du nicht weitergespielt?

- Ich kann es nicht erklären. Plötzlich war alles weg. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Ich musste an Mutter denken und da war alles aus. Wie weggeblasen.

- Hinrich, du hast großes Talent, aber du brauchst mehr Konzerterfahrung. Du solltest an die Violinschule nach London gehen. Sie wurde von meinem Lehrer Yehudi Menuhin gegründet. Ihm lag die Förderung talentierter Künstler sehr am Herzen. Dort erhalten junge Musiker die Gelegenheit, sich in der Kunst des Vortragens zu üben und den Kontakt zum Publikum zu finden.

- Hinrich war noch immer den Tränen nah: Jetzt muss ich erst einmal den Kontakt zu mir selbst finden, sagte er und konnte seinem Lehrer kaum ins Auge blicken.

- Sein Lehrer wandte sich ab und klopfte ihm freundlich auf die Schulter: Kopf hoch! Du wirst das schon schaffen. Tauche erst einmal dein Gesicht in kaltes Wasser. So darf dich niemand sehen. Du siehst aus wie ein Jammerlappen.

Damit entfernte er sich und verließ den Raum. Natürlich war auch er von seinem Schüler enttäuscht.

Das Blaulicht vor der Tür war ausgeschaltet worden, und der Fahrer wartete auf das Zeichen zur Abfahrt. Nun warf das flackernde Licht keine irrlichternden Schatten mehr an die Decke. Mit den tanzenden Figuren schien auch die Hoffnung verschwunden. Das Licht und der Vater waren verschwunden. Würde er jemals wiederkehren? Was würde aus ihm und der Firma werden?

Der große Saal begann sich allmählich zu leeren. Einige Gäste strömten energisch hinaus, als ob sie frische Luft atmen wollten, andere zögerten, den Raum zu verlassen. Es war ihnen peinlich, so einfach ohne ein Abschiedswort zu gehen. Sie schlichen sich grußlos an dem Krankenwagen vorbei, als hätten sie ihn nicht bemerkt.

Über sein erneutes Versagen war Hinrich verzweifelt und wollte am liebsten die Stadt und das ganze Land verlassen: Möglichst weit weg! Er spielte sogar mit dem Gedanken an einen spektakulären Freitod auf den Schienen der nahe gelegenen Eisenbahn. Oder ein Sturz aus einem der oberen Fenster des Elternhauses. Auf diese Weise glaubte er, seine verlorene Ehre wiederherstellen zu können. Und außerdem würde dann sein Vater erkennen, was er an ihm gehabt hatte. Bei diesem Gedanken spielte sogar ein gewisser Rachegedanke mit. Immer hatte er hinter Julia zurückstehen müssen. Sie durfte alles, hatte alles erreicht und konnte seit ihrer Geburt bei ihrer Tante leben, die ihr jeden Wunsch erfüllte. Und auch jetzt hatte sie es besser: Sie konnte in die Karibik auf ihre Plantage zurückkehren, wo sie von ihrem Freund erwartet wurde und niemand über den missglückten Abend Bescheid wusste.

Er hatte niemanden, der sich um ihn kümmerte. Er blieb allein zurück. Und was aus seinem Vater werden würde, das wusste niemand. Das Schlimmste wäre, wenn der Vater nicht zurückkäme. Dann würde die gesamte Verantwortung für die Firma auf seinen Schultern ruhen. Er fühlte sich der Aufgabe nicht gewachsen. Sie schien für ihn zu groß zu sein. Am besten wäre es, wenn der Vater die Firma verkaufen würde, aber sie gehörte ihm nicht alleine. Er bräuchte die Zustimmung der anderen Gesellschafter, die er wohl nicht bekommen würde.

Hinrich hatte inzwischen einen klaren Kopf bekommen und begann zu rechnen: Sein Vater besaß knapp die Hälfte der Firmenanteile. Seine Tante besaß etwas über einem Drittel, und er und seine Schwester hatten zusammen ein Sechstel. Gemeinsam hätten sie die Kapitalmehrheit. Sie könnten ihn überstimmen, wenn sie sich einig wären. Aber Julia würde nicht verkaufen wollen, denn sie brauchte die Firma im Hintergrund, und wer würde eine Firma mit Verlusten kaufen? Jedenfalls würde er nicht so viel bekommen, dass er künftig davon leben könnte. Nein, das wäre keine Lösung des Problems.

Er nahm sich einen Sessel, rückte ihn ans Fenster und blickte gedankenverloren hinaus: Die Gewitterwolken hatten sich zusammengezogen und schütteten den Regen in Kübeln auf die Landschaft. Nach dem Regen zeigten sich erste Silberstreifen am Horizont. Gab es noch eine Rettung? Erst müsste die Firma neu geordnet werden und wieder Gewinne machen. Dann könnte man sie verkaufen, vielleicht sogar an einen Wettbewerber oder an einen Lieferanten. Warum nicht? Aber Vater würde nie zustimmen.

Man müsste einen Berater haben, der sich mit der Reorganisation von Firmen auskennt. Vielleicht könnte sogar Isabelle eine Lösung bringen? Sie kannte viele einflussreiche Leute und besaß gute Kontakte zu vermögenden Leuten im In- und Ausland. Ja, er müsste sie ansprechen. Genau das war seine schicksalhafte Bestimmung, der er sich stellen würde. Er selbst müsste die Firma retten. Diese Frau, dies raffinierte Weib im Bunde mit finsteren Mächten, könnte vielleicht die Rettung bringen. Das müsste er arrangieren. Wer sonst, wenn nicht sie? Und vielleicht könnte sie Einfluss auf seinen Vater nehmen. Sie könnte den Vater bewegen, die Firmenleitung abzugeben.

Das war seine Idee. War es die rettende Idee?

Vor der Abfahrt des Krankenwagens trafen sich die Familienmitglieder in der Vorhalle des Hauses. Isabelle hatte angeboten, ihn ins Krankenhaus zu begleiten. Das Ansinnen aber wurde von Ingrid ziemlich schroff abgelehnt, weil sie nicht mit ihm verwandt sei. Außerdem machte ihr Ingrid den Vorwurf, für das Unglück mit verantwortlich zu sein. Vor allem wollte sie nicht, dass Isabelle sich in die internen Angelegenheiten der Familie einmischte. Zu allem Überfluss sagte Ingrid, wenn Isabelle nicht gewesen wäre, dann wäre das Unglück nicht passiert.

- Den Vorwurf verstehe ich nicht, gab Isabelle ziemlich heftig zurück: Sie sollten mir dankbar sein. Sie jedenfalls haben sich nicht um ihn bemüht, als er hilflos am Boden lag. Was habe ich mit seinem Anfall zu tun? Ihr Bruder ist während des Konzerts ohnmächtig geworden, und ich habe mich um ihn gekümmert. Das ist alles.

- Nein, das ist nicht alles, entgegnete Ingrid mit kaum unterdrückter Aggressivität. Ich habe Sie beobachtet und ich weiß mehr über Sie, als Sie ahnen. Seit einiger Zeit haben Sie sich systematisch an meinen Bruder herangemacht, suchten seine Nähe und Ihren persönlichen Vorteil. Sie haben ihm ganz ungeniert vor allen Leuten einen Kuss gegeben, und Hinrich hat das beobachtet. Glauben Sie, ich hätte nicht gemerkt, wie Sie die Hand meines Bruders auf ihren Oberschenkel gelegt und sie gestreichelt haben?

Isabelle blickte zur Decke und zuckte mit den Schultern, als ob sie sagen wollte: Sind Sie nun endlich fertig?

- Ingrid ließ sich nicht beirren und fuhr fort: Tun Sie nicht so scheinheilig. Ihr unwürdiges Schauspiel hat Hinrich aus dem Takt gebracht. Wenn Sie nicht gewesen wären, dann wäre alles gut gelaufen. Ohne Ihre peinlichen Annäherungsversuche hätten wir einen erfolgreichen Abend erlebt. Hinrich hätte das Vertrauen seines Vaters gewonnen, wäre sein Nachfolger geworden, aber jetzt ist alles verloren. Und Sie tragen daran maßgeblich die Schuld.

- Feindselig sah Isabelle sie an. Ihre Augen blitzten vor Zorn: Frau Sämann, Sie machen sich die Sache zu leicht. Sie suchen einen Schuldigen für das heutige Desaster, aber die Ursachen liegen weit zurück: Ihr Bruder hat seinen Sohn nie richtig verstanden, hat nie begriffen, was er wirklich wollte. Er hat ihn von früh an zu etwas gezwungen, was er nicht wollte und auch nicht konnte. Er wollte aus ihm sein Ebenbild machen. Aber das gelang ihm nicht. Ihr Bruder fühlte sich für Hinrichs Versagen mitverantwortlich. Schließlich war Hinrich sein Sohn. Er wollte so einen Sohn, wie er es früher selbst gewesen war.

- Das müssen Sie mir nicht erzählen. Das weiß ich selber. Wollen Sie mir etwa erklären, wer Hinrich ist? Was wissen Sie schon von ihm? Sie kennen ihn überhaupt nicht.

- Vielleicht verstehe ich ihn viel besser als Sie, entgegnete Isabelle, denn Sie sehen nur sich selbst und sonst niemanden. Hinrich hat die wahre Liebe nie kennengelernt, weder von seiner Mutter noch von seinem Vater, und wahrscheinlich auch von Ihnen nicht. Aber das können wir ein anderes Mal besprechen, wenn Sie wollen.

Ingrid wandte sich dem Krankenwagen zu, in dem ihr Bruder mit Sauerstoff versorgt wurde. Julia war bei ihm und hielt seine Hand. Sie kämpfte mit ihren Tränen. In gewisser Weise fühlte sie sich schuldig, denn letztlich war sie es gewesen, die ihren Bruder aus dem Konzept gebracht hatte.

- Ingrid kümmerte sich nicht um den Patienten. Ihrer Ansicht nach waren genügend Helfer da. Zu Isabelle gewandt, sagte sie über die Schulter mit schneidender Stimme: Ich sehe keinen Sinn darin, mich mit Ihnen weiter zu unterhalten. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.

- Jetzt geht es in erster Linie um Ihren Bruder, antwortete Isabelle, ohne sich aus der Ruhe bringen zu lassen. Ihr Bruder braucht mich mehr, als Sie wahrhaben wollen. Und nun wollen Sie mir die Schuld für seinen Anfall zuschieben? Da sind Sie bei mir an der falschen Adresse. Suchen Sie sich einen anderen Sündenbock.

- Ingrid nahm auf dem Beifahrersitz Platz: Sie können abfahren, sagte sie mit der herrischen Bestimmtheit der Chefärztin und schlug die Tür zu. Das Fenster aber war offen geblieben.

- Sie glauben, mich abschieben zu können, und dabei brauchen Sie mich mehr als Sie wahrhaben wollen, zischte Isabelle mit mühsam unterdrücktem Zorn.. Ich weiß, dass Sie dringend Geld brauchen, aber ihr Bruder kann es ihr nicht geben, denn die Firma Sämann hat selbst kein Geld.

- Das ist eine infame Lüge, schrie Ingrid durch das geöffnete Fenster. Ihre Vermutung ist völlig aus der Luft gegriffen. Wir brauchen Sie nicht und auch kein Geld!

- Sie brauchen mich mehr, als Sie glauben und zugeben wollen, antwortete Isabelle.

Der Notarztwagen schaltete erneut das Blaulicht ein und verließ das Grundstück. Wolfgang Sämann wurde sofort in der Klinik aufgenommen und auf die Intensivstation gebracht. Seine Schwester setzte alle Hebel in Bewegung, so dass er schon nach wenigen Minuten im Operationssaal lag und fachgerecht betreut wurde. Es ging um Minuten, um Leben und Tod. Allen war klar, dass er einen Herzinfarkt erlitten hatte, aber dank des schnellen Eingriffs der Ärzte konnten schwere Gehirnschäden vermieden werden. Die Chancen standen gut, dass er den Anfall ohne bleibende Schäden überstehen würde.

Isabelle hatte dem abfahrenden Wagen noch eine Weile nachdenklich nachgeblickt, bevor sie sich umwandte. Sie suchte Hinrich und fand ihn in dem Raum seiner Niederlage, wie sie es erwartet hatte. Sie sah den jungen Mann in sich zusammengesunken am Fenster sitzen, legte ihre Hand auf seine Schulter und versuchte ihn zu beruhigen:

- Sie dürfen sich das nicht so zu Herzen nehmen, sagte sie. So etwas kommt vor, wenn man sich nicht gut fühlt. Das ist mir auch schon mal passiert. Wichtig ist, dass man gestärkt aus so einer kritischen Situation herausgeht. Wir wissen aus der Geschichte: Eine Niederlage kann die Grundlage für den nächsten glänzenden Sieg legen. Wie siegreiche Feldherren musst du es den anderen zeigen, dass du jemand bist, der kritische Situationen meistern und am Ende glorreich siegen kann.

- Hoffnungslos blickte er sie an: Ach, Frau von Stephano, wenn Sie wüssten, wie es in mir aussieht. Mir ist zum Heulen zumute.

- Ich kann es mir vorstellen, aber nun müssen wir nach vorne blicken und sehen, was zu retten ist. Noch ist nichts verloren.

- Wir sollten das Fenster schließen, es wird kühl, und wir dürfen uns nicht erkälten, denn wir werden noch gebraucht.

Sie setzten sich in das von allen Gästen verlassene Vestibül und schwiegen eine Weile gedankenverloren.

Das Handy klingelte und unterbrach die Stille. Hinrich drückte ein paar Tasten und las die Nachricht. Dann wandte er sich an Isabelle:

- Ich habe von Ingrid eine Nachricht aus dem Krankenhaus erhalten, sagte er. Mein Vater soll schon bald operiert werden. Er befindet sich in einem kritischen Zustand. Er ist nicht bei Bewusstsein. Man hat ihn in einen Tiefschlaf versetzt.

- Die Ärzte werden Ihren Vater retten, sagte sie mit großer Überzeugung. Und wenn Sie meine Hilfe brauchen, dann biete ich sie Ihnen an, bis Ihr Vater wieder die Zügel in die Hand nimmt.

- Vater hat eine starke Natur. Er wird die momentane Krise schnell überwinden, sagte er und war sich dabei nicht so sicher.

- Ich denke, vorübergehend müssten Sie die Verantwortung für die Firma übernehmen, bis Ihr Vater wieder gesund ist, sagte Isabelle.

- Er riss die Augen auf und blickte sie voller Entsetzen an: Ich soll die Verantwortung für die Firma übernehmen? Das kann ich nicht. Ich bin noch zu jung. Und Vater wird es nicht zulassen. Er hat kein Vertrauen zu mir, und nach der Pleite an diesem Abend schon gar nicht. Julia müsste das tun. Sie hat das Zeug dazu. Sie haben sie heute erlebt. Sie hat nicht vor allen Leuten versagt, so wie ich. Sie ist stark. Sie allein kann das schaffen.

- Sprechen Sie mit ihr. Vielleicht macht sie das, aber ich kann es mir nicht vorstellen, denn sie ist in Nicaragua beruflich und persönlich stark engagiert.

- Ich kann es versuchen, aber große Hoffnung habe ich nicht.

- Einer muss es tun, wenn hier nicht alles zu Bruch gehen soll. Die Firma braucht einen kompetenten Führer und zwar schnell.

- Er blickte sie voller Hoffnung und zugleich auch zweifelnd an: Würden Sie mir helfen?

- Mit großer Entschlossenheit sagte sie: Ja, das würde ich, wenn Sie das von mir wünschen. Ich verspreche, Ihnen zu helfen. Haben Sie Vertrauen zu mir.

- Er drückte ihr dankbar die Hand: Ich vertraue Ihnen.

Sie trennten sich und verließen den Raum seiner blamablen Niederlage.

Die Bediensteten begannen den Raum aufzuräumen, rückten die Stühle wieder an ihren ursprünglichen Platz. Nach kurzer Zeit sah es aus, als ob nichts geschehen sei, aber dem war nicht so. Eine vollkommen veränderte Situation, sowohl in der Firma als auch im privaten Bereich, hatte sich ergeben. Jeder suchte seinen ihm vom Schicksal bestimmten Platz. Aber wo war der zu finden?

Hinrich zog sich in sein Zimmer zurück. Alles befand sich noch an dem Platz, wo er es verlassen hatte. Die Noten lagen noch auf dem Tisch. Kaum wagte er den langsamen Satz aufzuschlagen: Andante – Langsam, ruhig. Er warf sich auf sein Bett und versuchte im Schlaf ein Vergessen zu finden. Aber er fand keine Ruhe. Was sollte er mit Isabelle machen? Sollte er sie wirklich um Hilfe bitten? Was würde sein Vater dazu sagen?

Voller Angst quälte er sich mit unheilvollen Gedanken. Endlich fiel er erschöpft in einen tiefen Schlaf. Im Traum erschien ihm die rote Frau, wie sie in Flammen gehüllt aus der Tiefe der Erde stieg. Sie schien ihm der leibhafte Teufel zu sein. Doch dann verwandelte sie sich in einen rettenden Engel, der vom Himmel kam.

Voller Schrecken wachte er auf. Verwirrt blickte er im Zimmer umher. Die Schreckgespenster waren verschwunden. War alles nur ein böser Traum gewesen? Nein, ein Traum war es nicht. Dort lagen die Noten, seine Geige, sein Anzug. Es war alles real.

Erneut griff er zu den Tabletten, die ihm Julia gegeben hatte. Sie würden ihn Ruhe finden lassen. Aber die innere Ruhe drang nicht in sein aufgewühltes Bewusstsein. Er fühlte sich von allen guten Geistern verlassen und vereinsamt.

Woher und von wem hätte Hilfe kommen sollen? Was hatte Julia gesagt? Hatte sie nicht gesagt, dass ihm Isabelle helfen würde oder Konselmann? Er könnte es versuchen. Er müsste mit beiden reden. Allein würde er es nicht schaffen, das war ihm schmerzlich klar.

Das Doppelkonzert

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